Zeitschrift 

Die Osterweiterung der EU


 

Heft 1/ 2004

Hrsg: LpB

 



 

Inhaltsverzeichnis

Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts

Helmut Schmidt

Die Selbstbehauptung Europas - Perspektiven für das 21. Jahrhundert

Ullstein-Verlag,  aktualisierte Taschenbuchausgabe, München 2003 249 Seiten, 9,95 Euro

 

Bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnet sich ab, dass Europa angesichts weltweit veränderter Rahmenbedingungen vor gewaltigen Herausforderungen steht. Altbundeskanzler und ZEIT-Mitherausgeber Helmut Schmidt gibt einen Überblick über die anstehenden Herausforderungen, vermittelt Lösungsansätze und bietet einen Ausblick auf die weitere Entwicklung. Sein Buch ist klar gegliedert, auch dem politischen Laien verständlich und in einem durch die pragmatische Sichtweise des Autors geprägten Stil verfasst. Schmidts zentrale Aussage ist die Feststellung, dass sich keiner der europäischen Staaten allein gegen künftige globale Gefahren und Bedrohungen behaupten kann, woraus er das Erfordernis eines strategischen Prinzips der Selbstbehauptung durch Gemeinsamkeit ableitet. Der "engagierte Anhänger der europäischen Integration aus strategischem und patriotischem Interesse" sieht den Erfolg der Europäischen Union (EU) derzeit keinesfalls als gesichert an, während ein Scheitern des europäischen Einigungsprozesses die europäischen Staaten zu Randfiguren der Weltpolitik werden ließe. Schmidt stellt klar, dass der im vitalen Interesse Europas liegende Erfolg der Europäischen Union voraussetzt, dass nicht nur das Handeln der Regierenden, sondern auch der Bürger und Wähler sowie der Medien sehr bewusst durch das Prinzip der Selbstbehauptung durch Gemeinsamkeit bestimmt werde. 

Im ersten Abschnitt "Neuartige Weltprobleme" stellt Schmidt die Frage nach den künftigen Weltmächten. Eine derartige Rolle schließt er für Deutschland als undenkbar aus und sieht die USA als derzeitig einzige Supermacht. 

Das bereits heute in ganz Asien als Weltmacht respektierte China werde dieser Rolle durch ein Anwachsen seiner wirtschaftlichen Bedeutung zunehmend gerecht. Russland stelle vor allem wegen seines riesigen Territoriums und seiner enormen Bodenschätze eine beeindruckende Weltmacht dar. Das Aufsteigen Indiens, inzwischen Inhaber nuklearer Raketen, zur Weltmacht werde von einer Dämpfung des Bevölkerungswachstums und durchgreifenden Verbesserung seines Bildungs- und Ausbildungswesens abhängen. Für denkbar hält Schmidt die Entwicklung Brasiliens zur Weltmacht, während er dies für Japan aufgrund der andauernden politischen Selbstisolierung trotz der erstklassigen Wirtschaftsleistung für zweifelhaft hält. 

Er prognostiziert aufgrund des Bevölkerungswachstums in den Entwicklungsländern und religiös und ethnisch motivierten Auseinandersetzungen eine Häufung inner- und zwischenstaatlicher Kriege und als Folge steigende Zahlen von Vertriebenen und Flüchtlingen. Durch ein Eintreten des so genannten Treibhauseffektes sei eine Verstärkung des auf Europa gerichteten Wanderungsdruckes zu befürchten. Bei innerstaatlichen Kriegen stelle sich die Frage nach der völkerrechtlichen und moralischen Berechtigung militärischer Interventionen von außen, und in der Begrenzung von Rüstung und Rüstungsexporten sieht Schmidt eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Im Hinblick auf den internationalen Terrorismus und religiös begründete Auseinandersetzungen warnt Schmidt, dass die Vermeidung eines globalen "Clash of Civilizations" im eigenen Interesse Europas und Amerikas liege. Der Westen insgesamt müsse sich hüten, den Völkern anderer Kulturen seine nicht der Religion, sondern der philosophischen Aufklärung der Neuzeit entstammenden Grundprinzipien der Demokratie und Menschenrechte zu oktroyieren. 

Durch die Globalisierung werde sich der Wettbewerbsdruck auf die alten Industrieländer und vor allem ihre Arbeitnehmer weiter verstärken. Die globalen technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die einen deutlichen Vorsprung Amerikas vor Europa erkennen ließen, forderten den Europäern höhere Leistungen ab, um innerhalb der nächsten Jahrzehnte ein Absinken in das Mittelmaß und damit dauerhafte Massenarbeitslosigkeit und Absenkung unseres Lebensstandards zu vermeiden. In der Globalisierung der Finanzmärkte sieht der Autor angesichts des Fehlens einer globalen Wettbewerbsordnung, eines globalen Kartellrechts und einer weltweit fehlenden Bankenaufsicht eine Gefährdung der politischen und ökonomischen Selbstbestimmung der Nationalstaaten. 

Nachdrücklich warnt Schmidt die Europäer davor, sich zur Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts der Führung der USA zu überlassen: Die gegenwärtige Dominanz der USA auf politischem, ökonomischem und militärischen Gebiet berge die Gefahr in sich, dass diese Europa vornehmlich im nationalen amerikanischen Interesse liegende Lösungen aufzunötigen trachte. Hinzu komme eine durch Abstinenz oder gar Ignoranz geprägte amerikanische Außenpolitik, während sich andererseits ein auf die Vorstellung der Kontrolle des eurasischen Kontinents gerichtetes virulentes Sendungsbewusstsein ausbreite. In der durch die Massenmedien - vor allem das Fernsehen - verbreiteten Pseudokultur der amerikanischen Unterhaltungsindustrie sieht Schmidt die Gefahr der Überdeckung der kulturellen Traditionen Europas und warnt vor der massenpsychologischen Beeinflussung einer Fernseh-Demokratie.

Im Abschnitt "Herausforderungen Europas" beurteilt Schmidt die EU mangels der Durchführung erforderlicher Strukturreformen derzeit als allenfalls notdürftig funktionsfähig. Er fordert eine Ausweitung des Mehrheitsprinzips anstelle des Einstimmigkeitsprinzips im Rat, die Neuordnung der Stimmgewichte unter Berücksichtigung der künftigen Beitritte, eine Reduzierung der Zahl der Kommissionsmitglieder sowie eine wesentliche Stärkung des Europäischen Parlaments in Straßburg. Die vor diesen Reformschritten in den Konferenzen in Amsterdam (1997) und Nizza (2001) ergangene Einladung an zwölf weitere europäische Staaten zum Beitritt sieht er als übereilt an. Eine EU-Verfassung hält Schmidt für verfrüht, da weder eine gemeinsame Regierung existiere noch eine eindeutige Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den Staaten und der Union möglich sei. Bei der EU handele es sich weder um einen Bundesstaat, noch um einen klassischen Staatenbund. Vielmehr stelle die EU ein historisches Unikat dar, das im Begriff sei, seine Aufgaben zu verändern und zu erweitern. Schmidt warnt vor einer Aushöhlung der Nationalstaaten durch übersteigerten Zentralismus und fehlende Beachtung des Subsidiaritätsprinzips. Insbesondere die Sicherung des Wohlfahrtsstaates habe wegen der unterschiedlichen Entstehungsgeschichte der nationalen sozialen Sicherungssysteme in der Zuständigkeit der Nationalstaaten zu verbleiben. Dem hingegen fordert Schmidt eine funktionstüchtige Außen-, Sicherheits- und Zuwanderungspolitik. 

Den in der Europaliteratur vertretenen Ansätzen zur Geometrie der EU stellt er seine eigene Prognose entgegen: Danach werde sich unvermeidlich ein innerer Kern der Union - vermutlich bestehend aus den sechs Gründerstaaten der Montanunion - herausbilden, während alle bisherigen und künftigen Mitglieder ohne Änderung des EU-Vertrages ihre Rechte und Pflichten ungeschmälert wahrnehmen könnten. Um die EU herum könne sich ein Ring assoziierter Staaten (vornehmlich aus Beitrittskandidaten, welche die Beitrittskriterien nicht erfüllen) bilden. Unter Schilderung der Entstehungsgeschichte der EU und dem Hinweis, dass die neu beitretenden Staaten den bisherigen Regelungsbestand der EU übernehmen müssen, macht Schmidt deutlich, dass auch die weitere Entwicklung Zeit und Geduld erfordern werde. Letzteres gelte insbesondere für den Eintritt und die Anpassung der Beitrittsländer, die jahrzehntelang unter kommunistischer Herrschaft gestanden haben. Ein Kapitel widmet Schmidt den zwölf Beitrittskandidaten. Auf der künftigen Agenda der EU sieht Schmidt neben den strukturellen Reformen und den Beitrittsverhandlungen mit den zwölf Beitrittskandidaten vor allem die Erarbeitung und Einübung einer gemeinsamen Außenpolitik. Im Verhältnis zu den USA sieht er Europa vor der schwierigen Lage, die Verteidigungs- und sonstigen Interessen miteinander zu vereinbaren. Einerseits brauchen die Europäer das Verteidigungsbündnis und die Zusammenarbeit mit den USA. Andererseits müsse eine politische, geistige und ökonomische Abhängigkeit vermieden werden, da die Rolle der USA als Weltpolizei, verbunden eventuell mit einer Hilfspolizistenrolle für die Europäer, deren Interessen widerspreche.

Im Abschnitt "Die gemeinsame Substanz" legt Schmidt dar, dass die europäischen Staaten bereits seit langem über eine weitreichende gemeinsame Identität verfügen. Er verweist auf die Kultur im engeren Sinne sowie die politische Kultur. Der Autor fordert große Stiftungen, Fernsehanstalten oder Medienkonzerne auf, sich zusammenzutun, um diese gemeinsame Identität ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Während die heutigen 15 Mitgliedstaaten der EU von der gemeinsamen europäischen Kultur geprägt seien, treffe dies nicht auf alle Beitrittskandidaten zu. Unzweifelhaft sei die kulturelle Zugehörigkeit von Polen, Ungarn und Tschechien sowie der baltischen Republiken und Sloweniens. Zweifel an ihrer kulturellen Zugehörigkeit sieht er bei den Beitrittskandidaten Rumänien, Bulgarien, Slowakei und Malta, die sich nur begrenzt in das kulturelle Kontinuum Europas integriert hätten. Russland, Ukraine und Belarus (Weißrussland) seien trotz der Aufnahme kultureller Impulse aus dem Westen und eigener Beiträge zur gesamteuropäischen Kultur als eigener Kulturkreis anzusehen. Aus geopolitischen Gründen und wegen erheblicher kultureller Unterschiede sei davon abzusehen, einzelne Nationen des russischen Kulturkreises oder gar Russland selbst zum Beitritt einzuladen. Dem hingegen fordert Schmidt eine klare und positive Russlandpolitik. Dass die Türkei außerhalb des europäischen Kulturkreises anzusiedeln ist, steht für Schmidt außerhalb jeden vernünftigen Zweifels. Erklärungen über eine Beitrittskandidatur der Türkei, die Schmidt als in Wahrheit unredlich beurteilt, erklärt er in Hinblick auf geopolitische Erwägungen, demografische Prognosen und vor allem die große kulturelle Verschiedenheit eine klare Absage. Allerdings brauche die EU eine positive und eindeutige Politik auch gegenüber der Türkei, die auch der Entwicklung und dem Selbstbewusstsein dieses Landes hilfreich sei. 

In zwanzig Thesen fasst Schmidt Inhalt und Intention des Buches zusammen, das er mit einer persönlichen Erklärung abschließt. Hier bekräftigt Schmidt seine Auffassung der im nationalen Interesse des Landes zwingend erforderlichen europäischen Einbindung Deutschlands und der Bedeutung des Konsenses zwischen Deutschland und Frankreich in den Grundfragen der europäischen Politik als unerlässliche Voraussetzung für die Selbstbehauptung Europas im 21. Jahrhundert.

Dorothee Kallenberg-Laade


Totalitarismus in Deutschland

Hans Wilhelm Vahlefeld:

Deutschlands totalitäre Tradition. Nationalsozialimus und SED-Sozialismus als politische Religionen 

Klett-Cotta, Stuttgart 2002 285 Seiten, 20 Euro

 

Mit diesem Buch legt der Autor - Jahrgang 1928, langjähriger ARD-Korrespondent, später Redakteur bei der Tageszeitung "Die Welt" und beim NDR-Fernsehen - sein Lebenswerk vor. Sein Thema ist die verhängnisvolle Neigung der Deutschen, auf der Grundlage eines pseudoreligiösen Fundamentalismus eine Erziehungsdiktatur zu errichten, um einen neuen Menschen zu züchten. Dabei sieht er einen Entwicklungsstrang, der von Karl Marx zu Moskau als dem "neuen Jerusalem" führt, mit Hitler seine brutalste Ausformung erhielt, im Sozialismus der DDR eine ideologisch davon gar nicht so weit entfernte Fortsetzung hatte und schließlich in der bisher letzten Kulmination der Achtundsechziger ein vorläufiges (?) Ende fand.

Das einleitende Kapitel trägt die in Anführungsstriche gesetzte Überschrift "Gott ist tot", in dem er die schon von Carlo Schmid vertretene These variiert, dass der Marxismus weniger eine Wissenschaft, denn ein Glaube, eine Eschatologie, eine Verheißungslehre ist. Marx wollte in die Geschichte als Wissenschaftler eingehen, aber der Nachwelt blieb ein fast "alttestamentarischer Prophet", denn, so Vahlefeld, wer so wie Marx formuliert: "Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen", der zieht "den Talar des Philosophen aus und den Kampfanzug des Ideologen" an.

Das Buch ist mit einer Vielzahl von Quellen reich belegt, ohne erfreulicher Weise den wissenschaftlichen Ballast der Fußnoten mitzuschleppen. Der Autor zitiert viel und zu vieles wörtlich, wie dem Rezensenten erscheint, als ob Vahlefeld seiner eigenen Formulierungsgabe misstrauen müsste. Dabei gelingen ihm kraftvolle Wendungen, plastische Wortkreationen und prägnante Beschreibungen, die schon ob ihrer lakonischen Kürze beeindrucken. Wenn er zum Beispiel fragt, was dieses nebulöse Gebilde "Zeitgeist" eigentlich ist. Und die Antwort gibt: Ein Monopol derjenigen, die Schlagzeilen produzieren, Bücher schreiben, in Mikrophone reden und jeden Abend im Fernsehen talken.

Vor allem die auf Political Correctness Bedachten wird es stören, dass Vahlefeld die marxistischen Sozialisten mit den Nationalsozialisten nicht nur vergleicht, denn ein Vergleich ist immer zulässig, denn er bedeutet ja nicht gleichsetzen, sondern dabei erstaunliche Parallelen findet. Und er beruft sich nicht nur auf die papiernen Dokumenten aus der NS- und SED-Zeit, sondern garniert seine Erkenntnisse mit vielen persönlichen Erlebnissen aus seinem reichen Journalistenleben. Wenn etwa eine kommunistische Kommilitonin der Humboldt-Universität ihm erklärt, dass "Marxist sein heißt für mich Tag und Nacht Marxist sein", erinnert es ihn daran, dass er einstmals dasselbe über sich als Hitlerjunge gesagt hatte.

Und als Angehöriger dieser Jugend, die nach dem Willen Hitlers "hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie die Windhunde" sein sollte, die von den furchtbaren Verbrechen des "3. Reiches" nichts wusste, ja nicht einmal ahnte, schreibt er zurecht: Als Panzerfahrer Sturzkampfflieger, Flakhelfer, Rote-Kreuz-Schwestern konnte sich der Führer hundertprozentig auf sie verlassen, aber als KZ-Bewacher, die das Gas bedienten, schenkte er ihnen wenig Vertrauen, deshalb verschwieg er seiner Jugend die Wahrheit über Auschwitz. Ob es notwenig war, in diesem Zusammenhang dem Kommandanten von Auschwitz ein langes Kapitel zu widmen, mag dahingestellt bleiben.

Die FDJ war eine Staatsjugend wie die Hitlerjugend. Ihre Weihen, die Gelöbnisse sind fast austauschbar. Aber es gab einen entscheidenden Unterschied. Hitler hat nicht im Traum daran gedacht, seine "Weltanschauung", die nichts anderes als der "Wille des Führers" war, zur Wissenschaft zu erklären.

Die Schärfe seiner Kritik an dem DDR-Sozialismus und das Aufzeigen der historischen Parallelen zum Nationalsozialismus mindern nichts an seiner eindeutigen Verurteilung der Hitlertyrannei. Diese Parallelen sind allerdings viel intensiver und länger als auch heute noch gemeinhin angenommen wird. Beide Sozialismen zielten auf den Menschen, den wollten sie besitzen. Beide versuchten, ihn zu enteignen, seiner Persönlichkeit und Individualität zu berauben. In der Wirtschaft gab es Unterschiede, gewiss, denn - wie Hitler sagte - was haben wir es nötig, Banken und Fabriken zu sozialisieren. "Wir sozialisieren den Menschen". Und Ulbricht, so Vahlefeld, drückt es nur ein Jahrzehnt später in der verquasten SED-Funktionärssprache ähnlich aus: "In dem Wandlungsprozess, der vom isolierten Individuum zur sozialistischen Gemeinschaft führt, werden wir die Rückständigkeit überwinden, die uns der Kapitalismus hinterlassen hat."

Ausführlich wird die "Zucht und Züchtung des Neuen Menschen" in der DDR behandelt. 1958 erließ Walter Ulbricht die Zehn Gebote, genau zehn, nicht acht oder zwölf, womit er wohl nicht versehentlich an Moses anknüpfte; beginnen sie doch wie jene vom Berg Sinai mit "Du sollst...", und so soll der neue Mensch sich zum Beispiel "stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse" einsetzen und "sauber und anständig" leben. Schon Marx, so belegt das Buch, hatte den anderen Menschen vor Augen: "Wir wissen, dass die neuen Kräfte der Gesellschaft (...) nur einen neuen Menschen brauchen". 

Und 1968 begann der dritte Versuch, diesen zu züchten. Unter der Kapitelüberschrift "Wieder sehr deutsch - die 68er" geht der Verfasser mit dieser Bewegung gnadenlos ins Gericht - vielleicht auch etwas zu einseitig, denn ein paar neue Freiheiten durch Beseitigung von Tabus und Heucheleien wurden erfreulicher Weise geschaffen, und wenn es nur jene war, dass man - wie Joschka Fischer einstmals gegenüber Theo Waigel formulierte - mit seiner Freundin nicht mehr den Wald gehen muss. Aber die Gesamtbilanz fällt negativ aus, auch wenn die schlimmsten Folgen des studentischen Fundamentalismus nicht eingetreten sind, weil sie gescheitert sind an dem Stopp der Mehrheit der Namenlosen, wie der Autor meint. Die Studenten redeten und schrieben in einem Fachchinesisch, das kein Außenstehender mehr verstand. Sie propagierten Weltanschauungen aus der "kostenlos verschickten Devotionalienliteratur von Hos Vietnam, Maos China und Fidels Kuba". Es ging ihnen nicht um den real existierenden Sozialismus vor ihrer westdeutschen Haustür sondern um den "wahren" irgendwo in der Welt, vielleicht auch nur um den in ihren Hirnen.

Zum dritten Mal, so Vahlefeld, sollte der "Neue Mensch" auf deutschen Boden geschaffen werden, nach dem totalitären Dritten Reich, der totalitären DDR nunmehr in der freiheitlich-demokratischen Bundesrepublik, dessen Verfassung ein Walter Jens verächtlich als FDGO glaubte bezeichnen zu können. Die Achtundsechziger waren immer abstrakt. Sie fußten auf Hegel, Marx, Adorno, Horkheimer und Marcuse, kamen aus philosophischen Zirkeln, aber - und hier gelingt Vahlefeld wieder eine seiner brillanten Formulierungen - sie waren zum Beispiel vom Vietnamkrieg überhaupt nicht betroffen, wussten, dass sie nie in ihn geschickt werden würden. Aber weil er ihnen "so fern lag, wurde er ihnen so nah. An Vietnam entzündete sie ihre Fackel, aber weit über Vietnam sollte sie leuchten, der Welt, der ganzen Welt das Licht der Befreiung bringen. Sie dachten nicht nur an das vietnamesische Volk, sondern an die Menschheit und obendrein an den Sozialismus und den Neuen Menschen. Sie badeten in utopischem Nebeln, hoben ab in Geisterreiche höher als alle Vernunft und ahnten gar nicht, wie sehr sie sich in deutschen Traditionen bewegten."

Fast erschütternd schildert er das Schicksal des armen Theodor W. Adorno, der in seinen letzten Lebensmonaten fassungslos erleben musste, wie die ihn einst Vergötternden als barbusige Studentinnen provozierten, Blumen auf seinen kahlen Kopf warfen, ihn lächerlich machend abküssten, angefeuert von den Rufen "Nieder mit dem Denunzianten-Ordinarius", weil er bei dem Aufruhr in seinem Institut hilflos die "Bullen" ins Haus gerufen hatte. "Ich habe doch nur", so stammelte er, "ein kritisches Denkmodell" aufgebaut, "wie konnte ich ahnen, dass Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollen." In geradezu klassischer und tragischer Weise zugleich verkörperte Adorno den Typ des Intellektuellen, wie Max Weber ihn beschriebt, den Intellektuellen - frei von Verantwortung für sein Tun.

In einer Weise, die ein gerüttelt Maß an Zivilcourage offenbart, greift Vahlefeld auch die zu den Geistesgrößen zählenden Intellektuellen direkt an. So den schon zitierten Walter Jens, ferner Karl Jaspers, Heinrich Böll, Günter Grass, Redakteure aus der ZEIT und dem SPIEGEL und andere und macht auch vor dem Friedensnobelpreisträger des Deutschen Buchhandels von 1967, Ernst Bloch, nicht halt, den sogar das Feuilleton der FAZ feierte, dieser Bloch der in Stalins Sowjetunion "zum erstenmal Christus als Kaiser" gesehen hatte und Kants kategorischen Imperativ mit dem Revolver in der Hand hatte herbei schießen wollen.

Für Vahlefeld ist die deutsche Geschichte nach dem ersten Weltkrieg politische Religionsgeschichte. Erst nach Beginn einer glaubenslosen Zeit konnten die beiden politischen Religionen des Kommunismus und des Nationalsozialismus so gewaltige Wirkung entfalten. Und er warnt vor den Gutmenschen: Verführer, die uns die Politik zur Religion machen wollen, wird es immer geben. Dann aber darf die Antwort nur lauten - nie wieder!

Das Buch, wiewohl vor Beginn der Auseinandersetzung um den Irak-Krieg editiert, hat eine beklemmende Aktualität erhalten. Zieht sich doch durch das Werk wie ein Leitfaden, das Memento, nicht noch einmal einen so schrecklich typisch deutschen Sonderweg einzuschlagen. Und so geißelt Vahlefeld den Antiamerikanismus, der blind ist gegenüber den Gefahren der Diktatur.

Das Werk wird sicherlich Kritik ernten, in (nebensächlichen) Details wie etwa zur Behauptung, dass die NVA der DDR bei der Niederschlagung des Prager Frühlings mitgewirkt habe - was nicht stimmt. Und sicherlich kann man auch mehr Unterschiede zwischen dem NS-System und der DDR festmachen, als jene zwei, die mit den Stichworten Auschwitz und Krieg gekennzeichnet sind, obwohl zum letzteren der Autor einschränkend vermerkt, das darüber schließlich in Moskau und nicht in Ostberlin entschieden wurde. Aber der Leser (Leserin eingeschlossen) wird neue Parallelen zwischen den beiden deutschen totalitären Systemen entdecken und erkennen, dass die Neigung zum Fundamentalismus, wie er sich bei den Achtundsechzigern lautstark und gewaltbereit manifestierte, abermals zum "eigenen deutschen Weg" hätte führen können. Der lange Marsch nach Westen, den Adenauer begonnen und dem Vahlefeld ein fast liebevolles Kapitel widmet, wäre zu Ende gewesen - mit allen unabsehbaren Folgen.

Das Buch darf nicht in das Genre populärwissenschaftlicher Publikationen eingereiht werden. Dafür ist es zu sehr fundiert, was durch ein breit angelegtes Quellenverzeichnis und einem ausführlichen Personenregister dokumentiert wird. Aber es ist in einem selten gewordenen frischen Stil geschrieben, bei aller Ernsthaftigkeit der Thematik leicht verständlich, und auf keiner Seite verletzt der Verfasser das oberste Autorengebot: Ein Buch darf alles - nur nicht langweilen.

Peter Schade


Europa im Politikunterricht

Georg Weißeno (Hrsg.):

Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts

Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2004 376 Seiten, 2,50 Euro Bereitstellungsgebühr

 

Um es gleich vorweg zu sagen: Ein Buch zu diesem Thema war längst überfällig. Europa hat sich in den fast fünfzehn Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer und den Systemveränderungen in Mittelost- und Osteuropa so fundamental verändert, dass eine viel intensivere Reflexion über das Lehren und Lernen dieses komplexen Themenbereichs dringend erforderlich ist. In diesem Zeitraum wurden mit dem Maastrichter Vertrag die Weichen neu gestellt; es fand die Aufnahme von Finnland, Österreich und Schweden statt und in elf der fünfzehn Mitgliedsländern wurde eine gemeinsame Währung eingeführt. Dreizehn Staaten bewarben sich um die Aufnahme in die Europäische Union; zehn davon werden zum 1. Mai 2004 beitreten. Und ein Verfassungskonvent legte einen Vorschlag für eine Europäische Verfassung vor. Doch trotz all dieser Veränderungen ist das allgemeine Interesse an "Europa" gering. So stürzte etwa in Deutschland die Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament von 64 (1994) auf 48 Prozent (1999) ab. 

Blicken wir über die Europäische Union hinaus - die schließlich nur knapp ein Drittel aller europäischen Staaten umfasst -, so sind auch im "Nicht-EU-Gebiet" gravierende Veränderungen festzustellen. Der Fall des Eisernen Vorhangs und das Ende der Systemkonfrontation brachten weitreichende Folgen mit sich, darunter grausame Kriege, und führten zu tief greifenden Umwälzungen und Reformen in den betroffenen Ländern. Es entwickelten sich aber auch lebhafte Austauschbeziehungen, die völlig neue Verstehenshorizonte eröffnen. 

Kurz: Das Europa, das wir in den Achtzigerjahren zum Gegenstand unserer Lernprozesse machten, gibt es nicht mehr. Neue Perspektiven für das Lernen über diesen komplexen Gegenstand sind angesagt; eine neue Grundlegung der Inhalte und Methoden wird notwendig.

Die in dem von Georg Weißeno herausgegebenen Band versammelten Beiträge beleuchten das Thema "Europa verstehen lernen" aus unterschiedlichen Standpunkten. Der Herausgeber erhebt mit diesem Band den Anspruch, "einige grundsätzliche Fragen des europazentrierten Politikunterrichts zu klären" (S. 12), und zwar "einerseits durch Beispiele aus der Praxis und andererseits durch theoretische Reflexionen" (S. 13). 

Die beiden ersten Beiträge in "Teil I - Fachwissenschaft" bleiben allerdings hinter diesem Anspruch zurück. Alparslan Yenal und Wichard Woyke bieten überblicksartige Darstellungen der "Europäischen Integration" (Yenal) und der "Wahlen zum Europäischen Parlament" (Woyke), machen sich aber an keiner einzigen Stelle die Mühe, auf die eigentlichen Fragestellungen dieses Buches einzugehen, also Bezüge zum europapolitischen Lernprozess oder Relevanzkriterien für inhaltliche Auswahlprozesse aufzuzeigen. Es muss leider gesagt werden: "Fachwissenschaft" präsentiert sich hier einmal mehr durch die bloße Wiederholung von Grundlagenwissen über Institutionen und Politikprozesse, über die anderweitig längst genügend und leicht zugängliches Material vorliegt. Weißeno muss dieses Manko klar gewesen sein, da er in der Einleitung versucht, Woykes Beitrag eine methodisch-didaktische Zielsetzung zuzuschreiben, die tatsächlich darin in keiner einzigen Zeile eingelöst wird. 

Doch damit haben wir auch schon den wichtigsten Kritikpunkt angesprochen, der sich gegenüber diesem Band äußern lässt. Denn von den beiden erwähnten Beiträgen abgesehen, vermeidet der Band erfreulicherweise eine einseitige wissenschaftliche Fokussierung auf die üblichen "großen" Themenstellungen des Europawissens. Wenn man eine (zweifellos sinnvolle) Hilfestellung für inhaltliche Auswahlprozesse der Lehrenden aus fachwissenschaftlicher Sicht in Form von problemorientierten Überblicken zu "Europa" anbieten wollte, sollte man angesichts der großen Bandbreite relevanter Themen einen eigenen Band planen. Dieses Buch hingegen arbeitet einige der spannendsten Fragen heraus, die uns in Europa heute beschäftigen - nicht zuletzt vor dem Hintergrund der so genannten "Osterweiterung" und der Verfassungsdiskussion: die Frage nach der gemeinsamen europäischen Identität, nach der Rolle der Bürgerinnen und Bürger in diesem neuen Gebilde Europa, nach unseren Mitwirkungsmöglichkeiten, nach der Betroffenheit der Schülerinnen und Schüler. 

Es würde zu weit führen, an dieser Stelle auf die vielen Facetten einzugehen. Drei Anmerkungen seien jedoch gestattet. 

Die deutliche Grenzziehung des Buches, die Peter Massing in der Einleitung seines Beitrags über "Bürgerleitbilder" formuliert, ist hier besonders hervorzuheben. Zu Recht weist er darauf hin, dass es in seinem Beitrag - und eigentlich im ganzen Buch - um "eine europazentrierte Didaktik des Politikunterrichts und nicht der politischen Bildung" gehe (S. 145). 

Es ist richtig und gut, dass die Bereiche der  europaorientierten Erwachsenenbildung und außerschulischen Jugendarbeit in diesem Buch ignoriert werden. Denn diese Bereiche haben inzwischen eine Bedeutung und Dimension erlangt, die es gerechtfertigt erscheinen lässt, dazu eine eigenständige Publikation anzuregen. Aber gleichwohl ist es  eine Grenzziehung, die nicht allen Autorinnen und Autoren dieses Bandes klar zu sein scheint. 

Die zweite Anmerkung betrifft die Frage, ob sich der Themenbereich "Europa" nicht inzwischen als so relevant und umfassend erweist, dass die konzeptionelle politikdidaktische Diskussion neu stimuliert werden müsste. Der Band enthält hierzu interessante Ausführungen, etwa in Weißenos Beitrag über die "Konturen einer europazentrierten Politikdidaktik". Wenn Weißeno schreibt, dass eine solche Didaktik "kein umfassend neues Konzept" erfordere, sondern lediglich "Modifizierungen und Umakzentuierungen", so bin ich keineswegs sicher, dass diese Einschätzung selbst unter den Autoren des von ihm herausgegebenen Bandes mehrheitsfähig ist. Tatsache ist doch, dass sich der bisherige Umgang mit dem Thema sowohl in den Lehrplänen, im Politikunterricht als auch in den Schulbüchern weitgehend auf europäische Politikfelder und auf die europäischen Institutionen richtet und dass dabei auch eine Darstellung primär aus nationaler Perspektive dominiert. Schon die Forderungen, den Gegenstand sehr viel stärker auf handlungsorientierten Elementen zu gründen und eine "Europäische Dimension" als fächerübergreifendes Prinzip zu etablieren, gehen weit über "Umakzentuierungen" hinaus. Auch muss hier die Frage aufgeworfen werden, ob sich die Didaktiken der "europarelevanten" Fächer die - gemessen an der zunehmenden Bedeutung im neuen "Bildungsraum" Europa - gravierende Vernachlässigung des Themenbereichs im Unterricht weiter gefallen lassen können oder ob nicht endlich eine neue gemeinsame Initiative eingeleitet werden müsste, dem Thema zu größerem Gewicht zu verhelfen. Das jedoch würde eine neue konzeptionelle Diskussion voraussetzen.
Die dritte Anmerkung hängt eng mit diesem Aspekt zusammen: Aus vielen Beiträgen des Bandes gewinne ich den Eindruck, dass wir es beim Themenfeld Europa auch mit einem Verständigungsproblem zu tun haben. Das hat vielleicht auch ein wenig mit dem leider nicht zu übersehenden Ungleichgewicht der Autorenauswahl zu tun - von 20 Autorinnen und Autoren kommen 14 aus dem Hochschulbereich und nur sechs aus dem Schulbereich. Denn wenn die didaktisch-methodischen Beiträge doch immer wieder auf Makrothemen wie dem Integrationsprozess, der Außenpolitik, den Europawahlen oder bestimmten Politikfeldern basieren, stellt sich die Frage, ob dies nicht an den Interessen der jungen Menschen vorbei geht. Für Jugendliche ist "Europa" gerade im Alltag in viel höherem Maße zur Selbstverständlichkeit geworden, als sich dies in den einschlägigen Didaktiken niederschlägt. Das "Staunen" über die Entwicklung des Kontinents verschwindet rapide; sein Zusammenwachsen wird zur Normalität. Das ist gut so, stellt aber an die didaktische Reflexion neue Anforderungen. Georg Weißeno schreibt: "Eine moderne Institutionenkunde verlangt (…) die Berücksichtigung der europäischen Ebene bei vielen noch ‚national' abgehandelten Themen. (…) Hier muss eine Perspektivenerweiterung, die sich aus dem politikwissenschaftlichen Fundament der Fachdidaktik ergibt, erfolgen" (S. 124). Richtig daran ist, dass die Wissensvermittlung über die Grundlagen des europäischen Einigungsprozesses sein muss; genau so wichtig ist es aber auch, "Mikrothemen" stärker aufzugreifen, die an die europäischen Alltagserfahrungen der Kinder und Jugendlichen heranreichen und die sich aus dem "politikwissenschaftlichen Fundament" nicht unbedingt entwickeln lassen. Europa erschließt sich für Jugendliche ganz wesentlich aus der eigenen Erfahrung, aus internationalen Begegnungen, aus Sprachprogrammen, dem interkulturellen Lernen, aus der Wahrnehmung der reichen Vielfalt des Kontinents. Einer modernen Europa-Didaktik müsste es doch vor allem darum gehen, dieses Interesse an und die Neugier der jungen Menschen auf den Kontinent zu wecken und zu stimulieren, um es dann - quasi im zweiten Schritt - mit den von Weißeno gemeinten Wissenselementen auszubauen und zu festigen.

Tatsächlich enthält der Band auch hierzu eine Reihe von sehr interessanten methodischen Anstößen und Beispielen, die es ermöglichen, selbst komplexe europäische Themen für den Alltagsunterricht zu erschließen. Dabei werden vielleicht die Möglichkeiten solcher Methoden ein wenig überschätzt. So schreibt Dirk Weller: "Problemorientierung, Handlungsorientierung, Schülerorientierung und Wissenschaftsorientierung auf der einen Seite, Selbstverantwortung, Selbständigkeit, Methodenbeherrschung, Kommunikationsfähigkeit, Kreativität und soziale Kompetenzen auf der anderen Seite sollen alle unter einen Hut. Die genannten Forderungen lassen sich mit einer modernen Institutionenkunde im Rahmen von Rollen- oder Entscheidungsspielen gut verwirklichen" (S. 287). 

Es sei dahingestellt, ob diese optimistische Einschätzung für Plan-, Rollen- und Entscheidungsspiele zutrifft, wenn man die zeitaufwändigen Vorbereitungsprozesse in Relation zu den tatsächlich zur Verfügung stehenden Unterrichtszeiten setzt. Aber dennoch machen seine Skizze sowie eine Reihe weiterer Modelle und Projektbeschreibungen den Band zu einer Fundgrube von Anregungen.

Als letzter Punkt ist noch auf ein weiteres Thema des Buches hinzuweisen, das mir für das "Europa-Lernen" wichtig erscheint: die Diskussion über die "europäische Identität", die in mehreren Beiträgen aufgegriffen wird. 

So geht etwa Gotthard Breit in seinem Beitrag "Was ist Europa?" auf das Beispiel der Argumentation für und gegen die Aufnahme der Türkei in die EU ein. Diese hochaktuelle Kontroverse wird von ihm überschaubar, interessant und didaktisch ansprechend aufbereitet - auch wenn seine Auflistung der Aspekte einer europäischen Identität im Unterschied zur Türkei doch etwas verkürzt wirkt. Mit dem nachfolgenden "Dossier" zu der von Hans-Ulrich Wehler angestoßenen Diskussion über einen Beitritt der Türkei bietet er jedoch reichhaltiges Material zu der Kontroverse. Spannend ist hier vor allem auch die Entgegnung von Dagmar Richter, eine "Europäische Identität ist politisch unnötig und widerspricht als Ziel den Prinzipien Politischer Bildung" (S. 176). Ob sich allerdings ihr ziemlich mühsames Sprachkonstrukt "Doing European" (S. 178 ff.) tatsächlich als alternativer Fokus politischer Bildung eignet, wage ich zu bezweifeln.

Abschließend sei noch daran erinnert: Europa ist nicht identisch mit der EU. In dieser Hinsicht greift der Band leider viel zu kurz. Die Union umfasst gegenwärtig nur rund ein Drittel aller europäischen Länder und auch nach der Erweiterung nur ungefähr die Hälfte. Sicher - es sind die "wichtigen" Länder, aber war nicht schon immer die innereuropäische Perspektivenverzerrung unser größtes Problem? Die Integration Europas wird eine halbe Sache bleiben, wenn sie den Balkan ausklammert. 

In der europapolitischen Erwachsenenbildung jedenfalls machen wir tagtäglich die Erfahrung, dass der Fokus auf die Union in der Europabildung zu perspektivischen Verengungen führt, die durch das, was im Band als "moderne Institutionenkunde" bezeichnet wird, noch weiter untermauert wird. Europa - vor allem im Blick auf die zukünftigen Bürgerinnen und Bürger - verdient eine größere Vision.

Trotz dieser kritischen Anmerkungen stellt der Band eine echte Bereicherung unserer Arbeit dar. Seine Lektüre ist unbedingt zu empfehlen; viele Beiträge eignen sich hervorragend als konkrete Arbeitsvorschläge oder doch zumindest als wertvolle Anregungen für eigene Überlegungen. Das Buch gehört in jede Fachbibliothek. Für die politische Bildungsarbeit im weiteren Sinne sollte nun auch eine ähnliche Sammlung herausragender Beiträge aus dem anderen großen Bereich des Europa-Lernens - der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung - angegangen werden. Denn durch Schüler- und Lehreraustauschprogramme, Jugendparlamente, grenzüberschreitende Online-Projekte, Städte- und Gemeindepartnerschaften, internationale Summercamps, europäische Praktikumsprogramme usw. ist ein umfassendes Netz von Verbindungen und Verknüpfungen zwischen schulischen und außerschulischen Aktivitäten und Projekten entstanden, das in kaum einem anderen Bereich so eng ist wie beim Europa-Lernen. 

Karlheinz Dürr


Brauchen wir heute noch Manieren? 

Asfa-Wossen Asserate 

Manieren

Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2003 (Die Andere Bibliothek: Band 226,  hrsg. von Hans Magnus Enzensberger) 388 S. 22, 90 Euro

 

Nach über 200 Jahren bekommt "der Knigge" nun doch noch Konkurrenz (Adolph Freiherr von Knigge veröffentlichte sein Buch "Über den Umgang mit Menschen" erstmals 1788!) - und zwar in Gestalt des Manierenbuches von Asfa-Wossen Asserate. Dass es sich bei dem Autor um einen Ausländer handelt, kann nur als Glücksfall angesehen werden. Denn: "Der beste Kenner eines Landes und seiner Gesellschaft ist der Fremde, der bleibt." Auf den äthiopischen Fürstensohn Asserate trifft diese lakonische These des deutschen Soziologen Georg Simmel zu wie auf kaum einen anderen. Seit über drei Jahrzehnten lebt und arbeitet der Aristokrat schon bei uns in Deutschland und schreibt nun auch noch ein Buch über europäische, insbesondere über deutsche "Manieren". Was dabei herausgekommen ist, kann sich sehen lassen. Es handelt sich keineswegs um ein enges, besserwisserisches Benimmbuch, sondern um einen anspruchsvollen kulturhistorischen Essay darüber, wer wir sind, wie wir uns präsentieren und wie wir miteinander umgehen. Unbeabsichtigt gelingt dem Autor ein Sittenbild unserer Zeit, das uns die große Literatur nach 1945 - sieht man von einigen absoluten Ausnahmeerscheinungen wie etwa der "Blechtrommel" von Günter Grass einmal ab - noch immer schuldet.

Prinz Asserate widmet sich seinem Thema mit Leidenschaft und Kompetenz. Seine Herangehensweise lässt sich wohl zutreffend als Mischform zwischen historisch-genetischer und ethnologisch-philologischer Methode charakterisieren. Als Ausgangspunkt für seine Betrachtung wählt er zumeist eine Beobachtung oder einen Text, aus welchen er dann seine Folgerungen zieht. Überheblichkeit, jedwede Art von Dünkel oder Aufgeblasenheit sind dem Autor fremd. Was ihn auszeichnet sind hingegen Charme und Humor, Selbstironie und Understatement. Ein wenig Eitelkeit und gelegentliche Snob-Allüren vervollständigen das Bild des Autors. Ohne solche Eigenschaften wäre sein ambitioniertes Manieren-Projekt möglicherweise von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Seine Belege nimmt er aus dem reichen Fundus persönlicher Alltagserfahrungen und Erlebnisse. Neben dem realen Leben erschließt er noch eine weitere Quellenkategorie in der (alt-)europäischen Literatur. Beginnend mit den Minneliedern und den Chansons de Geste, mit den Werken von Goethe, Fontane, Thomas Mann oder dem Österreicher Heimito von Doderer ist er ebenso vertraut wie mit La Rochefoucauld und Proust, Wilde und Chesterton, Cervantes und Gracián - um nur einige wenige wichtige Namen zu nennen. Hier wird im übrigen einmal mehr der Nutzen einer umfassenden Allgemeinbildung auch für den modernen Sozialwissenschaftler deutlich. So manche Politologenstudie gewänne auf diese Weise unerwartete Anschaulichkeit.

Der 1948 in Addis Abeba geborene Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie, der nach der Revolution von 1974 seine Heimat verlassen musste und nach Deutschland übersiedelte, möchte keine Anleitung zum Erlernen gesellschaftlicher Umgangsformen geben, ihm geht es auch nicht primär um Anstand oder Etikette, wenngleich er seine Leser en passant auch darüber zu informieren versteht. Der Leser ist für ihn nicht nur virtueller, sondern auch tatsächlicher Gesprächspartner. Worum es ihm vor allem geht, ist die innere Einstellung und Haltung hinter der äußeren Darstellung oder Inszenierung deutlich zu machen. Erst die Berücksichtigung beider Aspekte ermöglicht ein umfassendes Verständnis von Manieren. Da Manieren nahezu alle Bereiche menschlichen (Zusammen-)Lebens berühren, muss sich der Autor in den unterschiedlichsten Problemfeldern gut auskennen.

Im Hinblick auf Umfang und inhaltliche Zuordnung sind die Kapitel sehr unterschiedlich. Neben Kapiteln, die sich mit konkreten Umgangs- und Kommunikationsformen oder - um in der Sprache des Autors zu bleiben - "Gepflogenheiten" wie Handkuss, Lob, Geschenken, Blumen, Pünktlichkeit, Begrüßung, Anrede etc. beschäftigen, stehen andere, in denen weniger konkrete Phänomene und Begriffe wie Ehre, Freundschaft, Würde, Gleichheit, Haltung und Contenance abgehandelt und eingeordnet werden. Neben der Orientierung an den Kapitelüberschriften bietet das Buch dem Leser noch andere Zugänge, zum Beispiel über ein sorgfältig erstelltes Sach- und Personenregister.

Dem Leser bietet das Manierenbuch zahlreiche neue Erkenntnisse und verblüffende Einsichten, so z.B. wenn ihm in dem Kapitel über die "Dame" (S. 46-62) plötzlich bewusst wird, in welchem Maße die Umgangsformen in Europa auf die Frau bezogen und von ihr geprägt sind. Als "fremder Mann" erkennt der Autor früher und schärfer als sein europäischer Geschlechtsgenosse, dass die Dame - eine genuin europäische "Erfindung" - der Dreh- und Angelpunkt "des gesamten Systems der europäischen Manieren" sei. Hinsichtlich von Rolle und Raum, die sie der Frau zuwiesen, unterschieden sich die Europäer von allen anderen Kulturen der Welt. "Die Dame entsprach dem alten feudalen Konzept einer Hegung und Zähmung der Macht durch die Erziehung der Mächtigen, nicht durch veränderbare Gesetze von schwankender Autorität. Hoch über der Pyramide der kleinen und großen Vasallen und der Krone, über zähnefletschenden Löwen, bedrohlichen Adlern und tollwütigen Keilern stand die Frau, waffenlos, mit Rose und Taschentuch. Sie war das Wunder der europäischen Kultur, und man muss vielleicht außerhalb Europas geboren sein, um dies Wunder wirklich würdigen zu können." (S.62) Dies mag erklären, weshalb es sich gehört, dass ein Mann die Pflicht hat, vor einer Frau aufzustehen, eine Frau aber nicht das Recht hat, die Einhaltung dieser Pflicht zu fordern. Wer als Mann vor einer Frau nicht aufsteht, der beschädigt sich selbst am meisten, denn die Frau ist nach wie vor die große Gunstgewährerin.

Zweifellos stellt das Manierenbuch des Prinzen Asserate eine beachtenswerte und herausragende Leistung dar. Um ein solches vielschichtiges und facettenreiches Werk zustande zu bringen, sind ein langer Atem, Disziplin und Durchhaltevermögen von Nöten. Es fordert lange Jahre der Zuwendung. Manchem mag dies übertrieben erscheinen. Erschwerend kam hinzu, dass es keine vergleichbaren Untersuchungen gab. Welchem Vorbild hätte der Autor auch folgen sollen? Er musste neue Wege wählen. Inzwischen wissen wir, seine Arbeit hat sich gelohnt. Öffentliche Anerkennung und der Respekt der gelehrten Welt fliegen ihm schon jetzt zu. Hans Magnus Enzensberger hat das Manierenbuch in die gleichermaßen schöne wie anspruchsvolle "Andere Bibliothek" aufgenommen. In gleicher Weise ehren- und hoffentlich auch verdienstvoll ist der Abdruck des gesamten Buches als "Fortsetzungsroman" in einer "Zeitung für Deutschland".

Beeindruckend sind auch Prinz Asserates "Sprachmanieren". Obgleich das Amharische seine Muttersprache ist - und nicht das Deutsche, sind seine Deutschkenntnisse bestechend. Sein Buch zeigt, dass er sowohl ein brillanter Formulierer als auch ein glänzender Stilist sowie ein humorvoller und charmanter Erzähler ist. Er verfügt über ein elegantes, vielseitiges Deutsch. Es versteht sich, dass man einem solchen klugen, geistreichen und unterhaltsamen Buch viele Leser wünscht.

Prinz Asserate hat für seinen Prosa-Band "Manieren",, im Dezember 2003 den Adalbert-von-Chamisso-Preis erhalten. Die Auszeichnung würdigt herausragende Leistungen Deutsch schreibender Autoren nichtdeutscher Muttersprache. Zu dieser Entscheidung kann man die Robert-Bosch-Stiftung, die diesen Preis alljährlich vergibt, nur beglückwünschen.

Um die Eingangsfrage nochmals aufzugreifen: Brauchen wir heute noch Manieren? - Für jeden der das Buch des Prinzen Asserate gelesen hat, müsste die Antwort klar sein. Wenn wir von Manieren reden, meinen wir natürlich in erster Linie gute Manieren, wobei die Übergänge zu den eher negativ belegten Manieren fließend sind. Als Beispiel für mangelnde Trennschärfe sei hier der "Grobianismus" (S. 138-145) bzw. der "grobe Ton" erwähnt (vgl. Thomas Steinfeld: Der grobe Ton. Kleine Logik des gelehrten Anstands. Hain Verlag 1991). Abgesehen von solchen Spitzfindigkeiten kann man resümierend feststellen, dass das altmodische Phänomen der Manieren heute noch seinen Sinn hat und wichtige soziale und sozialpsychologische Funktionen erfüllen kann. Manieren bieten Hilfe und Orientierung in vielen Lebenssituationen, insbesondere in einer Gesellschaft, die über keine festen Verhaltensregeln mehr verfügt. Dabei kann es nicht darum gehen, Regel und Etikette sklavisch zu befolgen. Bei der Anwendung von Manieren in der Praxis ist Flexibilität geboten. Sowohl im Beruf wie auch im Privatleben sind Manieren nie ein Nachteil, sondern immer von Vorteil. Kenntnis und Praxis der Manieren befördern und erleichtern uns den Umgang mit Menschen.

Caspar Ferenczi


Wie viel Markt verträgt die politische Bildung?

Karsten Rudolf/Melanie Zeller-Rudolf

Politische Bildung - gefragte Dienstleisterin für Bürgerinnen und Bürger Bertelsmann, Bielefeld 2004

336 Seiten, 24,90 Euro

 

Nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung nimmt an Veranstaltungen zur politischen Bildung teil. Bis zu 40 Prozent der in Volkshochschulen angebotenen Kurse zur politischen Bildung werden mangels Interesse und Interessenten abgesagt. Die Ergebnisse sind ernüchternd und enttäuschend zugleich. Auf der anderen Seite belegen Umfragen ein relativ großes Interesse an politischen Fragestellungen und Themen. Das Buch von Karsten und Melanie Rudolf versucht, die Kluft zwischen didaktischen Desideraten auf der einen und den Realitäten des Bildungsmarkts auf der anderen Seite dadurch zu schließen, dass es empirische Grundlagen für eine bürgerorientierte politische Bildung liefert, um die Diskussion über den Bedarf an Inhalten und neuen Bildungsformaten zu versachlichen.

Die beiden Arbeiten widmen sich den Fragen: Was macht die politische Bildung falsch? Von wem kann sie lernen? Und wie müssen nutzen- und bedürfnisorientierte Konzepte zur politischen Bildung aussehen, damit sie am Markt der Erwachsenenbildung und beim utilitaristisch orientierten Kunden bestehen können?

Es ist das Verdienst von Melanie Zeller-Rudolf, den leider wieder in Vergessenheit geratenen Zusammenhang von politischer Bildungsarbeit und betrieblicher Weiterbildung mit Hilfe von Fallstudien (z.B. bei den Unternehmen BASF, Dresdner Bank, Otto Versand oder Siemens) neu zu beleuchten. Sie liefert lang ersehntes Datenmaterial, wie politische Bildung in den genannten Firmen wahrgenommen, was darunter verstanden wird und vor allem welche Themenfelder sich für eine Zusammenarbeit anbieten. Die Autorin ist sehr zuversichtlich, dass die "politischen Bildner ihr Fachwissen in der Projektplanung für Unternehmenskampagnen oder die Wettbewerbsgestaltung zu gesellschaftsrelevanten Themen vom Euro über die Auseinandersetzung mit Fremdenfeindlichkeit bis zur multikulturellen Gesellschaft einbringen und sich damit neue Handlungsfelder erschließen" (S.93).

Die Erkenntnis, die sowohl den Didaktikern als den Praktikern unserer Zunft zu denken geben sollte, lautet: Politische Bildung verkauft sich oft unter Wert, sie muss sich stärker darum bemühen, besser zu planen, ihr Profil zu definieren, mehr wahrgenommen zu werden, sich zu vernetzen, neue Lernorte (z.B. in Betrieben) aufzusuchen, innovative Lernangebote zu machen (z.B. Events), bessere Kontakte besonders zu Entscheidungsträgern in der Wirtschaft aufzubauen, aktuelle Themen aufzugreifen (z.B. Gesundheits- und Sozialpolitik), sich vor allem in der Wirtschaft bekannter zu machen und mit ihren "Pfunden zu wuchern" und ein Stück weit auch von ihrem sie mehr und mehr behindernden emanzipatorischen Image wegzukommen hin zu einem Verständnis wie sich die Zentralen der politischen Bildung seit mehr als 20 Jahren definieren: als neutrale Dienstleister, aber auch als aktualitätsorientierte Aufklärer und Agenda-Setter. Die beiden Autoren sprechen jüngeren Praktikern der politischen Bildungsarbeit aus der Seele, wenn Sie formulieren, dass nicht länger auf klassische Bildungsformen gesetzt werden sollte und Veranstaltungsanbieter zum Beispiel auch als Eventmanager, Marketingstrategen und Begleiter politischer Informationskampagnen arbeiten sollten (S.98).

Das Vorhaben, die neuen Aufgabenstellungen und beschriebenen Veränderungen der politischen Bildung gleichen allerdings der Quadratur des Kreises gerade in Zeiten "inhaltlicher Komplexitäts- und finanzieller Reduktionsfallen" und finden sicher nicht ungeteilte Zustimmung in der Riege der Didaktiker, wenn politische Bildung - hier im doppeldeutigen Sinne zu verstehen - verkauft werden soll. "Der politische Bildner als Verkäufer, ähnlich dem Versicherungsvertreter, der sich an seine potenziellen Kunden hängt und ein Profil entwirft - ein Bild, das sicherlich nicht jedem gefällt, aber letztlich die ganze Problematik beschreibt und verdeutlicht, dass neue Zugangskonzepte und Flexibilitätsanstrengungen einen gangbaren Weg bereiten können" (S.263).

Abschließend sei eine Kritik erlaubt, die allerdings bei der Lektüre der meisten Dissertationen zutrifft: Unter der Liebe zum Detail und der Notwendigkeit von Nachweisen leidet mitunter die Lesefreudigkeit. Eine komprimierte Fassung für den zeitbewussten Leser wäre wünschenswert. Das Buch ist ein erster, äußerst hilfreicher Appetizer, der mehr Informationshunger nach Evaluationen und Erhebungen zur politischen Bildung weckt, mit denen bedarfs-, bildungs-, praxis- und publikumsgerechtere Veranstaltungsvorhaben geplant und durchgeführt werden können. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch den Auftakt bildet zu mehr Veröffentlichungen, die sich mit der notwendigen Frage der Marktchancen und der Modernisierung der politischen Bildung auf der einen und ihrer Akzeptanz bei Bürgerinnen und Bürgern, aber auch politischen Bildnern auf der anderen Seite beschäftigen.

Michael Wehner


 

 


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