Zeitschrift

Die Türkei vor den Toren Europas

 

 

Vorwort



Inhaltsverzeichnis


Nicht nur geografisch liegt die Türkei vor den Toren Europas. Sie ist seit dem Begründer der modernen Türkei, Kemal Atatürk, auch politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich nach Europa hin orientiert. Seit langem schon begehrt die Türkei Eintritt in die Europäische Union, seit Dezember 1999 ist das Land offiziell Beitrittskandidat. Auch in dieser Beziehung steht die Türkei also vor den Toren Europas.

Sicherheitspolitisch-strategisch war die Türkei immer schon eine Säule der NATO und damit auch Bestandteil des Westens. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hat sich die Position der Türkei in der internationalen Politik erheblich verbessert, ihre Handlungsmöglichkeiten reichen inzwischen in den Bereich der ehemaligen Sowjetunion hinein, in den Kaukasus und nach Zentralasien. Für den internationalen Erdöl- und Erdgastransport stellt die Türkei einen wichtigen Transportweg für den Westen dar. Die Sicherheitspartnerschaft mit Israel lässt die Türkei zu einem wichtigen Machtfaktor im Nahen und Mittleren Osten werden. All das sind Gründe genug, die Türkei fest an Europa zu binden.

Wirtschaftlich ist die Türkei längst dabei, den Anschluss an die Europäische Union zu finden, aufgrund ihres mittlerweile erreichten beträchtlichen Leistungsstandards und mit Hilfe des Assoziierungsabkommens mit der EU von 1964.

Die Schwierigkeiten liegen auf politischer Ebene. Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft westlicher Demokratien auf einer gemeinsamen Wertebasis. Kemal Atatürk hat mit seiner konsequenten und rigorosen Modernisierungspolitik der Türkei den Weg in Richtung moderner, demokratisch verfasster Industriestaaten gewiesen. Verglichen mit anderen Staaten der Region weist die Türkei längst ein hohes Maß an Modernität und Demokratie auf. Dass sich eine Modernisierung und Demokratisierung, von oben iniziiert, flächendeckend über wenige Jahrzehnte erreichen ließe, wäre sehr viel verlangt. Dass dieser Prozess immer wieder ins Stocken gerät und gelegentlich auch zurückläuft, kann somit nicht verwundern. Es kommt viel mehr darauf an, Fortschritte zu fördern, gerade auch in Richtung von Demokratie und Menschenrechten. Hier ist die Politik der EU und die der EU-Länder gefordert.

Beeinträchtigt ist der Annäherungsprozess gegenwärtig vor allem durch das Kurden-Problem und die Menschenrechtsfrage. Gerade das Militär, von Kemal Atatürk als Garant der Modernisierung auserkoren, hat sich in der Kurdenfrage als Hüter der Einheitlichkeit des Staates profiliert, und zwar im Sinne eines Nationalstaatsverständnisses, das Besonderheiten und regionale Autonomien nicht kennt. Zugleich aber hat das Militär damit Menschenrechtsverletzungen bewußt in Kauf genommen. Die Europäische Union fordert deshalb zu Recht, dass die Türkei vor ihrem Beitritt zur EU in der Menschenrechtspolitik und in der Kurdenfrage Lösungen findet, die europäischen Standards entsprechen.

Zwischen Deutschland und der Türkei bestehen traditionell freundschaftliche Verbindungen. In Deutschland lebt zudem eine beträchtliche türkische Minderheit, die als Gastarbeiter deutliche Schwierigkeiten mit ihrer Integration haben, zumal sie - naturgemäß - aus Gegenden der Türkei stammen, die von der Modernisierung am wenigsten berührt sind. All das sind allein schon Gründe genug für uns, sich intensiver mit den Gegebenheiten in der Türkei zu beschäftigen, mit dem Land als solchem und seinen wirtschafts- und sozialgeografischen Besonderheiten, mit seiner jüngsten Geschichte, mit seinen sozio-ökonomischen Wandlungsprozessen, mit dem politischen System und den politischen Gegebenheiten, seiner Position in der internationalen Politik. Drängender noch wird die Beschäftigung mit der Türkei für uns, weil sie kein fernes Land ist, sondern weil sie - in mehrfacher Beziehung - vor den Toren Europas liegt und vor den Toren Europas steht.

Hans-Georg Wehling


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