Zeitschrift

Sicherheit und Kriminalität


 

Heft 1/ 2003

Hrsg: LpB

 



 

Inhaltsverzeichnis

  Selektive Wahrnehmung führt zum Mythos männlicher Gewalt
 

Häusliche Gewalt - ein Problemaufriss aus kriminologischer Sicht

 

  Von Michael Bock       

Prof. Dr. Dr. Michael Bock promovierte in Soziologie (1978) und Kriminologie (1983). 1985 erfolgte die Habilitation für Soziologie in Tübingen. Seit 1985 ist Michael Bock Professor für Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug und Strafrecht an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz.  

 

Obwohl Gewalt im demokratischen Rechtsstaat einer konsequenten Ächtung unterliegt, gab und gibt es Ausnahmen. Gerade die Familie blieb lange Zeit ein Ort, an dem gewalttätige Verhaltensweisen verbreitet waren und immer noch an der Tagesordnung sind. Das so genannte Gewaltschutzgesetz vom 1. Januar 2002 ist eine wichtige Station, den strafrechtlichen Schutz in die Privatsphäre hinein zu verlängern. Die Erscheinungsformen der häuslichen Gewalt werden allerdings (immer noch) selektiv wahrgenommen und unterliegen einer geschlechtsspezifischen Betrachtungsweise. Männer als Täter, Frauen und Kinder als Opfer sind allgegenwärtige Rollenklischees, die weit verbreitet sind. Dunkelfeldstudien hingegen zeigen, dass Frauen und Männer in annähernd gleichem Umfang Täter und Opfer häuslicher Gewalt sind. Trotz dieser Erkenntnisse wird an dem Mythos, dass häusliche Gewalt ausschließlich männliche Gewalt sei, festgehalten. Dies führt letztlich zu Lücken und kontraproduktiven Effekten bei Präventionsstrategien. Mehr noch: Angesichts der offensichtlichen Selektivität, mit der häusliche Gewalt gesehen wird, entwickeln sich gleichsam eigendynamisch Immunisierungsprozesse.

Red.

 

Gewalt ist kulturell vermittelt

Im Gegensatz zu den Tieren, bei denen Aggressivität instinktiv ausgelöst wird und in festen Verhaltensabläufen erscheint, hat der Mensch grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten des Umgangs mit seinem Aggressionspotenzial. Er kann es für später aufsparen, in der Fantasie erproben, Pläne damit machen, die Konsequenzen fürchten. Er kann es gegen andere, aber auch in Form von Neurosen und psychosomatischen Krankheiten gegen sich selbst wenden. Verbale Gewalt, psychische Gewalt, strukturelle Gewalt, Gewalt gegen Sachen - all dies sind Formulierungsversuche, um zum Ausdruck zu bringen, dass die unmittelbare körperliche Gewalt gegen eine andere Person zwar wohl die Ur-Form der Gewalt schlechthin ist, dass es aber auch andere Konstellationen gibt, bei denen sich Menschen als Opfer fühlen, die Ursache als "Gewalt" bezeichnen und dies auch sozial verbindlich machen können. So ist es auch bei der häuslichen Gewalt.

Sieht man Aggressivität und daher das Potenzial zur Gewalt als unablösbaren Bestandteil der menschlichen Natur an, dann erscheint nicht das Auftreten von Gewalt als erklärungsbedürftig, da sie das Normale und Erwartbare ist. Erklärungsbedürftig ist vielmehr der Umstand, dass die meisten Menschen zu den meisten Zeiten Gewalt unterlassen oder doch nur in den oben genannten "Verdünnungen" der Gewalt ihr Potenzial ausagieren. 

So argumentieren bekanntlich die psychoanalytischen Schulen1. Der Mensch kann dadurch zu sozialverträglichem Verhalten zivilisiert werden, dass dem ES als dem ursprünglichen Sitz der Antriebe und Bedürfnisse ein ÜBER-ICH entgegengebaut wird, das die destruktiven Energien moralisch zensiert, und dass ein starkes ICH entsteht, das einen vernünftigen Ausgleich zwischen Lust und Moral herstellt. So können die destruktiven Potenziale umgeleitet werden in Arbeit, in wissenschaftliche, künstlerische oder humanitäre Leistungen, sogar in Fürsorglichkeit und Liebe, aber immer bleiben sie "latent" vorhanden und können sich in kleinen oder großen biografischen oder sozialen Krisen wieder Geltung verschaffen. Die große Blutspur, die durch Kriege und Unterdrückungs- bzw. Vernichtungsaktionen gegen ganze Völker und Klassen in die Weltgeschichte gemalt ist und an der regelmäßig ansonsten harmlose, biedere, liebenswerte Frauen und Männer beteiligt waren, zeigen, wie dünn der Firnis ist, den Kultur und Zivilisation über das Destruktionspotenzial des Menschen gepinselt haben.

 

Gewalttätiges Verhalten wird in der Familie gelernt

Dass wir alle das Potenzial zur Gewalt in uns tragen, kann demnach keinem Zweifel unterliegen und es sei gleich hier gesagt, dass damit ein erster Standard für alle realistischen Überlegungen gesetzt ist, womit man auch bei häuslicher Gewalt rechnen muss. Wie sich das zweifellos vorhandene Potenzial aktualisiert, in welchen Formen der Gewalt, in welchen Sublimierungen und Verkleidungen es auftritt, das hängt von kulturellen Vorgegebenheiten ab, von Rollenverständnissen, von legitimatorischen Möglichkeiten in Religionen, Ideologien und Weltanschauungen, von den konkreten Arrangements einer Partnerschaft, von den biografischen Eigenheiten der Partner und ihrer wechselseitigen Bezogenheit. Nach den kriminologischen Lerntheorien werden in verschiedenen sozialen Kontexten, etwa in Familie, Schule oder Peergroup, die jeweils gängigen Verhaltensweisen und die zu ihrer Rechtfertigung tauglichen Wissensbestände gelernt, während andere gelöscht, abgewöhnt werden. Ein amorphes, ungerichtetes Aggressivitätspotenzial wird so in kulturell vorgegebene Verhaltensmuster eingespeist und gewinnt Gestalt, Kontinuität und Resistenz. Bekannt ist seit langer Zeit, dass gerade die Muster gewalttätigen Verhaltens in großem Maß in der Familie gelernt und eingeübt werden und dass sie dann von Generation zu Generation weitergegeben werden wie eine heiße Kartoffel. Dies gilt wieder für die gesamte Bandbreite dieser Muster, von der unmittelbaren physischen Gewalt über die anderen, verdünnten oder sublimierten Formen bis zu selbstzerstörerischen Formen von Neurosen, psychosomatischen Erkrankungen und schließlich Suizid. So erklären sich im Ergebnis unterschiedliche "Mentalitäten" von Völkern ganz ähnlich wie die "Stile" von Familien. Muster von Gewalt werden gelernt, eingeübt, habitualisiert, ritualisiert. Die Phänomene, die seit einiger Zeit unter dem Begriff der häuslichen Gewalt diskutiert werden, sind insoweit gar nichts Besonderes.

 

Häusliche Gewalt in der Geschichte der Ächtung von Gewalt 

Grundsätzlich finden wir in der abendländischen Geschichte eine zunehmende Ächtung von Gewalt, die letztlich auf christliche Vorstellungen zurückgeht. Das Völkerrecht und der demokratische Verfassungsstaat sind darauf ausgerichtet, Gewalt zwischen Staaten und den Bürgerkrieg zu verhindern oder zu begrenzen. Gewalt soll durch Recht gebändigt, soll verrechtlicht werden.2 Dieser langwierige Prozess ging einher mit einer ständigen Erhöhung der Begründungsanforderungen für die verbleibenden Formen der noch legitimen Gewalt von Militär und Polizei als "ultima ratio" oder "kleineres Übel" mit klar zu definierenden Anlässen, Modalitäten und Grenzen. Bei insgesamt eindeutiger Tendenz gab es freilich Ungleichzeitigkeiten und Ausnahmen. Gerade die Familie blieb noch lange ein Ort, an dem unter dem Schutz informeller Überzeugungen und formeller Züchtigungsrechte Verhaltensweisen verbreitet blieben, die aus heutiger Sicht als Gewalt gelten. Ähnliches gilt für Schulen, Kasernen und Gefängnisse, so genannten "besonderen Gewaltverhältnissen", in denen körperliche Züchtigungen noch lange an der Tagesordnung waren, als das öffentliche Leben in Politik, Wirtschaft und geselligem Verkehr der Bürger und Bürgerinnen längst "gewaltfrei" zu sein bzw. derjenige, der sich anders verhielt, mit Sanktionen zu rechnen hatte. Im Begriff der häuslichen Gewalt steckt also ein politischer Appell zur Veränderung: Verhaltensweisen, die an anderen Orten schon längst als Gewalt angesehen, verfolgt und bestraft wurden, sollten nun auch dann als Gewalt gelten - mit denselben Konsequenzen für den "Täter" oder "Störer" - wenn sie in der Familie, im Haus, in der Wohnung, im sozialen Nahraum vorkamen. 

Gleichzeitig verloren die rechtfertigenden kulturellen Bestände ihre Plausibilität, mit denen die bisherigen Zustände legitimiert worden waren: so etwa pädagogische oder lebensweltliche "Theorien" über die segensreichen oder wenigstens unschädlichen Wirkungen von Prügeln in der Erziehung ("Wer sein Kind liebt …"); so etwa sexistische Vorstellungen darüber, dass Frauen "so etwas" angeblich von Zeit zu Zeit und in Maßen brauchen oder sogar wollen; so etwa insbesondere die Auffassung, es gehe niemanden etwas an, was in den eigenen vier Wänden passiert. Als Folge hiervon wurde beispielsweise das Züchtigungsrecht von Lehrern abgeschafft und die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt. Das so genannte Gewaltschutzgesetz, das am 1. Januar 2002 in Kraft getreten ist und verschiedene Änderungen in den Polizeigesetzen der Länder, insbesondere die Voraussetzungen und Dauer von Platzverweisen ("Rote Karte") betreffend, waren und sind weitere wichtige Stationen auf dem Weg, den strafrechtlichen, polizeirechtlichen und zivilrechtlichen Schutz vor - nunmehr auch als solcher deklarierter - Gewalt in die Privatsphäre hinein zu verlängern bzw. zu verlagern.3 Die Gesetzesänderungen wurden dabei teils angestoßen, teils flankiert und politisch unterstützt von einer tief greifenden Änderung der öffentlichen Meinung, die sich vor allem auch in einer Änderung der praktischen Anwendung rechtlicher Regelungen des Schutzes vor Gewalt niederschlug. Die Maßstäbe der Einschätzung einer drohenden "Gefahr" etwa, durch welche die informellen Eingriffs-, Handlungs- und Ermittlungsroutinen der Polizei gesteuert werden, ebenso die Maßstäbe, nach denen die Staatsanwaltschaft "öffentliches Interesse" bejaht oder verneint und entsprechend Verfahren einstellt oder Anklage erhebt, aber auch die Auslegung von Begriffen wie "Kindeswohl" gerieten in den Sog einer völligen Umdeutung und Uminterpretation, durch welche die gesamte Rechtspraxis sich grundlegend änderte. Dasselbe gilt für die Arbeit in einem inzwischen flächendeckenden Netz von Hilfseinrichtungen, Beratungsstellen und Spezialabteilungen, in welchem nicht nur Juristen, sondern auch Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter für die Problematik der häuslichen Gewalt geschult und sensibilisiert sind. Die Zeiten, in denen man bagatellisierend und abwiegelnd meinte, hier gehe es um den sprichwörtlichen "Streit in den besten Familien", dieser sei jedoch Privatsache und ginge deshalb die Öffentlichkeit und die Strafverfolgungsorgane nichts an, sind vorbei.4

 

Erscheinungsformen häuslicher Gewalt

Aus der Entstehungsgeschichte der Ächtung häuslicher Gewalt folgt, dass die Erscheinungsformen der häuslichen Gewalt nicht neu sind, sondern nur in einem anderen Licht gesehen werden. Hierbei ist zu beachten, dass nicht nur Verhaltensweisen, die bisher als gar nicht oder wenigstens nicht als öffentlich relevant galten, in den Fokus der gesellschaftlichen und kriminalpolitischen Aufmerksamkeit geraten sind, sondern dass mit häuslicher Gewalt auch Verhaltensweisen neu eingeordnet und bewertet werden, die unter anderen Bezeichnungen auch bisher schon in der kriminologischen Literatur und bei den Strafverfolgungsorganen eine gewisse Bedeutung hatten. So hatte insbesondere die ältere Viktimologie festgestellt, dass bei Tötungsdelikten und Sexualdelikten oft eine besondere Nähe zwischen Opfer und Täter besteht bzw. dass die Fälle anders aussahen, wenn eine Nähebeziehung vorlag als wenn es sich um austauschbare Opfer handelte, die den Täter bis zur Tat nicht oder nur flüchtig kannten.5 Auch versteht es sich mehr oder weniger von selbst, dass die Kindesmisshandlung und der sexuelle Missbrauch von Kindern sowie gewalttätige Übergriffe gegen Senioren im Bereich der häuslichen Pflege einen klaren Bezug zur häuslichen Gewalt haben (oder jedenfalls haben müssten). Dabei hatte man schon immer wahrgenommen, dass die besondere Nähe zwischen Opfer und Täter sowohl eine besondere Verwerflichkeit begründen kann (Ausnutzen der Nähe) als auch rechtfertigend oder entschuldigend wirken kann (Beenden eines Martyriums). 

Das Opfer wird eventuell deswegen zum Täter und der vormalige Täter zum Opfer, weil es teils emotional oder materiell abhängig ist, teils auch selbst durchaus ambivalente Gefühle hegt, dem Täter deshalb nicht schaden, ihn nicht verlieren, die Familie schützen und erhalten will und deshalb schweigt bzw. nicht anzeigt. All dies kann natürlich leichter geschehen, wachsen, eskalieren und andauern, weil die soziale Kontrolle herabgesetzt ist. 

Indem diese längst bekannten Fakten in die gesellschaftliche und kriminalpolitische "Bewegung" zur Ächtung häuslicher Gewalt einbezogen wurden, erfuhren gerade diese Merkmale eine noch einmal deutlich gesteigerte Aufmerksamkeit. "Häuslich" ist das konstituierende Merkmal einer Vielzahl ansonsten sehr heterogener Ausdrucksweisen und Erscheinungsformen von Gewalt und bringt gerade diesen "Mehrwert" an Verwerflichkeit und entsprechend dringlichem Interventionsbedarf zum Ausdruck. Aus diesem Grund wurden und werden in die häusliche Gewalt auch zunehmend die nicht-körperlichen Erscheinungsformen einbezogen, also die verbale Gewalt und die psychische Gewalt (Beleidigungen, Demütigungen, dumpfe Bedrohungsszenarien), wobei sich mit dem Begriff der "strukturellen Gewalt" die Ursachen und Folgen der "Gewalt" vom Erleben und der subjektiven Erfahrung des potenziellen Opfers abkoppeln und sich nur noch über theoretische (z. B. marxistische oder feministische) Konstrukte feststellen lässt, wer Opfer ist. Die Tendenz geht eindeutig in Richtung auf eine Ausweitung der Phänomene häuslicher Gewalt und eine Vorverlagerung von Gefahren und Risiken, die eventuell ihr Auftreten oder Andauern begünstigen könnten.

 

Kindesmisshandlungen sind nur eine Erscheinungsform häuslicher Gewalt. Dieses 1985 von der britischen Gesellschaft zur Verhinderung von Gewalt an Kindern veröffentlichte Bild zeigt den Rücken eines Babys, dessen Po mit Brandwunden von Zigaretten übersät ist. 

Foto: dpa 

 

Die Erscheinungsformen erfahren eine geschlechtsspezifische Selektion

Die Erscheinungsformen häuslicher Gewalt, jedenfalls so, wie sie wahrgenommen, diskutiert und kriminalpolitisch angegangen werden, erfahren allerdings eine geschlechtsspezifische Selektion. Männer als Täter, Frauen und Kinder als Opfer - das war die Rollenverteilung, mit der die Enttabuisierung der Sphäre des sozialen Nahraums betrieben wurde. Das lag insofern nahe, als sich dabei zunächst Aktivistinnen der Frauenbewegung hervortaten, von denen man nichts anderes erwarten konnte als einen geschlechtsspezifischen Blick. Hinzu kamen aber auch die traditionellen Rollenbilder unserer Kultur. Die Verbindung von Weiblichkeit und Gewalt widerspricht elementaren Merkmalen der tradierten Geschlechtsrollen. 

In dieser und nur in dieser Variante hat das Thema "häusliche Gewalt" jene gewaltige Mobilisierung der öffentlichen Meinung hervorgerufen, der sich dann die Politik aller Parteien und Lager nicht mehr verschließen konnte. Als die Frauenpolitik bald die Bundes- und Landesministerien, die Dezernate der Kommunen sowie die Verbände und Kirchen erobert hatte, und als sich daneben eine reiche Infrastruktur frauenpolitischer Netzwerke und Hilfseinrichtungen etabliert hatte, gab es erst recht keinen Grund mehr, an der geschlechtsspezifischen Einfärbung des Themas häusliche Gewalt als Männergewalt irgendetwas zu ändern. Die Praktiker und die Öffentlichkeit werden weiter mit diesem einseitig geschlechtsspezifisch gefärbten Bild "aufgeklärt". Die neuen polizeilichen Dienstanweisungen und die teils amtlichen, teils von Verbänden und privaten Initiativen verteilten Flyer und Broschüren sprechen eine eindeutige Sprache. Jeder Bürger findet sie in seinem Briefkasten. Tagungen von Fortbildungseinrichtungen und Akademien, Vorträge in Kirchen und Fußballvereinen, die Frauen-AGs der kommunalen Präventionsräte und ihre Öffentlichkeitsarbeit - alle tragen in insgesamt beispielloser Dichte dazu bei, das Bild zu verbreiten, häusliche Gewalt sei männliche Gewalt. 

Dass häusliche Gewalt männliche Gewalt sei, ist ein tief in den Gefühlen und im Weltbild der Menschen verankerter Mythos, der von starken Tabus geschützt wird. Deshalb gibt es auch einen partei-, altersgruppen- und geschlechtsübergreifenden Konsens in dieser Frage. Dass dieser Mythos einer erfahrungswissenschaftlichen Überprüfung nicht standhält, wird gleich zu zeigen sein. Jedenfalls finden wir, was die Erscheinungsformen häuslicher Gewalt betrifft, einerseits eine maximale Ausweitung und Vorverlagerung, was Verhaltensweisen (und gegebenenfalls "Strukturen") betrifft, die als "Gewalt" angesehen werden und eine geschlechtsspezifische Verengung und Beschränkung von Täter- und Opfergruppen andererseits.

 


Der Mythos, dass Frauen und Mädchen nur Opfer sind, hält einer erfahrungswissenschaftlichen
Überprüfung nicht stand. Tatsächlich sind Frauen und Männer in annähernd gleichem Umfang Täter und Opfer häuslicher Gewalt. 

Foto: dpa 

 

Häusliche Gewalt ist zwischen den Geschlechtern ungefähr gleich verteilt

Tatsächlich sind Frauen und Männer in annähernd gleichem Umfang Täter und Opfer häuslicher Gewalt. Dies zeigen Dunkelfeldstudien, die inzwischen in großer Zahl vorliegen und in sekundäranalytischen Arbeiten6 methodisch hinterfragt, kritisch gewürdigt und bezüglich der Haupttendenz der Ergebnisse zusammengefasst worden sind. Danach7 legen Frauen und Männer nahezu gleich häufig aggressives Verhalten an den Tag, Frauen sogar etwas mehr. Messmethoden, Art und Größe der Stichproben sowie einige sonstige Unterschiede der in die Analyse einbezogenen insgesamt 82 Untersuchungen bewirkten nur vergleichsweise geringe Abweichungen von diesem Gesamtbefund. 8 Bei den wahrgenommenen Verletzungen ergab sich ein Übergewicht für die Frauen von 62% zu 38%.9 In vielen Fällen wurde das aggressive Verhalten von beiden Partnern wechselseitig ausgeübt und die Initiative hierzu ging gleich häufig von Frauen und Männern aus.10 

Diese Befunde kontrastieren auffällig mit einer Reihe von anderen Untersuchungen, die als "klinische" Studien oder als "Kriminalitätsstudien" bezeichnet werden können. In diesen Studien werden - wie auch in den amtlichen Kriminalstatistiken - bei insgesamt erheblich geringeren Fallzahlen regelmäßig deutlich höhere Quoten für Männer als Täter und Frauen als Opfer häuslicher Gewalt berichtet. 11

Der Grund für die unterschiedlichen Befunde liegt darin, dass es sich bei den zuletzt genannten Studien um Arbeiten mit ausgelesenen Fällen handelt, und zwar mit den Fällen, in denen tatsächliche oder angebliche Gewalterfahrungen öffentlich gemacht wurden: bei Strafverfolgungsbehörden, bei Ärzten oder Krankenhäusern, in sozialen und karitativen Einrichtungen. 

Die Dunkelfeldstudien sind hingegen repräsentative oder epidemiologische Studien, gelegentlich auch Kohortenuntersuchungen, jedenfalls Studien, in denen häusliche Gewalt unabhängig davon gemessen wird, ob sie öffentlich gemacht wird oder nicht. Diese Studien enthalten also unausgelesene Daten. Will man sich über das gesamte Ausmaß und die geschlechtsspezifische Verteilung häuslicher Gewalt ein realistisches Bild machen, muss man natürlich auf unausgelesene Daten zurückgreifen. Will man nur sehen, welcher Ausschnitt öffentlich "bearbeitet" wird, also das Hellfeld, genügen die ausgelesenen Daten.

 

Der Weg vom Dunkelfeld ins Hellfeld

Diese Differenzen erklären sich vor allem dadurch, dass wir auf dem Weg vom Dunkelfeld ins Hellfeld zwar aus beiden Geschlechtern die meisten Opfer verlieren. Auch bei Frauen ist das Dunkelfeld groß. Aber wir verlieren noch mehr Männer als Frauen, denn die äußeren und inneren Hürden auf diesem Weg sind geschlechtsspezifisch unterschiedlich hoch. 

Abbildung 1: Vom Dunkelfeld zum Hellfeld 

Für Männer ist schon das bewusste Eingeständnis vor sich selbst, Opfer von Gewalt einer Frau (geworden) zu sein, mit ihrer Geschlechtsrollenidentität kaum vereinbar. Verdrängen und Verschweigen hingegen scheinen weiterhin den achtbaren "Mann" zu verbürgen. Für Frauen ist die Opferrolle zwar auch zunächst keineswegs attraktiv, denn meist geht sie mit dem Eingeständnis einher, in der Partnerschaft aus welchen Gründen auch immer gescheitert zu sein. Wenn sie sich dies aber eingestehen, gibt es mit der Geschlechtsrollenidentität jedenfalls kein grundsätzliches Problem. Überwinden Frauen ihre Scham und ihre Angst und machen ihre Opfererfahrungen im privaten Umfeld, bei Hilfseinrichtungen oder bei den Strafverfolgungsbehörden öffentlich, können sich neue Lebensperspektiven auftun, während das "outing" für Männer eine kommunikative, soziale und rechtliche Katastrophe ist. Man glaubt ihnen nicht und sie werden ausgelacht. Hilfseinrichtungen gibt es nicht. Die wenigen Selbsthilfegruppen und Therapeuten sind nicht in den einschlägigen Listen. Bei Polizei und Gerichten erregen sie erst einmal den Verdacht, selbst provoziert, selbst Gründe geliefert, selbst tyrannisiert zu haben. 

In der Kriminologie waren es vor allem die Etikettierungsansätze und die Instanzenforschung, die sich der Frage widmeten, ob sich nicht die eigentlichen Ursachen für Diskriminierung und selektive Sanktionierung gar nicht in der Formulierung der Gesetze als solcher (dem "first code") finden, sondern in den Anwendungsregeln, jenem "second code", der jenseits der Paragrafen der Gesetze darüber entscheidet, wie die Begriffe ausgelegt, wie Tatsachen interpretiert, wie die Beweislage beurteilt, wie Ermessensspielräume genutzt werden. Während die entsprechenden Schulen der Kriminologie jedoch vor allem an Unterschichtsangehörige, Ausländer oder sonst wie sozial benachteiligte Gruppen dachten und insofern dem alten Verdacht der Klassenjustiz anhingen, hat die geschlechtsspezifische Einfärbung des "second code" in diesen Diskussionen nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Gerade bei der häuslichen Gewalt ist diese jedoch offensichtlich. So sind etwa die polizeilichen Zentralbegriffe wie Gefahr, Verdacht oder Störer fest mit der Vorstellung verknüpft, dass "so etwas" nur Männer tun. Das färbt den Blick, erleichtert den Begründungsaufwand, entspricht auch den praktischen Routinen. Mit Männern als Tätern ist der schwere Alltag leichter zu bewältigen. Insgesamt wäre es wünschenswert, dass die Kriminologie nicht nur die krassen Unterschiede in der geschlechtsspezifischen Verteilung zwischen Hellfeld und Dunkelfeld12 zur Kenntnis nimmt, sondern überhaupt ihre Zurückhaltung aufgibt und auch bei der häuslichen Gewalt die Befunde des Hellfelds in ähnlich differenzierter Weise empirisch hinterfragt, wie das in allen anderen Kriminalitätsbereichen geradezu reflexartig geschieht. 13 

In kriminologischer Terminologie lässt sich sagen, dass männliche Opfer die verschiedenen Spielarten der sekundären Viktimisierung antizipieren. Sie fürchten zusätzliche, weitere Verletzungen und Demütigungen, letztlich den Verlust einer achtbaren männlichen Identität vor sich selbst und ihren Bezugspersonen. Für Frauen hingegen gibt es eine sozial anerkannte Opferrolle. Sie wählen häufiger den Weg in die Öffentlichkeit, zu den Expertinnen und zu den Gerichten, weil sie dadurch ihre materielle, psychische, soziale und rechtliche Lage verbessern können.

 

Der Streit um die Methoden

Die Befunde der Dunkelfeldforschung sind einerseits so eindeutig, andererseits aber auch so bedrohlich für die Legitimation der einseitig geschlechtsspezifisch ausgerichteten Gewaltschutzpolitik, dass mit einer gewissen Notwendigkeit Streit über die Methoden ausbrechen musste. Den Befunden der Dunkelfeldforschung musste der Stachel gezogen werden. Und in der Tat sind gegen die Dunkelfeldstudien massive Bedenken vorgebracht worden. Die Kritik richtete sich dabei insbesondere auf das Messinstrument, mit dem in den meisten dieser Studien operiert wurde, die so genannte Conflict Tactics Scale (CTS). Diese Skala enthält Verhaltensweisen, die im Falle von Konflikten eingesetzt werden und nach deren Vorkommen bei den Dunkelfelduntersuchungen gefragt wird. 

Gegen dieses Messinstrument wurde zunächst vorgebracht, Frauen würden diese Verhaltensweisen nur zu ihrer Verteidigung einsetzen und dies berücksichtige die Conflict Tactics Scale (CTS) ebenso wenig wie das Ausmaß der hervorgerufenen Verletzungen. Diese Kritikpunkte sind widerlegt, weil sie in den neueren Untersuchungen bereits berücksichtigt sind. Allenfalls mag es jenseits des oberen Endes der Skala relativ seltene Fälle einer chronischen, schweren Misshandlung geben, über deren geschlechtsspezifische Verteilung wir jedoch wenig wissen. Keinesfalls dürfen hier auf der Seite der weiblichen Opfer die Belegungszahlen von Frauenhäusern eingesetzt werden, denn für Männer gibt es bekanntlich keine vergleichbaren Einrichtungen und außerdem muss die Skala der Conflict Tactics Scale (CTS) nicht einmal ausgeschöpft, geschweige denn überschritten sein, um in ein Frauenhaus aufgenommen zu werden. 

Es gibt jedoch noch eine andere und viel tiefere Ebene der Kritik. Die Befunde der Dunkelfeldforschung werden dabei gar nicht mehr bestritten, doch fühlt man sich dadurch in seiner geschlechtsspezifischen Sichtweise gar nicht tangiert. Diese Befunde seien insofern völlig irrelevant, als die Conflict Tactics Scale (CTS) nur aggressive Akte messe, nicht aber Gewalt. Erst die subjektive Interpretation und Zuschreibung aggressiver Akte als Gewalt mache aus rein physikalischen und insoweit trivialen Vorkommnissen Gewalt. Diese Interpretation würden freilich nur Frauen ihren Opfererfahrungen geben, weshalb eigentlich nur sie taugliche Gewaltopfer seien.14 

Zwar ist es sozialwissenschaftlich durchaus richtig, zwischen den Dingen und dem, was die Dinge für jemand bedeuten, zu unterschieden. Es kommt auf den "subjektiven Sinn" an, auf die "Bedeutung", die wir Handlungen, anderen Menschen, aber auch alltäglichen Dingen oder Kunstwerken und so auch aggressiven Akten zuschreiben. Allerdings ist sehr schnell zu sehen, dass sich diese differenzierte Methodologie gerade nicht eignet, die mit der Conflict Tactics Scale gefundenen Befunde zu bagatellisieren. Denn der Umstand, dass Männer ihre Erlebnisse bisher nicht in den erwünschten Worten ausgedrückt haben, heißt nicht, dass sie diese Vorfälle überhaupt nicht interpretieren und schon gar nicht, dass sie diese Vorfälle nicht als massive Verletzungen ihrer körperlichen und seelischen Integrität fühlen.

Die Conflict Tactics Scale (CTS) fragt zweifellos nach Verhalten und nicht nach der Bedeutung der erlittenen aggressiven Akte für die Betroffenen. Das mag zu Unschärfen führen. Häufige Schläge können als weniger schlimm empfunden werden als ein dumpfes Bedrohungsszenario ganz ohne Tätlichkeiten. Der "Kontext" des Verhaltens gibt diesem seine Bedeutung.15 Die nicht durch geschlechtsspezifisch gefärbte Deutungen verfälschte Wiedergabe von Verhalten ist jedoch andererseits die große Stärke der Conflict Tactics Scale (CTS). Sie zeigt, was los war und nicht, was jemand sehen wollte und benennen konnte. Die an ihrem oberen Ende stehenden und zwischen Männern und Frauen unbestritten in etwa gleich verteilten Verhaltensweisen der schweren physischen Gewalt (s. Abbildung 2) entfalten ganz zweifelsfrei "Wirkungen", auch wenn sie nicht angemessen versprachlicht werden.

 

Abbildung 2: Die Conflict Tactics Scale 

 

Abbildung 3: Männliche und weibliche Opfererfahrungen im Hellfeld und im Dunkelfeld 

 

Abbildung 4: Ein guter Mythos bewahrheitet sich selbst

 

Unzureichendes Wissen über männliche Opfererfahrungen

Dass wir wenig darüber wissen, wie Männer ihre Opfererfahrungen verarbeiten,16 ist ein Teil des sozialen Problems selbst. Für Männer fehlen nicht nur die institutionellen Hilfseinrichtungen, sondern schon die sprachlichen Rückversicherungen in einem öffentlichen Diskurs, in dem man seine Erfahrungen sozial verankern und damit auch für sich selbst festhalten, benennen, verstehen und verarbeiten kann. Sie können deshalb ihr Leid nicht in Sprache und Kommunikation transferieren, sondern reagieren häufig mit (psychischen) Erkrankungen, Suchtverhalten und Suizid. Es gibt auch bei Männern Interpretationen und sonstige Wirkungen schwerer Gewalt. Und es gibt auch bei Männern einen geschlechtsspezifischen "Kontext", denn nur Frauen können glaubhaft die Drohungen mit der Polizei und den Gerichten und damit Waffen einsetzen, die ins Zentrum der sozialen und materiellen Existenz zielen. Insofern ist auch die Unterscheidung zwischen einer beide Geschlechter betreffenden "expressiven" Gewalt einerseits, in der sich vorübergehende Konflikte in harmloser Form entladen, und einer "instrumentellen" Gewalt andererseits, in der von Männern intentional und strategisch Gewalt zur Kontrolle von Frauen eingesetzt wird,17 mit dem internationalen Forschungsstand nicht vereinbar und obendrein ein Rückschritt in der Geschichte der Ächtung von Gewalt. Es ist ein Kunstfehler, aus zweifellos vor allem bezüglich männlicher Opfer bestehenden Forschungslücken zu schließen, die entsprechenden Tatsachen - Leid, Schmerz und chronische Misshandlung von Männern einerseits und Macht von Frauen in ihren zahllosen Aspekten andererseits - gebe es nicht.

 

Lücken und kontraproduktive Effekte aktueller Gewaltprävention

Die großen Dunkelfelduntersuchungen machen Gewalt gegen Männer in einem Ausmaß sichtbar, dass die offizielle Gewaltschutzpolitik in ihrer ausschließlichen Beschränkung auf weibliche Opfer jeder empirischen und moralischen Legitimation entbehrt. Weitere Lücken des Gewaltschutzes werden jedoch sichtbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ja nicht allein Männer Opfer von weiblicher Gewalt werden, sondern in noch weit größerem Umfang auch Kinder. Die vorgängige Identifizierung von häuslicher Gewalt als "Männergewalt gegen Frauen und Kinder" verschleiert die außerhalb dieses speziellen Kontextes von niemand ernsthaft bestrittene Tatsache, dass Kinder in eher größerem Umfang von ihren Müttern misshandelt werden als von ihren Vätern. Auch die Gewalt von Frauen gegen Senioren bleibt von vornherein ausgeblendet, wenn man nur auf Männergewalt abstellt. Diesen anderen Opfergruppen bleibt also gerade die besonders intensive Aufmerksamkeit und Hilfe versagt, die mit der exponierten kriminalpolitischen Kategorie der häuslichen Gewalt verbunden ist. Sie fristen weiter unter "Gewalt gegen Senioren" oder "Kindesmisshandlung" ein Schattendasein. 

Die aktuelle Gewaltschutzpolitik im Gebiet der häuslichen Gewalt verweigert sich der Einsicht, dass es nicht nur Männer als Opfer, sondern auch Frauen als Täterinnen gibt. Deshalb wird gegenüber Frauen ein Interventionsbedarf regelmäßig gar nicht in Betracht gezogen. Alle Initiativen zum Schutz und zur Hilfe für Opfer häuslicher Gewalt sind für Frauen gedacht, gemacht und finanziert, während umgekehrt alles, was für Repression und Prävention getan wird, nur Männer im Blick hat. So ist die ganze institutionelle und personelle Infrastruktur der Gewaltschutzpolitik (einschließlich der Begleitforschung) rein geschlechtsspezifisch angelegt. 

Hinter diesem strukturellen Defizit verbirgt sich jedoch nicht nur ein gravierendes Gerechtigkeitsproblem, sondern auch ein Effektivitätsproblem. Denn an den problematischen Verhaltensmustern von Frauen und Männern lässt sich in den meisten Fällen nachhaltig nur dann etwas verändern, wenn eine konfliktreiche Beziehung "systemisch" bearbeitet wird. Dies jedoch wird durch den allgegenwärtigen Mythos von Gewalt als männlicher Gewalt von vornherein im Keim erstickt. Einer der beiden Konfliktpartner kann eine einseitige Rollenverteilung zwischen einem bösen Täter und einem guten Opfer rechtlich und sozial verbindlich machen. Dies aber bewirkt nichts als eine verständliche Verhärtung auf Seiten des zu unrecht als allein schuldig stigmatisierten Mannes18 und zu einer Verdrängung oder Verharmlosung des eigenen Anteils an der Gewaltgeschichte auf Seiten der allein als Opfer umsorgten Frau. So sind zum Beispiel bei den jeweils nächsten Partnern ähnliche Eskalationsprozesse zu befürchten, weil der Frau bescheinigt worden ist, alles richtig gemacht zu haben und der Mann - neben den unmittelbaren zivilrechtlichen oder strafrechtlichen Folgen - einen weiteren Schlag für sein Selbstwertgefühl einzustecken hatte. 

Die gegenwärtigen Instrumente des Gewaltschutzes produzieren nur Gewinnerinnen und Verlierer, aber keine in Lernprozessen gewachsenen Partner. Sie gehen immer noch von einem Feindbild "Mann" aus, das den präventiven Dialog der Geschlechter in allen Altersstufen, an allen Orten und in allen Verfahrensstufen behindert oder ganz ausschließt. Sie sind auf Enteignung, Entmachtung, Ausgrenzung und Bestrafung von Männern gerichtet, während auf kritiklose Unterstützung und Hilfe bisher ausschließlich Frauen und Mädchen rechnen können. Dies ist sowohl in Bezug auf Jungen und Männer kontraproduktiv, denn wenn es irgendeinen nachhaltigen Erkenntnisgewinn der Kriminologie in den letzten Jahrzehnten gegeben hat, dann den, dass das pausbäckige Vertrauen auf Strafe und Repression19 relativiert worden ist, als auch im Blick auf Frauen und Mädchen, denn auch Illusionen und falsche Idealisierungen des "friedlichen Geschlechts" bringen den Dialog der Geschlechter beim Gewaltschutz nicht weiter.

 

Eigendynamiken und Immunisierungsprozesse

Angesichts der offensichtlichen Selektivität, mit der häusliche Gewalt gesehen und bearbeitet wird, stellt sich mit einiger Dringlichkeit die Frage, wie es denn sein kann, dass sich auch in einer wissenschaftlichen Zivilisation realistische Sichtweisen und effektive Präventionsstrategien nicht durchsetzen können, obgleich die entsprechenden wissenschaftlichen Befunde für jedermann frei zugänglich sind und in den Ministerialbürokratien an sich der internationale Forschungsstand zur Kenntnis genommen und zur Grundlage der Politik gemacht werden sollte. Der Verweis auf Macht und Interessen liegt hier nahe und er ist auch nicht falsch. So, wie die Gewaltschutzpolitik angelegt ist, bedient sie ein bestimmtes Klientel, sichert bestimmte Kompetenzen, Stellen und Lebensentwürfe. Die Einseitigkeiten der Gewaltschutzpolitik sind insofern teilweise durchaus gewollt und werden sorgsam gehütet. Als Erklärung reicht dies freilich nicht aus. In einer kultursoziologischen Perspektive lässt sich andeuten, wie sich auch und gerade in einer wissenschaftlichen Zivilisation dauerhaft Mythen halten können. Wie zu allen anderen Zeiten ist ein guter Mythos realitätsresistent, denn sonst hätte er sich nicht als Mythos etabliert. Er erneuert sich im Gegenteil permanent selbst, erzeugt gewissermaßen seine eigene Selbstbewahrheitung. 

Beginnt man unten im Kreis der Selbstbewahrheitung, so sieht man, dass es die geschlechtsspezifischen Befunde aus dem Hellfeld sind, die von Expertinnen und Medien und von unzähligen Propagatoren und Multiplikatoren zur stetigen Auffrischung des Mythos verarbeitet werden. Gebrochene Stimmen erzählen von Schmerz und Ohnmacht. Bilder zeigen Tränen, blaue Augen und verstörte Kinder. Dazu arrangiert man männliche Verbrechervisagen, ritterliche Polizisten und betroffene Moderatorinnen. So wird der Stoff des Mythos gewoben, so gewinnt er eine anschauliche, fassliche Gestalt, die ihn in den Gefühlen der Menschen verankert. Abscheu, Hass, Vergeltung und Rache, ein ganzes Arsenal archaischer Emotionen lässt sich alsdann einspeisen in den Strom politischer Programme, Reden, Schriften und Auftritte, gemäß deren Botschaft Gewalt in allen ihren Erscheinungen geächtet werden muss. Es sind diese archaischen Emotionen, die von der Politik einerseits mobilisiert und aufgenommen, andererseits aber auch bedient und befriedigt werden müssen. Pluralismus, Meinungsfreiheit, Opposition und die ganzen anderen Regeln der offenen Gesellschaft sind dabei außer Kraft gesetzt, denn wer wollte mit Argumenten und Fakten gegen Emotionen dieses Kalibers antreten. Er würde sich unweigerlich als heimlicher Komplize verdächtig machen. So entstehen Bekenntnis- und Handlungszwänge auf der einen Seite und Schweigespiralen auf der anderen Seite. Bei der Ächtung aller Gewalt kann es sich niemand leisten, abseits zu stehen. Also werden Gesetze gemacht wie das Gewaltschutzgesetz. Oder es werden die Regelungen für Platzverweise verschärft.

Es müssen Aktionspläne formuliert und implementiert werden, es müssen die Curricula von Sozialberufen und die polizeilichen Dienstanweisungen entsprechend aufgerüstet werden, es müssen Fortbildungsveranstaltungen und Tagungen veranstaltet oder entsprechende Preise ausgelobt werden.20 So kommt der Mythos schließlich auch bei denen an, nach deren Normalitäts- und Plausibilitätsvorstellungen auf den verschiedenen Stufen zivilrechtlicher, polizeirechtlicher oder strafrechtlicher Verfahren entschieden wird. Auch hier geht es nicht nur um rein kognitive Vorstellungen (häusliche Gewalt ist männliche Gewalt), sondern um ihre Verknüpfung mit Emotionen ("so etwas" ist einfach abscheulich) und Handlungsbereitschaften ("so einem" gebe ich kein Pardon). 

Ist der Mythos erst einmal in der beschriebenen Weise in den "second code" eingedrungen, so wird noch einmal klar, wieso auf dem Weg vom Dunkelfeld ins Hellfeld (s. Abbildung 1) noch mehr männliche als weibliche Opfer auf der Strecke bleiben. Andererseits ist es auch nicht verwunderlich, dass die geballte Kraft der gesellschaftlichen und kriminalpolitischen Kampagnen insofern Wirkung zeigt, als mehr Frauen ermutigt werden, ihr Schweigen zu brechen, Anzeige zu erstatten und die angebotenen Hilfen auch anzunehmen. Polizisten, Ärzte, Freundinnen und Nachbarinnen sehen und tun, was sie sehen und tun sollen. Im Ergebnis kommt erneut nicht nur ein insgesamt größeres, sondern wiederum ein eindeutig geschlechtsspezifisches Hellfeld zustande, das mit "wissenschaftlicher" Begleitforschung aufbereitet werden kann und erneut denjenigen Recht gibt, die schon immer gewusst haben wollen, dass alles noch viel schlimmer ist, wo man die Übeltäter zu suchen hat und dass noch weitaus mehr getan werden muss. Die nächsten Pressekonferenzen sind vorprogrammiert und eine neue Rückkoppelungsschleife in jedem endlosen Prozess der weiteren Symbolisierung, Skandalierung und Aktivierung ist in Gang gesetzt, der den Mythos immer von neuem frisch, plastisch und gegen lästige Fakten immun hält.

 

Anmerkungen

1 Für weithin auch für häusliche Gewalt relevanten kriminologischen Theorien und Forschungszusammenhänge wird als Einstieg und mit Hinweisen zur weiteren Literatur auf Bock, M.: Kriminologie. München, 2. Aufl. 2000 verwiesen. 

2 Bock, M.: Recht ohne Maß. Die Bedeutung der Verrechtlichung für Person und Gemeinschaft. Berlin 1988 

3 Schweikert, B.: Gewalt ist kein Schicksal. Ausgangsbedingungen, Praxis und Möglichkeiten einer rechtlichen Intervention bei häuslicher Gewalt gegen Frauen unter besonderer Berücksichtigung von polizei- und zivilrechtlichen Befugnissen. Baden-Baden 2000 

4 Sticher-Gil, B. (Hrsg.): Gewalt gegen Männer - ein vernachlässigtes Problem!? Dokumentation einer Tagung am 18. November in der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Berlin. Berlin 2002 

5 Schneider, H.-J.: Viktimologie. Wissenschaft vom Verbrechensopfer. Tübingen 1975 

6 Gemünden, J.: Gewalt gegen Männer in heterosexuellen Intimpartnerschaften. Ein Vergleich mit dem Thema Gewalt gegen Frauen auf der Basis einer kritischen Auswertung empirischer Untersuchungen. Marburg 1996; Fiebert, M. S.: References examining assaults by women on their spouses/partners. An annotated bibliography. In: Dank, B. M./Refinette, R. (Eds.): Sexual harassment and sexual consent. New Brunswick 1997, Vol. 1, S. 273-286; Straus, M. A.: The controversy over domestic violence. A methodological, theoretical, and sociology of science analysis. In: Arriaga X. B./ Oskamp S. (Eds.): Violence in intimate relationsships. Thousand Oaks 1999, S. 17-44; Archer, J.: Sex differences in aggression between heterosexual partners: A meta-analytic review. In: Psychological Bulletin 2000, S. 651-680 

7 Von den in Fußnote 6 genannten Autoren hat allein John Archer eine echte empirische Meta-Analyse vorgelegt. Für den aktuellen "Stand" der internationalen Forschung ist diese Arbeit daher am repräsentativsten. 

8 Archer (wie Fußnote 6), Tabellen 3 und 6 auf S. 657 und 660 

9 Archer (wie Fußnote 6), Tabellen 4, 5 und 7 auf S. 658, 659 und 661 

10 Nachweise bei Archer (wie Fußnote 6), S. 653f. 

11 Zahlreiche Nachweise in der in Fußnote 6 zitierten Literatur sowie in der in Fußnote 3 zitierten Arbeit von Birgit Schweikert 

12 Die sozialpsychologische Argumentation wird noch durch einen statistischen Effekt unterstützt, wie er bei großen Dunkelfeldern häufig zu beobachten ist. Nehmen wir an, von 100 männlichen Opfern schweigen 98 und von 100 weiblichen Opfern 86, d. h. aus beiden Gruppen fast alle, dann wird daraus im Hellfeld ein Verhältnis von 1:7! 

13 Vgl. dazu allerdings Heinz, W.: Frauenkriminalität. In: Bewährungshilfe, 2/2002, S. 131-152 

14 Hagemann-White, C.: European Research on the Prevalence of Violence Against Women. In: Violence Against Women, 7/2001, S. 732-759 

15 Kavemann, B.: Gewalt gegen Männer - ein vernachlässigtes Problem? In: Sticher-Gil, B. (Hrsg.): Gewalt gegen Männer - ein vernachlässigtes Problem!? Dokumentation einer Tagung am 18. November in der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Berlin. Berlin 2002, S. 42ff. 

16 Vgl. aber Lenz, H.-J./Meier, C. (Hrsg.): Männliche Opfererfahrungen. Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing vom 1. bis 3. März 2002 in Heilsbronn (Tutzinger Materialien Nr. 88) Tutzing 2002 

17 Kavemann, B. (vgl. Fußnote 15) 

18 Aufschlussreich in dieser Hinsicht der Bericht von Cornel, H.: Häusliche Gewalt. Geschlechtsspezifische Gewaltanwendungen und darauf bezogene qualifizierte Interventionsprogramme. In: Neue Kriminalpolitik, 1/2002, S. 20ff. 

19 Beispielhaft ausgeprägt bei Schweikert (vgl. Fußnote 3), aber auch in allen amtlichen Verlautbarungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. 

20 Beispielhaft seien hier die Präventionspreise genannt, die das Innenministerium Baden-Württemberg 2001 für die Kommunen mit den meisten "Rote Karten" für gewalttätige Ehemänner ausgelobt hat.

 

 

 


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