Zeitschrift

Sicherheit und Kriminalität


 

Heft 1/ 2003

Hrsg: LpB

 



 

Inhaltsverzeichnis

  Stimmt das Schreckgespenst von den "gewalttätigen Kids"?
 

Kinder- und Jugenddelinquenz

Von Werner Maschke       

Prof. Dr. Werner Maschke lehrt an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg im Fachbereich Kriminalwissenschaften/ Fachgruppe Kriminologie. Prof. Dr. Werner Maschke ist ausgewiesener Experte im Themen- und Forschungsfeld Kinder- und Jugendelinquenz. Seit 20 Jahren ist Prof. Dr. Werner Maschke wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen.

 

"Die Täter werden immer jünger!" Diese oft geäußerte Formulierung verweist auf den Tatbestand, dass sich die Kriminalitätsbelastung von Kindern und Jugendlichen erhöht hat. Dieses Lamento verzerrt das Bild jedoch, wenn man die Entwicklung der Kriminalstatistiken nur jugendspezifisch beleuchtet. In Betracht ziehen muss man nämlich, dass die Zahl der registrierten Straftaten in Deutschland im Gesamten gestiegen ist. Um die Gründe für die hohe Kriminalitätsbelastung junger Menschen aufzeigen zu können, ist zunächst eine quantitative und qualitative Beschreibung der Kinder- und Jugendkriminalität notwendig. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die allermeisten Delikte Bagatellfälle und in aller Regel nur Episoden in der Biografie junger Menschen sind. Damit stellt sich die Frage, welche strafrechtlichen Reaktionen oder gar Sanktionen bei Kindern und Jugendlichen überhaupt angemessen sind. Sucht man schließlich nach Theorien, um die hohe Kriminalitätsbelastung von jungen Menschen beschreiben, erklären oder diagnostizieren zu können, sind generalisierende Beurteilungen mit Vorbehalt zu sehen. Werner Maschke verdeutlicht, dass Kinder- und Jugenddelinquenz ein komplexes Phänomen darstellt und dass es nicht möglich ist, diese Vielfalt mit einer einzigen Theorie zu erklären. Red. 

 

Jugend und Kriminalität - ein Dauerthema?

 "Jugend und Kriminalität" ist seit Jahrzehnten ein gesellschaftliches, kriminalpolitisches und wissenschaftliches Dauerthema; in der Gegenwart unter dem Eindruck einer (zumindest im amtlich registrierten Bereich) steigenden Jugendkriminalität mehr denn je. Unter Jugendkriminalität oder Jugenddelinquenz1 versteht man in Anlehnung an die Definition des Jugendgerichtsgesetzes (§ 1 Abs. 2 JGG) die Straftaten von Kindern (unter 14 Jahre), Jugendlichen (14 bis 17 Jahre) und Heranwachsenden (18 bis 20 Jahre). Gelegentlich werden auch noch die Delikte der so genannten Jungerwachsenen (21 bis 24 Jahre) mit dem Argument, dass viele junge Menschen dieser Altersgruppe in ihrer psychosozialen Entwicklung noch eher den Jüngeren als den Erwachsenen gleichstünden, dazu gezählt. 

Bei der Betrachtung von Kinder- und Jugenddelinquenz wird das Phänomen der Kriminalität einer bestimmten Altersgruppe fokussiert. Die Zugehörigkeit zu einer Altersgruppe besagt jedoch kriminologisch letztlich recht wenig. Das Spektrum der Erscheinungsformen von Kriminalität bei jungen Menschen ist extrem breit und vielgestaltig. Die einzelne Tat eines jungen Menschen kann der Eigentumskriminalität ebenso zuzuordnen sein wie der Gewaltkriminalität, der Straßen-2 oder Drogenkriminalität. Sie kann ein Straßenverkehrsvergehen, ein Tötungsdelikt oder eine Vergewaltigung sein, und selbst das gleiche Delikt kann im Lebensgesamt zweier junger Menschen einen höchst unterschiedlichen Stellenwert haben. 

Auf diese Besonderheiten können die nachfolgenden Ausführungen naturgemäß nicht eingehen und müssen daher notwendigerweise allgemein bleiben. 

 

Tabelle 1: Tatverdächtigenbelastungszahlen der Deutschen (2001) Bundesrepublik
Deutschland.

Altersgruppe  Insgesamt  Männlich  Weiblich
8<10   718  1.110 306
10<12  1.684  2.469  858
12<14  4.260  5.667  2.774
14<16  7.227  9.967  4.349
16<18  7.608  11.566  3.449
18<21 7.440  11.777  2.909
21<23  6.076  9.587  2.414
23<25  4.868  7.675  1.955
25<30  3.574  5.527  1.549
30<40  2.624  3.985  1.237
40<50 2.203  3.282  1.100
50<60  1.627  2.431  831
60 +  664  1.084  370

Quelle: PKS (Bund) 2001, S.97

 

Kinder- und Jugendkriminalität im Spiegel der amtlichen Statistik I

n der kriminalpolitischen Diskussion werden die Dimensionen der Jugenddelinquenz vor allem an dem polizeilich registrierten Straftatenaufkommen junger Menschen verortet, wie es sich in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS)3 darstellt. Im Jahr 20014 waren zum Beispiel, auf das gesamte Bundesgebiet bezogen, 30,2 % aller von der Polizei ermittelten Tatverdächtigen unter 21 Jahre alt (6,3 % Kinder, 13,1 % Jugendliche, 10,8 % Heranwachsende). Dies entspricht 688.741 von insgesamt 2.280.611 Tatverdächtigen. Bei der Mehrzahl (76,5%) handelte es sich um männliche Tatverdächtige. Nach wie vor ist Jugenddelinquenz hauptsächlich ein "männliches" Problem5, wenngleich langfristig betrachtet die Mädchen und jungen Frauen etwas zulegen. 

Abgesehen davon, dass junge Menschen knapp ein Drittel der Tatverdächtigen ausmachen, wird deren Kriminalitätsbelastung vor allem bei einem Vergleich mit anderen Altersgruppen deutlich: Die Tatverdächtigenbelastungszahl (TVBZ)6 der unter 21-Jährigen ist doppelt so hoch wie jene der über 21-Jährigen. Bezogen auf deutsche Tatverdächtige7 lautet die Tatverdächtigenbelastungszahl (2001) für Kinder (8-13 Jahre) 2.292, für Jugendliche 7.416, für Heranwachsende 7.440; im Vergleich zu den Erwachsenen 1.980. Dies bedeutet, dass z. B. von 100.000 deutschen Heranwachsenden im Jahr 2001 insgesamt 7.440 von der Polizei als Tatverdächtige registriert worden sind. Die höchst unterschiedliche Belastung von Männern und Frauen überhaupt und auch von jungen Männern und jungen Frauen zeigen die Tabelle 1 und das Schaubild 1 beispielhaft für das Jahr 2001.

 

Schaubild 1: Tatverdächtigenbelastungszahlen der Deutschen (2001) Bundesrepublik Deutschland. 

Diese Zahlen werden durch Befunde der Dunkelfeldforschung8 ergänzt. Danach begeht die weit überwiegende Mehrzahl junger Menschen (90 % und mehr)9 in ihrer (Kindheit und) Jugendzeit einmal oder auch mehrfach Straftaten - Jungen und junge Männer noch häufiger als Mädchen und junge Frauen, quer durch alle Schichten. Man spricht insoweit von der Ubiquität von Straftaten im Kindes und Jugendalter10. Aus der quantitativen Diskrepanz zwischen den Befunden der Dunkelfeldforschung und der registrierten Kriminalität wird die Einschätzung abgeleitet, dass es in jungen Jahren (statistisch) "normal" sei zu delinquieren, dass es aber "unnormal" sei, deswegen von offiziellen Instanzen wahrgenommen und sanktioniert zu werden. 

 

Die große Masse der von Kindern und Jugendlichen begangenen Delikte sind  u.a. Eigentumsdelikt  und Körperverletzungen.  

Foto: dpa

 

Die meisten Delikte sind Bagatellfälle 

Die große Masse der im Dunkelfeld verbleibenden Delikte trägt freilich Bagatellecharakter. Es handelt sich um gelegentliche Eigentumsdelikte, einfache Körperverletzungen, Beleidigungen, Sachbeschädigungen, Schwarzfahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz usw. durch "Moped- Ritzeln", Konsum illegaler Drogen und Verstöße gegen das Urheberrechtsgesetz (Raubdrucke, Raubkopien). Das meiste hiervon bleibt unentdeckt oder wird durch das soziale Umfeld geregelt oder auch sanktioniert. 

Auch die im Hellfeld wahrgenommene Kriminalität ist zu großen Teilen bagatellhaft. Dies gilt ganz besonders für die deliktischen Handlungen von Kindern. Be  51,6 % der Delikte von tatverdächtigen Jungen und bei 72,4 % jener der tatverdächtigen Mädchen handelt es sich um einfachen Diebstahl, weit überwiegend um Ladendiebstahl (oftmals Spielzeug, Süßigkeiten, Kosmetika). Daneben spielen bei tatverdächtigen Kindern Körperverletzungen und Sachbeschädigungen noch eine gewisse Rolle. Auch bei Jugendlichen und Heranwachsenden liegt der Schwerpunkt ihrer registrierten Kriminalität bei den Eigentumsdelikten. Deren Anteil geht jedoch, ebenso wie jener der Sachbeschädigungen, zurück zugunsten der Zunahme von Körperverletzungen  Rauschgiftdelikten und Betrugshandlungen (Letzteres vor allem bei jungen Frauen).11  

Die Deliktsbegehung ist in diesem Alter überwiegend gekennzeichnet durch einfach  Tatausführung (einfaches Zugreifen, Zuschlagen, Beschädigen), spontan, aus der Situation heraus und ohne große Planung. Es besteht eine ausgeprägte Gruppenorientierung. Selbst dann, wenn es sich - juristisch gesehen - um Einzeltäter handelt, steht oftmals die Gleichaltrigengruppe im Hintergrund, bei der man Anerkennung finden und mithalten möchte. Auch ansonsten finden sich meist altersspezifische Motivlagen: Es geht um Anerkennung und Selbstwertgefühl, um "Spaß", Abenteuerlust, um unmittelbare Bedürfnisbefriedigung und unmittelbares körperliches Ausagieren, sei es zum Frustabbau oder als Selbstjustiz ("Schlägst du mich, schlag ich dich!"), aber auch um Langeweile und - vor allem in jüngeren Jahren - um fehlendes Unrechtsbewusstsein. 

Das meiste spielt sich innerhalb der Peergroup ab, und es kommt nicht selten zu einer Täter-Opfer- oder Opfer-Täter-Abfolge. Schon im Hellfeld stellen die unter 21-Jährigen nicht nur ein knappes Drittel der Täter, sondern auch ein Drittel der Opfer (34,9 %), wobei das Opferrisiko bei jugendlichen und heranwachsenden Männern bei Körperverletzung, bei räuberischen Delikten und bei Straftaten gegen die persönliche Freiheit im Vergleich zu anderen Altersgruppen überproportional hoch ist. Auf niedrigerem Niveau gilt dies auch für Mädchen un  junge Frauen, bei denen noch eine erhöht  Viktimisierungschance durch gewalttätig  Sexualdelikte dazu kommt. Auch nach der Dunkelfeldforschung ist belegt, dass über alle Deliktsbereiche hinweg  jüngere Menschen, und hier wiederum  insbesondere Männer, häufige  Opfer werden als ältere, ausgeprägt gilt dies für Gewaltdelikte.12 

 

Ursachen und Erklärungsansätze für Kinder- und Jugenddelinquenz 

Die "Ursachen" für die traditionell hohe Kriminalitätsbelastung junger Menschen sind nicht wissenschaftlich belegt, es werden aber zahlreiche, mehr oder weniger plausible "Gründe" im Sinne von Straftaten  begünstigende Bedingungszusammenhänge  diskutiert, die gewissermaßen Zeit überdauernd sind und im Grundsatz eine Jugendzeit der 60er Jahre genauso gekennzeichnet haben können wie eine heutige.13  

Im Vordergrund stehen entwicklungsbiologisch  bzw. entwicklungspsychologisch  Aspekte, die insbesondere auf di  Pubertät und Nachpubertät als Phase der Irritationen, der Auflehnung gegen das von der Elterngeneration verkörperte Althergebrachte, des Revoltierens und des "Sturm und Drangs" abheben, aber auch auf die durch körperliche Veränderungen vorhandene überschüssige Energie oder auf das Bedürfnis nach körperlichem Ausagieren hinweisen. Straftaten werden im Zusammenhang mit einem fehlenden spezifischen Unrechtsbewusstsein, einem noch ungefestigten Wertgefüge oder einer entwicklungsbedingt niedrigen Stufe des moralischen Urteilens gesehen, oft einhergehend mit leichter Beeinflussbarkeit. Fehlende Lebenserfahrung und damit verbundene mangelnde Antizipation veranlassen zu spontanen Entscheidungen und Handlungen. In jungen Jahren ist die Zeitperspektive noch wenig ausgeprägt. Das Leben zielt auf den Augenblick, und es geht oft um möglichst unmittelbare Bedürfnisbefriedigung (sofortiges Haben wollen, Neugier  Abenteuerlust, aber auch körperliches Ausagieren als Selbstjustiz nach eigenen Opfererfahrungen). Manchmal soll es auch nur die durch entwicklungsbedingte Orientierungslosigkeit hervorgerufene Langeweile sein, die Nervenkitzel verlangt. 

Aus sozialpsychologischer Sicht wird auf den Übergang von der Familienorientierung des Kindes auf die verstärkte Orientierung des Jugendlichen an der Peergroup mit nunmehr anderen, spezifischen Attributen der Anerkennung und des Selbstwertgefühls hingewiesen oder auf die Suche nach Perspektiven, nach einer Position in der Gesellschaft, die oftmals mit Grenzüberschreitungen einhergehen soll, um letztlich auch durch die Grenzüberschreitungen soziale Kompetenzen einzuüben. Im Hinblick auf den Übergang, nicht mehr Kind, aber noch nicht Erwachsener zu sein, werden sozialstrukturelle Benachteiligungen als Bedingungsfaktoren benannt, so zum Beispiel die Diskrepanz zwischen den eigenen (schon "erwachsenen") Bedürfnissen, der eigenen Selbsteinschätzung und den gesellschaftlichen Vorgaben (zum Beispiel im sozialen Status, im sexuellen Bereich) oder die Diskrepanz zwischen den materiellen Ansprüchen und den Möglichkeiten (als Konsument schon Erwachsener, im Hinblick auf die finanzielle  Möglichkeiten aber noch relativ "unmündig").

Es ist nicht von der Hand zu weisen, das  im Einzelfall der eine oder andere Grund  oder auch das Zusammenspiel mehrere  Aspekte eine zufrieden stellende Erklärung  für das Begehen einer Straftat darstellt  Genauso offenkundig ist aber, dass es keine Erklärung für die Jugendkriminalität sein kann, schon gar nicht im Sinn  von "Ursachen", da die Mehrzahl der junge  Menschen, und das gilt in besonderem Maße für die Mädchen und jungen Frauen, mit diesen möglichen Irritationen in der Phase der Pubertät und Adoleszenz überhaupt oder - selbst bei Berücksichtigung der Ubiquität von Delinquenz - zumindest in der weit überwiegenden Zeit zurecht kommen ohne Straftaten zu begehen. 

Eine weitere, eher kontrolltheoretische Erklärung für die hohe registrierte Kriminalitätsbelastung junger Menschen, die also nur die Frage Dunkelfeld/Hellfeld im Blick hat, könnte sein, dass durch die stärkere Außenorientierung junger Menschen (im Leistungs-, Freizeit- und Kontaktbereich  deren deviantes Verhalten nicht mehr im Rahmen der informellen Sozialkontrolle der Familie und der unmittelbaren Umgebung aufgefangen wird, sondern vermehrt in das Blickfeld der formellen Instanzen sozialer Kontrolle gerät, die abweichendem Verhalten anders begegnen als das unmittelbare soziale Umfeld  

Ebenfalls auf die Frage Dunkelfeld/Hellfeld stellt die Überlegung ab, dass die Straftaten junger Menschen deswegen überproportional häufig amtlich registrier  werden, weil sich viele ihrer Delikte mehr als diejenigen der Erwachsenen in der Öffentlichkeit abspielen (Straßenkriminalität, Drogenkriminalität), "sichtbarer  sind (zum Beispiel ein Raubüberfall oder eine Schlägerei im Vergleich zu einem Betrug oder einer Steuerhinterziehung), die Ausführung ihrer Delikte naiver und die Straftat damit leichter zu entdecken ist, und dass junge Mensche  schließlich von den Strafverfolgungsorganen leichter überführt werden können. 

 

Die meisten Straftaten sind Episoden in der Biografie 

Die Wahrnehmung von Jugendkriminalität als Ergebnis entwicklungstypischer Verhaltensweisen und als ein Begleitphänomen im Prozess der Entwicklung einer sozialen und individuellen Identität14 deckt sich mit der Tatsache, dass sich die meisten dieser jugendtümlichen Straftaten im Hellfeld wie im Dunkelfeld auf diesen Entwicklungsabschnitt beschränken und episodenhafter Natur sind. Schon die Alterskurve der Kriminalitätsbelastung für das Hellfeld zeigt, dass es sich bei den Straftaten junger Menschen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle um ein passageres Phänomen handelt: Nach dem steilen Anstieg zu Beginn der Strafmündigkeit und der Höchstbelastung im Heranwachsendenalter fällt die Kurve während der dritten Lebensdekade steil ab (vgl. Schaubild 1). Ähnlich, freilich auf deutlich niedrigerem Niveau und mit einem früher liegenden Zeitpunkt der Höchstbelastung, verläuft sie bei Frauen. Dieses Phänomen lässt sich anhand der Zahlen der durch die Strafgerichte Verurteilte  seit mehr als 100 Jahren nachweisen und wird auch durch Rückfallstudien über registrierte Täter und Dunkelfeldforschungen belegt.15 Neben der Ubiquität ist daher Episodenhaftigkeit das zweite Merkmal der typischen Jugendkriminalität. 

Als drittes Wesensmerkmal der Jugendkriminalität kommt hinzu, dass in der Mehrzahl der Fälle diese Art von Delinquenz auch ohne Intervention seitens Dritter oder gar einer förmlichen Intervention von Seiten der Strafverfolgungsinstanzen ihr Ende findet. Dieses Phänomen wird häufig mit dem Begriff der Spontanremission umschrieben, wonach Delinquenz im Jugendalter im Regelfall von selbst aufhört. Der empirischen Sanktionsforschung, die sich um den Nachweis der Wirkung von strafrechtlichen Sanktione  bzw. Reaktionen auf Straftaten bemüht, ist es bisher nicht gelungen, den Nachweis zu führen, dass formelle (jugend-) strafrechtliche Sanktionen über die vordergründige Sicherung, z.B. während eines Haftaufenthaltes, hinaus nachhaltige Wirkungen im Hinblick auf die Verhinderung künftiger Straftaten entwickeln. Solche Maßnahmen seien im günstigsten Fall wirkungslos, im ungünstigeren Fall erhöhten sie sogar das Risiko des Rückfalls. Letzteres wird vor allem von Vertretern des Etikettierungsansatzes, der Kriminalität als Ergebnis von gesellschaftlichen Zuschreibungs-  und Stigmatisierungsprozessen sieht, behauptet. 

 

Strafrechtliche Zurückhaltung im Umgang mit jugendlichen Tätern 

Die heutige wissenschaftliche Grundüberzeugung  dürfte überwiegend zwar nicht  radikal in die Richtung "nothing works" mit der Folge der Nicht-Intervention gehen, wohl aber von einer weitgehenden Austauschbarkeit von Sanktionen bestimmt sein, was in der Konsequenz unter Berücksichtigung des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zur Anwendung  des geringst möglichen Eingriffs führt. Weitgehende Einigkeit dürfte zumindest in der Praxis allerdings darin bestehen, dass auf Straftaten, wenn sie denn bekannt werden, grundsätzlich zum Zwecke der speziellen wie generelle  Normverdeutlichung reagiert werden muss.

Dies stellt den Hintergrund für unseren derzeitigen Umgang mit Jugendkriminalität dar. Er ist gekennzeichnet durch eine ausgeprägte Zurückhaltung, auf amtlich bekannt gewordene Straftaten junger Menschen mit förmlichen Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG), insbesondere solche stationärer Art, zu reagieren. Stattdessen wird unter dem Stichwort "Diversion"16 der Gedanke der sozialen Selbstregulierung, der erzieherischen Toleranz oder notfalls einer Reaktion in Form informeller erzieherischer Maßnahmen in den Vordergrund gestellt. Die Möglichkeit, ein (oft langwieriges) formelles Strafverfahren und eine förmliche Sanktionierung nach dem Jugendgerichtsgesetz zu vermeiden und möglichst rasch auf die Straftat zu reagieren, eröffnen die §§ 45 und 47 JGG. Nach § 45 Abs. 1 JGG kann der Staatsanwalt bei Bagatelldelikten, insbesondere bei geständigen Tätern, die das erste Mal registriert in Erscheinung treten, bei geringer Schuld und dem Fehlen eines öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung das Strafverfahren sanktionslos einstellen. Falls dies nicht gegeben ist (zum Beispiel bei Wiederholungstaten oder bei schwereren Delikten) kann das Verfahren nach § 45 Abs. 2 JGG eingestellt werden, wenn erzieherische Maßnahmen als Reaktion auf die Straftat von Seiten der Eltern oder des sozialen Umfeldes bereits durchgeführt oder eingeleitet worden sind oder der jugendliche Straftäter sich um einen Täter-Opfer-Ausgleich bemüht hat. Falls dies noch nicht oder nicht im notwendigen Umfang erfolgt ist, kann der Staatsanwalt selbst, beispielsweise im Zusammenwirken mit der Jugendgerichtshilfe, erzieherische Maßnahmen einleiten. Darüber hinaus stehen weitere Möglichkeiten sowohl für den Staatsanwalt als auch für den Richter (§ 47 JGG) zur Verfügung, um ein eingeleitetes Strafverfahren ohne förmliche Hauptverhandlung und ohne förmliche Sanktionierung zugunsten erzieherischer ambulanter Maßnahmen zu verhindern. 

In Baden-Württemberg wird zwischenzeitlich in mehr als zwei Drittel der Fälle von Jugendsachen, die von der Polizei der Staatsanwaltschaft als aufgeklärte Sachverhalte mit einem benannten Tatverdächtigen zur Entscheidung vorgelegt werden, von der Diversion im Sinne de  beschrieben Reaktionsmöglichkeiten Gebrauch gemacht. In den norddeutschen Stadtstaaten erfolgt dies in teilweise bis über 90 % der Fälle. Dies bedeutet, dass in Baden-Württemberg lediglich bei etwa einem Drittel der Sachverhalte ein förmliches Verfahren mit dem Ziel einer Verurteilung eingeleite  wird, wobei in drei Viertel dieser Urteile auf ambulante Maßnahmen in Form von Weisungen, Auflagen usw. erkannt wird. Letztlich wird also nur ein kleiner Teil junger Straftäter zu stationären Maßnahmen wie Jugendarrest oder Jugendstrafvollzug verurteilt.17

 

Intensivtäter sind untypisch, finden aber große Beachtung 

Vor allem bei diesen zuletzt Genannten dürfte es sich um junge Straftäter handeln, bei denen die Gefahr besteht, dass ihre Delinquenz in eine langwierige kriminelle Karriere mündet, bei deren Delinquenz also nach Einschätzung der justiziellen Entscheidungsträger gerade nicht von Ubiquität und Episodenhaftigkeit ausgegangen werden kann. Diese als Mehrfachtäter, bei extremeren Ausprägungen ihrer Kriminalität auch als Intensiv- oder Serientäter bezeichneten jungen Menschen finden oftmals auch in den Medien entsprechende Beachtung und werden fälschlicherweise als typische Vertreter der Jugendkriminalität wahrgenommen, um dann als Argument für entsprechende kriminalpolitische Forderungen herangezogen zu werden. Die Übergänge zwischen episodenhafter Kriminalität, häufigerer gelegentlicher Delinquenz, Mehrfachtäterschaft, Intensivo der Serientäterschaft und einer langjährigen kriminellen Karriere sind fließend. Grundsätzlich kann man nach der internationalen Forschung davon ausgehen, dass zwischen vier und sechs Prozent eines Geburtsjahrganges für die weit überwiegende Mehrzahl (ca. 40 % bis 60 %) der (registrierten) Delikte verantwortlich sind, die dieser Geburtsjahrgang insgesamt begeht. Dies bedeutet, dass einige wenige für sehr viele Delikte und für ein hohes Maß an Kriminalität verantwortlich sind. Die Praxis kennt zahlreiche junge Straftäter, die eine Zeitlang mehrfach, gegebenenfalls sogar über Jahre hinweg, immer wieder mit Straftaten in Erscheinung treten, bei denen vielfältige Reaktionen und Sanktionen, aber auch Stützungsversuche durch das soziale Umfeld oder die Jugendhilfe anscheinend nichts bewirken. Aber selbst bei ihnen muss es nicht zwangsläufig zu einer längeren kriminellen Karriere kommen, die bis weit in die vierte oder fünfte Lebensdekade reicht und in einem Kreislauf von sozial auffälligem Lebensstil, Straftaten und (immer länger währenden) Haftaufenthalten verharrt.18

 

Kann man kriminelle Karrieren diagnostizieren? 

Die wissenschaftlich wie kriminalpolitisch und insbesondere für die Strafverfolgungspraxis interessante Frage lautet nun, wie kann bei einem jungen Straftäter möglichst frühzeitig erkannt werden, ob es sich bei seiner Delinquenz um ein passageres Ereignis handelt, das sich von selbst "auswächst" und dem man mit erzieherischer Toleranz und strafrechtlicher Zurückhaltung begegnen kann, oder ob es sich um den Beginn einer kriminellen Karriere handelt, der man, bei aller Skepsis hinsichtlich der Wirksamkeit strafrechtlicher Sanktionen, nachhaltiger und energischer begegnen muss, um zumindest den Versuch zu machen, eine Verfestigung der Kriminalität und damit verbunden eine kriminelle Karriere zu verhindern, nicht zuletzt auch im Interesse dieses jungen Menschen selbst. 

Als gesichert kann gelten, dass weder die Art oder die Schwere des Deliktes, noch - innerhalb bestimmter Grenzen - die Häufigkeit der Deliktsbegehung oder das Alter des Delinquenten bei der ersten Tat eine Aussage über die Gefahr des Beginns einer kriminellen Karriere zulässt. Gewisse Anhaltspunkte kann allenfalls die Einbettung der Tat geben.19 Als eher belanglos im Sinne einer kriminellen Verfestigung sind Delikte einzustufen, die aus einer Spielsituation heraus entstehen, gemeinschaftlich und unter einem gewissen Gruppeneinfluss begangen werden und eine einfache Tatausführung aufweisen, zum Beispiel in Form einer einfachen Wegnahmehandlung unter Ausnutzen einer günstigen Gelegenheit. Selbst wenn es in einer kurzen Phase wiederholt zu solchen Delikten kommt, muss dies noch nicht auf eine Verfestigung hindeuten. Die Gefahr einer solchen ist eher gegeben, wenn die Straftaten auf eine gewisse Zielstrebigkeit hinweisen, etwa in Form eines planmäßigen, überlegten Vorgehens mit differenzierter Tatausführung, die eine Überwindung von Hindernissen erforderlich macht oder mit Täuschungen einhergeht. Ähnliches gilt, wenn die Taten darauf ausgerichtet sind, eine dem Täter bekannte Schwäche des Opfers gezielt auszunutzen, und wenn sie eine gewisse Vielseitigkeit erkennen lassen, sei es durch die Begehung von Taten unterschiedlicher Deliktsarten, sei es durch die Modifikation der Tatausführung vor dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen des Täters bei der Tatbegehung. 

Letztlich kann allerdings die konkrete Gefährdungslage im Einzelfall erst durch eine genaue Betrachtung des Stellenwerts der Delinquenz im Lebensgesamt des individuellen Täters eingeschätzt werden.20 Aufgrund von interdisziplinär ausgerichteten, umfangreichen und intensiven Vergleichsuntersuchungen von wiederholt und hartnäckig delinquierenden jungen Straffälligen einerseits und Probanden aus der Durchschnittspopulation, bei denen durchaus auch Delikte im Hell- und Dunkelfeld vorlagen, andererseits, konnten bestimmte Verlaufsformen beschrieben werden, die eine diagnostisch- prognostische Einschätzung der individuellen Gefährdungslage erlauben. Gegenstand der Analyse sind dabei das alltägliche Sozialverhalten und die damit  zusammenhängenden Einstellungen, Grundhaltungen und Orientierungen. 

Im Hinblick auf eine kriminelle Verfestigung prognostisch eher günstig einzuschätzen ist die so genannte Kriminalität im Rahmen der Persönlichkeitsreifung.21 Hier ist die Delinquenz relativ gut als entwicklungsbedingt und damit als vorübergehend abzugrenzen. Kennzeichnend ist, dass die typischen Verhaltensstrukturen von (später) wiederholt Straffälligen nur partiell vorhanden sind. Sie beschränke sich auf den Freizeitbereich und die damit zusammenhängenden Kontakte. Die Freizeit wird - oft in deutlich erkennbarem Gegensatz zu früher - mit unstrukturierten, inhaltlich nicht vorhersehbaren Aktivitäten mit zeitlich offenen Abläufen (planloses Herumhängen, Herumstreunen, Streifzüge durch Kneipen, Spielhallen und Diskotheken, oft szene-orientiert) verbracht, meist im Kreise von Gleichaltrigen, zu denen nur unverbindliche, oft utilitaristisch geprägte Kontakte bestehen. Den Verpflichtungen im Leistungsbereich wird überwiegend noch nachgekommen, oder es finden sich zum Zeitpunkt der Straftat hier erst seit kurzem gewisse Unregelmäßigkeiten (Leistungsversagen, Leistungsverweigerung durch Ausweitung der Freizeit zu Lasten des Leistungsbereiches in Form von Schwänzen oder Blaumachen). Auffälligkeiten im Aufenthaltsbereich finden sich dagegen nicht, auch die tragenden menschlichen Kontakte und familiären Bindungen werden bis zu einem gewissen Grad aufrechterhalten. Gerade aus dem spezifischen Freizeitverhalten entstehen in der Clique, oft im Zusammenhang mit Alkohol- oder Drogenkonsum, jene Situationen, aus denen heraus die Begehung von Straftaten selbst dann möglich wird, wenn sie nicht den Grundhaltungen des Täters entsprechen. Die Straftaten selbst stehen vielfach im Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach Status und Anerkennung in der Gruppe, wobei gerade die Gruppendynamik zu den Straftaten, oftmals schweren, führt, weil ein Wort das andere gibt, man sich gegenseitig beweisen und überbieten muss, so dass Delikte geschehen, zu denen der Einzelne für sic betrachtet niemals fähig gewesen wäre. Gleichwohl ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es bei dem einmaligen Delikt bleibt oder dass sich selbst mehrfache Delinquenz als eine episodenhafte Erscheinung darstellt. 

Anders verhält es sich bei der kontinuierlichen Hinentwicklung zur Kriminalität mit Beginn in der frühen Jugendzeit.22 Hier sind teils schon in der Kindheit Grundstrukturen des Verhaltens zu erkennen, wie sie bei Dauerkriminellen vorliegen Im Gegensatz zur vorher beschriebenen Verlaufsform sind hier alle Lebensbereiche von diesen Auffälligkeiten betroffen. Dies lässt sich oft schon im Kindesalter, auf jeden Fall aber im Jugendalter recht klar erkennen. Im Bereich der Herkunftsfamilie zeigt sich zum Beispiel schon in jungen Jahren das Bestreben sich aktiv jeglicher familiärer Kontrolle zu entziehen bzw. das Fehlen einer Kontrolle in jeder Hinsicht auszunutzen. Im Aufenthaltsbereich kommt es immer wieder zu längeren Zeiten des Herumstreunens und des Unterschlupfes bei irgendwelchen Bekannten, das Elternhaus wird frühzeitig verlassen, ohne dass es gelingt, eine eigene beständige Wohnsituation aufzubauen. Entscheidend sind jedoch die komplementären Entwicklungen im Leistungs- und Freizeitbereich. Es beginnt oft schon im Vorschulalter oder Schulalter mit Leistungsversagen und aggressivem Verhalten gegenüber Erziehern, Erzieherinnen, Lehrern und Lehrerinnen oder gegenüber Gleichaltrigen in der Gruppe bzw. Klasse. Es kommt zu hartnäckigem Schwänzen, das in der Regel zu plan- und ziellosem Herumstreunen genutzt und häufig durch raffinierte  Lügen und Täuschungsmanöver gedeckt wird. Während der Berufsausbildung oder der Berufstätigkeit wird die Tendenz, sich allen Leistungs- und Ordnungsanforderungen zu entziehen, dadurch verstärkt, dass die Freizeit nicht nur auf Kosten des Schlafes, sondern zunehmend zu Lasten des Leistungsbereiches ausgedehnt wird. Blaumachen, nachlassende Arbeitsleistung, häufiger Stellenwechsel und berufliche Untätigkeit führen dazu, dass viel freie Zeit zur Verfügung steht, die entsprechend unstrukturiert, häufig mit kostspieligen milieu- oder szeneorientierten Aktivitäten verbracht wird und zusätzlich Kosten mit sich bringt. Es kommt zu einer verhängnisvollen Zuspitzung der Situation; alles drängt förmlich darauf hin, dass die für diesen Lebensstil notwendigen, aber mangels Berufstätigkeit nicht vorhandenen Mittel durch ein Delikt beschafft werden. Kennzeichnend für diese Verlaufsform ist, dass sich die Notwendigkeit der Delinquenz aus dem Lebensstil und dem aktuellen Lebenszuschnitt folgerichtig und zwangsläufig ergibt. Ähnlich zwangsläufige Entwicklungen lassen sich auch für andere Deliktsarten, zum Beispiel Gewaltdelikte, beschreiben.23 Durch diese enge Verquickung von Lebensstil und Delinquenz ist der Rückfall vorprogrammiert. Für ein strafrechtlich unauffälliges Leben bedürfte es einer Veränderung des gesamten Lebenszuschnittes und der eingeschliffenen Verhaltensmuster, was den Betreffenden extrem schwer fällt, umso schwerer, je länger sie diesen Lebensstil schon gepflegt haben. Hinzu kommt, dass oftmals jeglicher "Leidensdruck" für eine Veränderung fehlt, weil dieser Lebenszuschnitt als interessant und angenehm empfunden wird und die Aufdeckung der Straftat als "Unfall" angesehen wird, den es künftig zu vermeiden gilt. 

 

Tabelle 2: Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen der Deutschen (Bundesrepublik Deutschland).

  1988  1993  1998  2001
Kinder(ab 8 Jahre)  1.085  1.325  2.417  2.292
Jugendliche  3.478  5.163  7.288  7.416
Heranwachsende  4.094  5.299  7.271  7.440
Jungerwachsene  3.456  3.696  5.118  5.48
Erwachsene  1.784  1.765  1.986  1.98
Insgesamt  1.948  1.998  2.449  2.461

          Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik (Bund) 2001, S. 99 

 

Syndrome als erste Warnhinweise 

Bei den genannten Vergleichsuntersuchungen konnten auf der Basis der Beschreibung dieser unterschiedlichen Verhaltensstrukturen statistisch trennkräftige Syndrome zur Früherkennung einer kriminellen Gefährdung im Sinne einer sich verfestigenden Delinquenz herausgearbeitet werden. Sie sind als Syndrome im Sinne des gemeinsamen und gleichzeitigen Auftretens der einzelnen Kriterien nahezu spezifisch für Lebensentwicklungen, die in wiederholte Straffälligkeit münden. Sie können, insbesondere vor dem Hintergrund der Begehung einer Straftat, auch ohne eine eingehende Diagnose im oben beschriebenen Sinne als erste Warnhinweise für eine hohe kriminelle Gefährdung gesehen werden und sind auch für den Außenstehenden relativ leicht zu erkennen, da sie ganz auf äußerliche Verhaltensauffälligkeiten abstellen. Es handelt sich um folgende Syndrome:24 

  • Syndrom familiärer Belastungen (langjährige Unterkunft in unzureichenden Wohnverhältnissen und/oder längere Zeit selbstverschuldet von öffentlicher Unterstützung gelebt, soziale und/oder strafrechtliche Auffälligkeit einer Erziehungsperson; Proband steht nicht unter ausreichender Kontrolle oder entzieht sich der Kontrolle); 

  • Socioscolares Syndrom (hartnäckiges, wiederholtes, wochenlanges Schwänzen, Fälschungen von Entschuldigungsschreiben und sonstige Täuschungen zur Vertuschung, Herumstreunen während und außerhalb der Schulzeit, kleinere deliktische Handlungen in Form von mutwilligen Sachbeschädigungen, Bedrohungen von und aggressiven Handlungen gegenüber Gleichaltrigen, Manipulationen an Zigaretten- oder Spielautomaten usw.); 

  • Leistungs-Syndrom (rascher Arbeitsplatzwechsel, Unregelmäßigkeit der Berufstätigkeit durch nicht nahtlose Übergänge der einzelnen Arbeitsstellen und Zeiten selbst verschuldeter beruflicher Untätigkeit sowie schlechtes bzw. wechselhaftes Arbeitsverhalten); 

  • Freizeit-Syndrom (ständige Ausweitung der Freizeit zu Lasten des Leistungsbereiches sowie überwiegend Freizeittätigkeiten mit völlig offenen Abläufen); 

  • Kontakt-Syndrom (Vorherrschen von losen Kontakten oder Milieukontakten, frühes Alter beim ersten Geschlechtsverkehr und häufiger Wechsel der Sexualpartnerinnen). 

 

Deutliche Zunahme der amtlich registrierten Jugendkriminalität 

Jenseits des "gesicherten Alltagswissens" der jeweiligen Generation der Eltern und Großeltern, dass die nachfolgende Generation der Kinder immer schlechte wird und vor allem viel schlechte  ist als man selbst in diesem Alter war  muss zur Kenntnis genommen werden, dass zumindest die amtlich registrierte Jugendkriminalität sowohl langfristig  als auch mit Blick auf das letzte Jahrzehnte deutlich zugenommen hat. Nach  einer Phase der Stagnation bis Mitte  der 80er-Jahre des letzten Jahrhundert  sind die Tatverdächtigenbelastungszahlen  junger Menschen Ende der 80er-, Anfang  der 90er-Jahre, insbesondere aber zwischen 1993 und 1998 erheblich gestiegen und haben sich zwischenzeitlich auf hohem Niveau eingependelt. Tabelle 2 zeigt die Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen anhand von ausgewählten Jahren. Es wird deutlich, dass die Belastung bei allen jungen Menschen deutlich zugenommen hat, besonders ausgeprägt bei den Kindern und Jugendlichen. 

 

Uneinigkeit über die Ursachen der ansteigenden (Jugend-) Kriminalität 

Über die Ursachen dieses Phänomens besteht Uneinigkeit. Eine Erklärung für die Zunahme könnte die Veränderung der Kontrollstruktur sein, so dass sich ohne Veränderung des Gesamtaufkommens der von jungen Menschen begangenen Straftaten im Laufe der Jahre lediglich eine Verschiebung aus bislang im Dunkelfeld verbliebenen Delikten ins Hellfeld ergeben hätte. Dies könnte auf einer Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen  beruhen. Die These wäre also: Es gibt keine Zunahme der Straftaten, es wird im Vergleich zu früher nu  schneller und vermehrt angezeigt.  

Ein Grund hierfür könnte sein, dass die durch die Verschärfung des Leistungs- und Konsumdenkens verstärkte Berufsorientierung  der Eltern oder allein erziehende  Elternteile oder die mit der Verstädterung einhergehende Anonymisierung des sozialen Nahbereiches zu einem Rückgang der informellen sozialen Kontrolle und Sanktionierung und z  einer Erhöhung der Anzeigebereitschaf  durch Dritte führte. Ähnliches könnte für  die Schule, Ausbilder und andere Instanzen  der sozialen Kontrolle gelten. Ein weiterer Grund könnte sein, dass das Wahrnehmungs- und Registrierungsrisiko zugenommen hat. Durch die Thematisierung des Phänomens Jugendkriminalität, etwa in Form der "zunehmenden Jugendgewalt", ist die Wahrnehmungsbereitschaft und damit einhergehend die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung gestiegen. Zudem verstärkte die Polizei auf Grund entsprechender kriminalpolitischer Vorgaben ihre Kapazitäten und Kontrollstrategien in diesem Bereich (etwa durch Schwerpunktmaßnahmen oder proaktive Strategien im Bereich Straßen- bzw. Rauschgiftkriminalität) mit der Folg  eines höheren Fallaufkommens. Auch eine Zunahme der privaten und öffentlichen Überwachungsmaßnahmen (Videoüberwachung in Kaufhäusern und auf öffentlichen Plätzen, elektronische Warensicherung  verstärkter Einsatz von Detektiven) könnte zu einer vermehrten Registrierung beitragen. 

Eine andere Erklärungsrichtung geht davon aus, dass die Straftaten junger Menschen tatsächlich zugenommen haben, dass sie also tatsächlich mehr Straftaten begehen als früher. Dafür werden zahlreiche Überlegungen ins Feld geführt und Gründe aufgezeigt, die eine erhöhte Delinquenzbereitschaft bewirken sollen. Aus entwicklungspsychologischer bzw. -biologischer Sicht wird vor dem Hintergrund  einer psychosozialen Akzeleration auf vermehrte Reibungsverluste mit der Elterngeneration oder auf eine Verschärfung des Spannungsverhältnisses im Hinblick auf den unveränderten gesellschaftlichen Status verwiesen. 

Aus sozialpsychologischer Sicht werde  der Wertewandel und die "offene" Gesellschaf  thematisiert, die gerade bei junge  Menschen die Orientierungslosigkeit  förderten, mit der Folge der Betonung  eines falsch verstandenen, von Egozentrik  und Rücksichtslosigkeit geprägten "Individualismus"  Gleichzeitig wird auf de  Rückgang der Erziehungsbereitschaft und der Erziehungsfähigkeit sowie auf die mangelnde Vorbildfunktion der (verunsicherten und mit sich selbst beschäftigten) Eltern, aber auch der Lehrer und Ausbilde  verwiesen.  

Eine "offene" Gesellschaft fördere auch  die Bildung radikaler Subkulturen, mit  der Folge eines zusätzlichen Kriminalitätspotenzials. 

Auch der Medieneinfluss wird als Begründung herangezogen. Es wird zum einen postuliert, die qualitativ veränderte Gewaltdarstellung in den Medien führe gerade bei den jungen Konsumenten zu einer allgemeinen "Verrohung" in Form einer Habitualisierung an Gewalt, möglicherweise komme es sogar zur Stimulation von Gewalttätigkeiten. Zum anderen wird der Medieneinfluss für eine verstärkte Konsumorientierung verantwortlich  gemacht, die bewirke, dass die Selbstdefinition nur noch über Statussymbole und Konsumartikel erfolge, wobei nicht nur, aber gerade auch hier die Schnelllebigkeit den immer größeren "Kick" erfordere. Die Freizeitgestaltung sei zunehmend unverbindlicher geworden (beliebige Austauschbarkeit der Freizeitaktivitäten, immer etwas Neues, keine anhaltende Verantwortungsübernahmen  kein Wir-Gefühl, keine Einbindung i  Strukturen), mit der Folge, dass es de  jungen Menschen in der Freizeit an Halt (und Kontrolle) fehle. 

In sozialstruktureller Hinsicht wird auf die verstärkte Diskrepanz zwischen den finanziellen Möglichkeiten und den verringerten Zugangschancen auf gesellschaftlich  Teilhabe (Neue Armut, Jugendarbeitslosigkeit  fehlende Ausbildungsplätze, fehlend  Perspektiven) einerseits und den zunehmenden materiellen Bedürfnissen (Konsumartikel, kostspielige Trendsportarten) andererseits verwiesen. Der erhöhte Leistungsdruck führe auch vermehrt zu "Ausfällen" nicht ganz so leistungsfähige  junger Menschen mit der Folge einer Marginalisierung  mit spezifischem Gefährdungspotenzial. Zu nennen wäre auch die zunehmende Urbanisierung, häufig verbunden  mit Gettoisierung bestimmter Subpopulationen, die delinquente Subkulturen und Bandenbildung fördern könne.

Eine andere Sichtweise stellt auf die Vergrößerung  der Gelegenheitsstrukturen ab: Die Anonymisierung der Einkaufssituation und der Rückgang personeller mittelbarer Kontrollstrategien reduzierten ein potenzielles Schamgefühl ebenso wie das Entdeckungsrisiko (Gleiches gelt  zum Beispiel für die Situation Busschaffner versus Fahrkartenautomat usw.) bei gleichzeitiger psychologisch untermauerter Warenpräsentation zur Aktivierung des Greifimpulses. Die Vergrößerung des Warenangebotes (hochwertige Konsumartikel  aber auch illegale Drogen) böten den heutigen jungen Menschen sehr viel mehr Möglichkeiten und Anreize zur Straftatbegehung im Vergleich zu früheren Generationen. Zu bedenken sei auch die zusätzliche Vergrößerung der Gelegenheitsstruktur bei gleichzeitiger Verminderung des Entdeckungsrisikos durch die höhere Mobilität junger Menschen, insbesondere auch durch die großräumigen Verbundsysteme des öffentlichen Personennahverkehrs. 

Es finden sich auch Überlegungen, die  den derzeit üblichen Formen einer Reaktion  auf Straftaten junger Menschen eine  Abschreckungswirkung staatlicher Sanktionen  auf potenzielle Tätern absprechen und darin eine Erhöhung der Gefährdung sehen.

Unabhängig von den oben ausgewiesenen Tatverdächtigenbelastungszahlen könnte die Zunahme der Jugendkriminalität zum Teil auch auf eine Erhöhung des Potenzials und des Gesamtaufkommens von jungen Menschen, insbesondere Männern, zurückzuführen sein, bei denen zu den oben  angesprochenen generellen, die Zeit überdauernde  Gründen weitere Belastungen  und Gefährdungslagen hinzukommen  die eine erhöhte Kriminalität mit sich bringen  Zu denken ist hier vor dem Hintergrund  des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Umbruchs an die jungen Menschen in den neuen Bundesländern (die in einzelnen Deliktsbereichen deutlich  höhere Tatverdächtigenbelastungsziffer  aufweisen als ihre westdeutschen Altersgenossen) ebenso wie an junge Menschen mit einem (teilweise) anderen kulturellen Hintergrund, deutsche ("Spätaussiedler") wie nichtdeutsche ("deutsche Ausländer", "Asylbewerber"), bei denen sich manche der aufgeführten Aspekte besonders bemerkbar machen und möglicherweise tatsächlich für deren - verglichen mit jener der jungen Deutsche  noch höheren - Kriminalitätsbelastung  verantwortlich sind. 

Auch hier ist darauf hinzuweisen, dass viele der angeführten Aspekte durchaus plausibel erscheinen, dass es aber auch insoweit  so gut wie keine überzeugende  empirischen Nachweise für deren Auswirkungen  auf die Jugendkriminalität und damit für deren Kriminorelevanz gibt. Offensichtlich kommen die meisten jungen Menschen mit diesen Schwierigkeiten und Gefährdungen ganz gut zurecht, eventuell weil bei ihnen diesen gefährdenden Faktoren protektive Faktoren gegenüber stehen. Festzuhalten bleibt auch hier, dass sich trotz dieser zahlreichen "guten" Gründe für die vermehrte Begehung von Straftaten durch junge Menschen die weit überwiegende Mehrheit von ihnen, auch bei Berücksichtigung der Dunkelfeldbefunde und trotz Zunahme der registrierten Jugendkriminalität, nach wie vor in der weit überwiegenden Zeit ihres Lebens an Recht und Ordnung halten

 

Anmerkungen

1 Die beiden Begriffe werden üblicherweise synonym verwendet; während im polizeilichen Bereich eher der erstgenannte Begriff üblich ist, spricht man in den Sozialwissenschaften eher von "Delinquenz", insbesondere dann, wenn es um deliktische Handlungen von Kindern geht, die man nicht als "Kriminalität" bezeichnen will.

2 Bei "Straßenkriminalität" handelt es sich um einen polizeilichen Sammelbegriff von Straftaten, die im öffentlichen Raum begangen werden (z.B. Raubüberfall, Kfz-Diebstahl, überfallartige Vergewaltigung, Sachbeschädigung usw.), also nicht um "Verkehrskriminalität".

3 Die in der Polizeilichen Kriminalstatistik abgebildete Kriminalität spiegelt nur einen - vermutlich jedoch wesentlichen - Teil der amtlich bekannt gewordenen Straftaten wider. In der allgemein zugänglichen Polizeilichen Kriminalstatistik werden - mit Ausnahme einiger Straftatbestände - die der Polizei bekannt gewordenen und von ihr bearbeiteten Straftaten nach dem Strafgesetzbuch und dem Nebenstrafrecht üblicherweise jährlich zusammengefasst auf Länder- bzw. Bundesebene dargestellt. Nicht enthalten sind Ordnungswidrigkeiten, Staatsschutz- und (einige) Verkehrsdelikte ebenso wie die von anderen Strafverfolgungs- bzw. Verwaltungsbehörden ohne Einschaltung der Polizei verfolgten Sachverhalte, beispielsweise Verstöße gegen die Abgabenordnung, Zollvergehen usw. 

4 Die nachfolgenden Zahlen entstammen alle der PKS (Bund) 2001; vgl. Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland. Berichtsjahr 2001. Wiesbaden 2002 

5 Im Folgenden wird daher die männliche Form verwendet. 

6 Tatverdächtigenbelastungszahl = Zahl der von der Polizei ermittelten Tatverdächtigen (über 8 Jahre) der jeweiligen Altersgruppe bezogen auf 100.000 Einwohner (über 8 Jahre) der selben Altersgruppe. 

7 Die PKS des Bundes weist wegen statistikimmanenter Verzerrungsfaktoren entsprechende Tatverdächtigenbelastungszahlen für Nichtdeutsche nicht aus.

8 Der Begriff ist an sich falsch, hat sich aber eingebürgert: Es geht um mit sozialwissenschaftlicher Methodik durchgeführte kriminologische Erhebungen, meist in Form der Befragung von Stichproben von Personen, die für die Gesamtbevölkerung oder Teilgruppen davon repräsentativ sind, mit dem Ziel, die tatsächlich begangenen Straftaten in Erfahrung zu bringen, unabhängig davon, ob sie amtlich wahrgenommen und registriert wurden (Hellfeld) oder tatsächlich im "Dunkelfeld" verblieben sind

9 Kerner, H.-J.: Jugendkriminalität zwischen Massenerscheinung und krimineller Karriere - eine Problemskizze anhand neuerer statistischer Ergebnisse. In: Nickolai, W./Reindl, R. (Hrsg.): Sozialarbeit und Kriminalpolitik. Freiburg 1993, S. 28 ff., S. 29 

10 Ob sich diese "Ubiquität" auf das Kindes- und Jugendalter beschränkt, darf mit guten Gründen (sei es aus methodischer Sicht mit Blick auf die bisher hauptsächlich
befragten Bevölkerungsgruppen, sei es mit Blick auf die "Sichtbarkeit" unterschiedlicher Arten von Delikten in den verschiedenen Altersgruppen: jugendliche Körperverletzung einerseits, Steuerhinterziehung andererseits!) durchaus bezweifelt werden. Eingehend dazu: Bock, M., in: Göppinger, H.: Kriminologie. München, 5. Aufl. 1997, S. 509 ff., S. 511. 

11 Vgl. im Einzelnen PKS 2001(a.a.O.), S. 88 f. 

12 Lisbach, B./Spieß, G.: Viktimisierungserfahrungen, Kriminalitätsfurcht und Bewertung der Arbeit der Polizei. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativbefragung. In: Dölling, D./Feltes, T. u.a. (Hrsg.): Kommunale Kriminalprävention - Analysen und Perspektiven. Holzkirchen 2001

13 Vgl. allgemein dazu die Lehrbücher der Kriminologie; z.B. Göppinger, a.a.O., S. 511

14 Hurrelmann, K./Engel; U.: Delinquency as a symptom…; zitiert nach Bundesministerium des Innern, Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) : Erster Periodischer Sicherheitsbericht. Berlin 2001, S. 475 (PSB)

15 Vgl. BMI/BMJ: PSB, a.a.O. S, 478 

16 "diversion" (engl.): Umleitung, Ablenkung; gemeint ist die Verhinderung eines förmlichen Strafverfahrens und einer förmlichen Sanktionierung, einerseits um Stigmatisierungseffekte zu vermeiden, andererseits aber auch aus Gründen der Prozessökonomie im Sinne einer schnellen Erledigung des Verfahrens

17 Vgl. mit weiteren Nachweisen: Heinz, W.: Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 - 1998. 
<www.uni.konstanz. de/rtf/kis/-sanks98.htm>18 Zum Abbruch langjähriger krimineller Karrieren vgl. Mischkowitz, R.: Kriminelle Karrieren und ihr Abbruch. Empirische Ergebnisse einer kriminologischen Langzeituntersuchung als Beitrag zur "Age-Crime-Debate".

18 Bonn 1993; Stelly, W./Thomas, J.: Einmal Verbrecher -immer Verbrecher? Wiesbaden 2001

19 Vgl. Göppinger, H.: a.a.O. S. 390 f.

20 Vgl. grundsätzlich dazu: Göppinger, H.: a.a.O.,

S. 328 ff.

21 Göppinger, H.: a.a.O. S. 424 ff.

22 Göppinger, H.: a.a.O., S. 419 ff.

23 Göppinger, H.: a.a.O. S. 429 ff. 

24 Göppinger, H.: a.a.O., S. 456 ff.

 

 

 


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