Zeitschrift Fußball und Politik
Heft 1 2006 Hrsg: LpB
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Sind wir wieder wer? "Du bist Deutschland!", "Wir sind Papst!", "Wir sind WM und wieder wer!", "Ein Volk, ein Land, ein Fußball!" - Schlagworte, die das Gefühl nationaler Zugehörigkeit und Geschlossenheit suggerieren, hatten und haben Konjunktur. Appelle dieser Art sprechen die Gemeinschaft der Deutschen an, nivellieren soziale und politische Unterschiede und konstruieren damit eine integrative, "gefühlte" Einheit. Insbesondere in Zeiten wirtschaftlicher, politischer oder sozialer Unsicherheiten und Umbrüche gewinnt die Identifikation mit der eigenen Nation zunehmend an Bedeutung; die Nation und damit auch die nationale Identität werden zum Bindeglied in der sich verändernden Gesellschaft. Zugleich gibt es vor allem in der Bundesrepublik Spannungen und Hemmnisse im Umgang mit der eigenen nationalen Identität - die Erinnerungen an die Schrecken des Nationalsozialismus und die deutsche Teilung machen einen unbefangenen Umgang mit der nationalen Geschichte unmöglich.
Weltmeisterschaften schaffen Mythen und Helden Auf wissenschaftlicher oder analytischer Ebene sind Art und Ausprägung dessen, was als nationale Identität beschrieben werden kann, nur schwer darzustellen. Die "gefühlte" Einheit bzw. emotionale Verbundenheit mit dem eigenen Land entzieht sich gesellschaftswissenschaftlichen Untersuchungsansätzen. Sportereignisse - und hier der Fußball im Besonderen - bieten eine geeignete Projektionsfläche für politische und soziale Veränderungen und den Umgang mit der Nation. Das in Deutschland am häufigsten angeführte Beispiel ist die Fußballweltmeisterschaft 1954. Die viel zitierte "nachträgliche Gründung" der Bundesrepublik im Berner Wankdorfstadion war eng verknüpft mit einer - wenn auch provisorischen - Neuschaffung einer (west-)deutschen Identität. Hier gewannen nicht einfach elf Fußballer das Endspiel einer Weltmeisterschaft, sondern Weltmeister waren "wir", die Deutschen. Resultierend aus der Kriegsniederlage, den düsteren Schatten der NS-Zeit und der gesellschaftlichen Desorientierung in der Phase des Wiederaufbaus vermittelte der Gewinn des Weltmeistertitels eine Mischung aus "kollektivem Rausch" und "kollektiver Verdrängung" (Seitz 2004). Die Weltmeisterschaft schuf Mythen, Helden und "Erinnerungsorte", die weit über die Gründungsphase der BRD hinaus wirkten und wesentlicher Bestandteil des nationalen Selbstverständnisses wurden. Ähnliche - wenn auch schwächere - Mechanismen entstanden aus den Fußballgroßereignissen 1966, 1974 und 1990. 1974 auf dem Höhepunkt der Entspannungspolitik kam es zur ersten und einzigen Begegnung zweier deutscher Nationalmannschaften: Der Sozialismus gewinnt im "Sparwasser-Spiel" von Hamburg zwar eine Schlacht, doch im "Kampf der Systeme" obsiegt schlussendlich die bundesrepublikanisch-kapitalistische Mannschaft. 1990: Weltmeister und Wiedervereinigung - die Bundesrepublik siegt erneut, es erfolgt der politische und sportliche Anschluss der DDR an die Bundesrepublik. Das Wembley-Tor 1966 und die Spuck-Attacke 1990 des Niederländers Frank Rijkaard gegen Rudi Völler sind unvergessen. Auch diese Ereignisse mobilisierten deutsche Empörung und Empfindlichkeiten und rekonstruierten alte historische Feindbilder und Ressentiments.
Die Nation als Konstrukt der Moderne Bevor nun der Brückenschlag zwischen dem Massensport Fußball und der "nationalen Identität" vollzogen werden kann, ist es notwendig, das "Nationale" bzw. "die Nation" zu definieren. Was ist eine Nation und wo liegen die Wurzeln dessen, woran wir unsere - positiven wie negativen - Emotionen nationaler Zugehörigkeit koppeln? Auf welchem historisch-politischen Hintergrund ist die Entstehung von Nationen zu betrachten und mit welchen Gefahren, Belastungen und Herausforderungen ist eine Nation heute konfrontiert? Die Herausbildung von modernen Nationen und Nationalstaaten ist eines der bedeutendsten Phänomene des 18. und 19. Jahrhunderts. Ihren Ursprung hat diese Entwicklung in den politischen und sozialen Umwälzungen der Französischen Revolution, deren Auswirkungen die tradierte, feudale Herrschaftslegitimation der absolutistischen Monarchien massiv unter Druck setzt. Der souveräne Staat als territorial abgegrenzte Einheit löst die ständischen und hierarchischen Bindungen sowohl auf politischer als auch auf sozialer Ebene auf und schafft damit ein neues, alle gesellschaftlichen Gruppen überwölbendes Ordnungssystem (Reinhard 2002). Für das Individuum, den "Staatsbürger", bedeutet dies idealiter, als partizipierendes, gleichberechtigtes Mitglied unmittelbar zum Träger und Gestalter der neuen Ordnung, also des Staates, werden zu können. Der französische Geisteswissenschaftler Ernest Renan definiert bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert die Nation als eine große "Solidargemeinschaft", die nur durch die fortwährende Teilhabe der Bürger am staatlichen und gesellschaftlichen Geschehen, durch ein "tägliches Plebiszit", gewahrt werden könne (Renan 1882). Trotz all der unterschiedlichen Entwicklungsschritte europäischer Nationalstaaten lässt sich dieser Prozess verallgemeinernd für nahezu alle Staaten als grundlegende Transformation des 19. Jahrhunderts beschreiben: Nach der Auflösung der traditionell legitimierten Herrschaftsstrukturen werden der Staat und dessen Bürger "durch tägliche Bande zwangsläufig in einer Weise miteinander verknüpft wie nie zuvor" (Hobsbawm 1992). Die Nation wird zur einheitlichen, normativen Bezugsgröße von Politik und Gesellschaft. Instanzen und Korporationen der ständischen Gesellschaft, die in der "vorstaatlichen" Epoche die soziale und politische Integration des Individuums gesichert haben, erhalten hier einen dem Staat untergeordneten Stellenwert.
Nation als "imagined community" Diese knapp zusammengefasste Entwicklung gibt zunächst den äußeren historischen Rahmen der Staatsbildung vor; die Fragen nach der inneren Ausgestaltung und den Prinzipien der Legitimation eines Nationalstaates sind davon noch nicht berührt. Die Erosion der ständisch-feudalen Strukturen und der Übergang zu einer Gemeinschaft gleichberechtigter Staatsbürger verlaufen nicht linear und ohne Hindernisse. Zunächst ist die sich entwickelnde Nation als übergreifendes Bindeglied auf die Konstruktion neuer Loyalitätsmuster angewiesen, da ständische oder auch religiöse Integrationsmuster im Zuge der modernen Staatenbildung an politischer Bedeutung verloren haben. In dieser Phase des Niedergangs traditioneller Legitimationsstrukturen erscheint die Nation als neue Größe von Gemeinschaft und Solidarität besonders sinnstiftend. Zur modernen, säkularen "Bürgerreligion" der nationalstaatlichen Gesellschaften wird ab dem 19. Jahrhundert, so der britische Historiker Eric Hobsbawm, der Patriotismus, die Hingabe zur Nation (Hobsbawm 1992). Staatenbildung und Nationsbildung erhalten aus dieser Perspektive einen notwendigen Zusammenhang: Die Bezugsgröße der Nation als begrenzte und souveräne "vorgestellte politische Gemeinschaft" (Anderson 1988) gibt dem partizipierenden Volk ein verbindliches Werte- und Normengerüst und damit zugleich einen Orientierungsmaßstab für die eigene Verortung innerhalb des Staates. Unterschiedliche soziale, ökonomische oder politische Interessen können dadurch überwölbt und homogenisiert werden (Reinhard 2002). Grundlage dieser abstrakt vorgestellten inneren Einheit können sprachliche, ethnische oder religiöse Gemeinsamkeiten sein bzw. auch die territoriale Bezugsgröße des Staates. Die Abgrenzung nach außen - gegen andere "imagined communities" - spielt im Prozess der Nationalstaatsbildung eine gewichtige Rolle: Dass eine Nation im Inneren konsolidiert werden und nach außen als souveräne Größe Bestand haben kann, müssen fremde bzw. die Einheit der Nation gefährdende Faktoren entweder assimiliert oder aus der nationalen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Für die (oft gewaltsame) Selbstbehauptung und äußere Abgrenzung der modernen Nationalstaaten lassen sich zahlreiche Beispiele anführen - negativer Höhepunkt des 20. Jahrhunderts dürfte zweifellos der völkische Nationalismus des Dritten Reichs gewesen sein (Oberndörfer 1993).
Nationale Identität als "Seelenkitt des modernen Kollektivs" "Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. (…) Gemeinsamer Ruhm in der Vergangenheit, ein gemeinsames Wollen in der Gegenwart, gemeinsam Großes vollbracht zu haben und es noch vollbringen wollen - das sind die wesentlichen Voraussetzungen, um ein Volk zu sein. (…) Das Dasein einer Nation ist - erlauben Sie mir dieses Bild - ein tägliches Plebiszit, wie das Dasein des einzelnen eine andauernde Behauptung des Lebens ist. (…) Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen" (Renan 1882).
Die Vermittlung eines kollektiven Werte- und Normenmodells an die gesamte Gemeinschaft einer Nation, also die Einleitung des Nationsbildungs-Prozesses, steht zunächst in enger Verbindung mit der Entwicklung moderner Kommunikationsformen, sprachlicher Vereinheitlichung und (demokratischer) Partizipationsmöglichkeiten. Gesellschaftliche Mobilität und zunehmende Kommunikation zwischen einzelnen sozialen und politischen Gruppen sind - zumindest oberflächlich - die Grundvoraussetzungen einer konsolidierten Nationsauffassung (Deutsch 1972). Doch für die Antwort auf die Fragen, wer wir eigentlich sind bzw. womit wir uns identifizieren, braucht es greifbare Bilder, sinnstiftende Ereignisse und Identifikationsmuster: Im Prozess der Nationsbildung wirkt bis heute insbesondere die Konstruktion historisch legitimierter Mythen und Symbole integrativ. Die Trikolore und die Stars-and-Stripes-Flagge der USA repräsentieren zugleich Ursprung und Fortbestand nationaler Erinnerungskultur. Sie können für das Individuum Ausdruck der Identifikation mit der vergangenen und gegenwärtigen Definition der eigenen Nation sein. Im "kulturellen Gedächtnis" wird die Überlieferung und Erscheinung einer Gesellschaft bzw. einer Nation "sichtbar": Welchen Blick eine Gesellschaft auf die eigene Vergangenheit richtet und welche Wertperspektive dabei konstruiert wird, "sagt etwas aus über das, was sie ist und worauf sie hinaus will" (Assmann 1988). Im Falle Frankreichs oder der USA richtet sich dieser Blick in die Vergangenheit vor allem auf das revolutionäre Erbe - die Metaphern der "Grande Nation" und des "Landes der unbegrenzten Möglichkeiten" symbolisieren bis heute Freiheitsgeist und demokratische Grundordnung, die nur schwer grundlegend hinterfragt oder neu verortet werden können, weil sie gewachsene, kollektiv legitimierte Symbole und Normen darstellen. Das Einssein mit diesen nationalen Selbstbildern ist eine Mischung "aus Bindung, kollektivem Erleben und Orientierung auf Kommendes, die sich im Seelenhaushalt des Einzelnen niederlässt, dort Zustimmung erfährt und zu Eigenbeitrag anspornt" (Schmid 2005).
Vom Umgang mit der Nation in Deutschland In Deutschland tun wir uns schwer im Umgang mit nationaler Erinnerungskultur und nationaler Symbolik. Im Gegensatz zu den westeuropäischen Staaten Frankreich und Großbritannien oder den USA gilt die deutsche Nationalstaatsgründung des 19. Jahrhunderts häufig als "von oben" oktroyiert, als Zwangskonstrukt ohne demokratisch-parlamentarische Tradition. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen richtet sich der deutsche Blick auf die eigene Vergangenheit meist (und zurecht) auf die negative Konnotation des Nationalen: Die Berufung auf die eigene Nation und nationale Identität werden gleichgesetzt mit übersteigertem, politisch rechts orientiertem Nationalismus, die Definition der Nation birgt im deutschen Selbstverständnis häufig die aggressive Abgrenzung nach außen und militaristisch-gewaltsame Konsolidierung nach innen. Sie entspricht eben nicht der oben beschriebenen partizipativen, demokratischen Auffassung von Nation (Langewiesche 1994). Das Bekenntnis zur eigenen nationalen Identität und zur historischen Vergangenheit der Nation war nach dem negativen Höhepunkt des häufig diskutierten deutschen "Sonderwegs" nach 1945 vollständig diskreditiert. Krieg und Kriegsfolgen führten hier vielmehr zu einer "nationalen Ernüchterung" (Winkler 1979), die eine völlige Neudefinition der abstrakten Größen Nation und nationaler Identität erforderten. Die deutsche Teilung verhinderte indes eine gesamtdeutsche Neuschaffung nationaler Identitätsmuster. Das "kulturelle Gedächtnis" der Deutschen und der Rückblick auf die gemeinsame nationale Geschichte bleiben trotz unterschiedlichster Perspektiven immer am historischen Fluchtpunkt des Nationalsozialismus hängen. Bis heute bewegt sich die Diskussion über die nationale Identität der Deutschen trotz Wirtschaftswunder, Westbindung, Wende und Wiedervereinigung zumeist allein um die Schuldbekenntnisse in Bezug auf die historischen Belastungen der NS-Zeit und um die Warnungen vor einem überheblichen, rechtsorientierten Nationalbewusstsein. Gegenwärtiges - wie z.B. die demokratisch erlangte staatliche Einheit - oder auch Zukünftiges - wie die Frage nach nationalstaatlicher Politik im Zuge von Europäisierung und Globalisierung - werden häufig ausgeklammert.
Fussball als Projektionsfläche nationaler Identität Nach den Ausführungen zu den grundsätzlichen Definitionen der Nation und nationaler Identität bleibt die Frage danach, wo diese abstrahierten Bezugsgrößen tatsächlich in der Alltagskultur nun sichtbar werden. Sportliche Großereignisse, und hier vor allem der Fußball, machen die Mechanismen nationaler Identifikationsstrukturen besonders deutlich. Die Fankultur innerhalb der Stadien - ob auf nationaler oder regionaler Ebene - hebt ähnlich den Funktionsweisen der modernen Nationsbildung individuelle soziale oder politische Differenzen zumindest für gut 90 Minuten auf: Die Zuschauer werden damit zu einer "imagined community", die sich an den gleichen Werten (z.B. dem Spaß am Fußball) und Zielen (z.B. dem Sieg ihrer Mannschaft) orientiert. Der Einzelne wird unabhängig von seiner persönlichen Herkunft in das Kollektiv der Fans integriert und nicht selten ist es erst das Massenerlebnis, das sonst eher ruhige und zurückhaltende Menschen zu fröhlichen oder grölenden Fußballfans werden lässt. Grundvoraussetzungen für diese Art der Partizipation im Stadion ist eine einheitliche "Kommunikationsform": Fangesänge und -parolen funktionieren nach immer wiederkehrenden "Codes", die jeder einzelne Zuschauer unabhängig von seinem persönlichen Umfeld verstehen und an denen er teilhaben kann. Die emotionale Ebene, die ein Fußballspiel vermittelt, ist zugleich das geeignete Vehikel nationaler Identitätsmuster: Wo sonst werden so inbrünstig Nationalhymnen gesungen oder Flaggen geschwenkt wie in den Fußballstadien? Hier findet die für die "gefühlte" Einheit der Nation so wichtige nationale Symbolik einen Platz; sie wird stellvertretend zum "Plebiszit" der Bevölkerung für ihre Nation. Auf den Fußballplätzen wurde und wird eine Vielzahl nationaler Erinnerungsmomente und -mythen geschaffen. Die bereits einleitend genannte sinnstiftende Bedeutung der Weltmeisterschaften 1954 oder 1990 darf trotz der Tatsache, dass es sich um scheinbar banale Sportereignisse handelt, nicht gering geschätzt werden.
Werte- und Wirkungsambivalenzen von Projektionen Fußball ist ambivalent in seinen Wirkungen: Er ist notwendiges Ventil und Vehikel für menschliche Bedürfnisse (z.B. nach Identifikation und Abgrenzung), Aggressionen und archaische Verhaltensmuster des "Kräftemessens" und "Siegens". Er spiegelt in elementarer Art und Weise - wenn auch oft unausgesprochen - die Grundwerte einer kapitalistischen Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft wider. Zugleich kann gerade im Sport der zunächst vereinheitlichende Konkurrenzgedanke, abseits sozialer oder ethnischer Unterschiede einen gemeinsamen Erfolg zu erzielen, recht schnell fragwürdig werden. Der Leistungsgedanke wird verabsolutiert und pervertiert, wenn das Gewinnenwollen um jeden Preis zu Auswüchsen wie Dopingmissbrauch und Wettskandalen führt. Insbesondere in Zeiten zunehmender Kommerzialisierung des Fußballs kann ein Sportler, dessen Leistung nicht den allgemeinen Erwartungen entspricht, leicht aus dem (nationalen) Kollektiv ausgeschlossen werden oder die Leistungen wie im Fall der deutschen Frauennationalmannschaft nicht entsprechend gewürdigt werden, da die an Einschaltquoten und Werbeeinnahmen orientierte Eigengesetzlichkeit der Medien eine entsprechende Wertschätzung verhindert. Überhaupt sind im Fußball Frauen, ob als aktive Spielerinnen oder Fans - trotz der hohen Akzeptanz beispielsweise in den USA - nach wie vor unterrepräsentiert. Insofern taugt der Volkssport Fußball nur bedingt als Identitäts- und Identifikationsmöglichkeit. Fußball dient der Bildung von Vorurteilen und Feindbildern ebenso wie der Völkerverständigung und der Freundschaft. Fußball im Besonderen und Sport sind nicht unpolitisch: Fairness, Solidarität, Völkerfreundschaft und Toleranz stehen als Werte in Konkurrenz zu Rücksichtslosigkeit, Ausländerfeindlichkeit, zu Rassismus und Nationalismus. Er ist ebenso Projektionsfläche für individuelle und kollektive Machtfantasien wie für Geborgenheitssehnsüchte, Gemeinschaftsgefühle und Heimatbedürfnisse.
Präsentationsfeld für autoritäre Charaktere Der Fußballsport liefert aber auch durch sein "starres Regelwerk mit Befehl, Gehorsam und Bestrafung ein Präsentationsfeld für konventionelle, patriarchale Wertvorstellungen und autoritäre Charaktere. Das ihm zugrunde liegende männliche Weltbild kann autoritäre Charakterstrukturen, Nationalismus, Rassismus, Gewalt, Identitätsdenken, Chauvinismus, Sexismus verstärken" (Chlada/Dembowski 2000, S. 5). Nationalismus und Hooliganismus sind nicht zu akzeptierende übersteigerte Ausdrucksformen nationaler Identität. Fußball ist und bleibt ein Rasen- und kein Rassensport. Auf den Spielfeldern der Weltmeisterschaft wird nationale Identität gestiftet, auf dem Rasen wird ausgelebt und kanalisiert, was oftmals in einer Zivilgesellschaft keinen Platz mehr hat. Vielleicht ist gerade für die identitätstraumatisierten Deutschen der spielerische Umgang mit nationalen Sentiments ein wichtiges Ventil für das Ausleben unserer unterdrückten, gebändigten Stimmungen und Kompensation für politisch korrekte Ersatzhandlungen. Der "Geschichtsfelsen" Nationalsozialismus blockiert naive und ahistorische Zugänge zu nationalen Emotionen. Nahezu zwangsläufig und reflexartig erfolgt vor allem auf intellektueller Seite die Flucht in einfachere Identitäten wie die der Regio- oder europäischen Identität: Es ist einfacher, das Badnerlied zu singen als die deutsche Nationalhymne, und mit der Europaflagge tut man sich leichter als mit Schwarz-Rot-Gold.
Multiple Identitäten in Stadien und Staaten Einstellungen zur Nation verändern sich, sind dynamisch. Nationale Stimmungen und Strömungen müssen gerade in Deutschland seismographisch und wachsam beobachtet werden. Jede Nation ist auch Imagi-Nation und Indoktri-Nation. Der zwangsläufige Mechanismus einer Identitätsbildung ist der der Aus- und Abgrenzung. Geschichtserzählungen und Mythen, soziale Emotionen und faszinierende Angebote der nationalen Vergemeinschaftung unterliegen ständigen Missbrauchsgefahren. Kollektive Identitäten sind multipel und überlagern sich sedimentartig, sie sind Hybride: Eine nationale Identität blockiert nicht zwangsläufig eine europäische oder eine badische. Ein Fan des SC Freiburg kann durchaus in der Champions League Arsenal London unterstützen und bei der WM sich für die Équipe Tricolore begeistern. Identitäten sind "variabel konfigurierte und permanent umstrittene politische Felder, gedeutet und besetzt von politischen Akteuren, die konkurrierende Interessen vertreten und ihre Politik symbolisch inszenieren" (Brusis 2003, S. 255). Nach einer Gallup-Umfrage (Rötzer 2005) bezeichnen sich 28 Prozent der Deutschen, doppelt so viele wie in anderen EU-Staaten, an erster Stelle als Europäer, während umgekehrt mehr als die Hälfte der Menschen in Österreich, Island und Luxemburg sagen, dass sie in erster Linie stolz auf ihre Nationalität sind. Weltweit nennt etwa ein Drittel der Befragten die nationale Identität als wichtigstes Merkmal, gefolgt von der Religion (21%). Während in Lateinamerika die Bedeutung der nationalen Identität mit 54 Prozent überwiegt, dominieren in Afrika (56%), in den USA und Kanada (32%) vor allem religiöse Identifikationsmuster.
"Nationale Herausforderung WM 2006" (Otto Schily) Lösche (2002) hat deutlich gemacht, dass Fußball eher Ausdruck, nie Anlass für gesellschaftlichen Wandel ist. Veränderungen gehen immer von der Politik und der Gesellschaft aus und werden retrospektiv in die Fußballgeschichte hinein interpretiert. Das Fußballfeld ist keine soziale Matrix, anhand der sich die komplexe moderne Gesellschaft dechiffrieren lässt und die den nationalen Taktschlag so einfach vorgeben kann. Wie einfach wäre sonst die Aufgabe von Regierungen und Parlamenten? Dennoch: Eine kritische Analyse des Zusammenhangs von Fußball und nationaler Identität muss neben all den negativen Begleiterscheinungen und äußerst fragwürdigen Entwicklungen auch die positive Funktion dieser Symbiose darstellen. Kein anderer Bereich trägt in Deutschland mehr zur schichtenübergreifenden (Erlebnis-, Erzähl- oder Solidaritäts-) Gemeinschaft und zur nationalen Identitätsstiftung bei als der Fußball. "Fußball ist der Leitstern unserer Kultur - wenn Kultur bedeutet: worüber die meisten reden, worauf die meisten fiebern, was die meisten wichtig finden, in welcher sprachlichen Währung die meisten miteinander verkehren können. (...) Das Stadion ist der letzte Ort der alle Klassen versammelt: die Spitzen der Politik, die Medienexistenzen des Showgeschäfts, die über ihre Produkte omnipräsente Wirtschaft, die Masse der Angestellten und Arbeitenden, aber auch Leute, die in keiner öffentlichen Debatte mehr vorkommen und um die sich kaum einer kümmert, also Arbeitslose, verwahrloste Jugendliche, Ausländer, Alkoholsüchtige. Nachdem Religionen, Weltanschauungen und Gebräuche in der Erlebnisgesellschaft ihre Verbindlichkeit verloren haben und die Menschen der unterschiedlichen Milieus und Gehaltsklassen in streng voneinander getrennten Lebensbereichen zu Hause sind, eint sie alle - vom Kanzler bis zum Penner - nur mehr der Fußball" (Schümer 1995). Es scheint so, als würden Fußballweltmeisterschaften die Menschen mehr bewegen und sich nachhaltiger in ihren Köpfen festsetzen als historische Ereignisse. Das Wunder von Bern ist in der nationalen Erinnerung präsenter als der Holocaust und die Mehrzahl der jungen Menschen bis zu 24 Jahren weiß mit dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 kognitiv mehr anzufangen als mit dem 17. Juni 1953. Laut einer repräsentativen Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen (2005, S. 15ff.) konnten die Frage "Was bezeichnet man als das Wunder von Bern?" 55,4% der Altersgruppe richtig beantworten, während auf die Frage "Was versteht man unter dem Begriff Holocaust?" lediglich 51,4% der Befragten richtig mit "Vernichtung der Juden" antworteten. 35,6% beantworteten die Frage nach der NS-Machtergreifung am 30.1.1933 korrekt, während nur noch 19,7% der Interviewten die Frage "Was geschah am 17. Juni 1953?" zutreffend beantworten konnten.
It's more than a game… Fußball leistet einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Herausbildung einer nationalen Identität in einer gegebenen Zeit. It´s more than a game: Fußball ist einer von vielen Spiegeln der Gesellschaft und ein Barometer nationaler Befindlichkeiten. Er beeinflusst die politische Stimmungslage in einem Land. Auch die Weltmeisterschaft 2006 wird für Politiker und Medien ein willkommenes Ereignis sein, identitätsstiftende Sinnangebote für die Deutschen und ihr Verhältnis zu ihrer Nation zu machen. Rahn (2004, S. 2) hat in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen, dass eine öffentliche Stimmung (public mood), eine "themenbestimmte gesellschaftliche Großwetterlage" kausale Auswirkungen auf nationale Bindungen (commitment) haben kann. Großereignisse können eine Nation mitreißen und ihr zumindest kurzzeitig ein Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein geben. Die Nation lebt nicht vom Brot, vom wirtschaftlichen Wohlstand und effizientem (sozial-)staatlichen Handeln allein: Ein funktionierender Binnenmarkt ist "kein Vaterland". Das Bewusstsein um eine nationale Identität hat eine grundlegende Bedeutung für den Zusammenhalt moderner Staaten. Fehlende Identität und Identifikation führt bei Verteilungskonflikten zur Bedrohung oder gar Auflösung des Gemeinwesens. Reiner Verfassungspatriotismus reicht nicht aus. Nicht nur Menschen, sondern auch Nationen, die über ein gesichertes Selbstkonzept und einen verlässlichen Normenkodex verfügen, sind berechenbarer und in ihren Handlungsweisen eher einschätzbarer. Man könnte wahrscheinlich sogar sagen, dass eine selbstbewusste Nation großzügiger im Umgang mit dem Anderen sein kann, toleranter gegenüber dem Fremden. Kurzum: Nur noch der Sport, und in Deutschland fast ausschließlich der Volkssport Fußball, ist in Friedenszeiten in der Lage, das "Nationalgefühl" in der Bevölkerung zu mobilisieren. Wenn bei der schönsten Nebensache der Welt ab und an auch Fragen nationaler Identität zur Hauptsache werden und damit politisches Interesse und die Urteilsbildung gesteigert werden, dann hat sich die Austragung der WM im eigenen Land aus Sicht der politischen Bildung bereits gelohnt: "Politics is more interesting to people who are committed to some kinds of collective identities, e.g., partisan or national identities, because the self is more emotionally invested in objects that have a public, or political nature" (Rahn 2004, S. 22). Als Megaevent wird sich die WM im kulturellen Gedächtnis und den individuellen Erinnerungen aller Zeitgenossen einbrennen und je nach Abschneiden der deutschen Mannschaft Anlass sein für kollektives Wundenlecken oder politische Ruckappelle.
Die multiethnische Nationalmannschaft Eine eindimensionale nationalistische Betrachtungsweise scheidet dabei zwangsläufig schon aus. Denn multiethnisch ist die Nationalmannschaft ja sowieso: "der in Ghana geborene Asamoah und Owomoyela als Sohn eines Nigerianers bringen afrikanischen Elan in die Elf; Kuranyi stärkt das südamerikanische Element, hat der Sohn einer Panamaerin doch in Brasilien das Kicken gelernt; polnische Power verkörpern Podolski, Klose und Sinkiewicz; der aus der Schweiz stammende Neuville steht für Unaufgeregtheit, und dass Torhüter Kahn einen lettischen Opa hat, verleiht der deutschen Auswahl ebenso ein internationales Flair wie die Tatsache, dass der Bundestrainer in Kalifornien wohnt" (Klemm 2005, S. 26). Sollte Deutschland allerdings bereits in der Vorrunde ausscheiden, wird die WM schnell in Vergessenheit geraten und das kollektive Jammern wieder an der Tagesordnung sein: "Das lang bewunderte Sozialsystem kastriert sich, die lang beneidete Wirtschaft ruiniert sich, die langweilige Nationalmannschaft blamiert sich" (Platthaus 2006). Fußball und Deutschland sind dann eben auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Der Gewinn der Weltmeisterschaft 2006 andererseits könnte aber rückblickend für ein offenes und integrationsfähiges Deutschland stehen, das durch Anleihen in der ganzen Welt und durch eine nationale Kraftanstrengung den unveränderbaren Globalisierungsprozess mit einer auf Zeit befristeten Großen Koalition gemeistert hat und sich dort wieder zurückmeldet, wo es im 21. Jahrhundert als Mittelmacht hingehört: ohne Sicherheitsratssitz in der UN, aber als selbstbewusster europäischer Staat, der den wirtschaftlichen und politischen Wettbewerb mit Brasilien, Iran, Südkorea, den USA oder Japan aufnehmen kann.
Nationale und europäische Identität Der Fußball zeigt deutlich auf, was in der Politik oft nur hinter vorgehaltener Hand eingestanden wird: das "Konstrukt" Nation wird Bezugsgröße im Alltag wie in der internationalen Politik auf absehbare Zeit bleiben. Das Gute und das Schlechte ist: Identitäten können geschaffen werden, auch europäische. Sie müssen allerdings bei der Bevölkerung Akzeptanz erfahren. Die politisch viel relevantere Frage ist deshalb die, wie eine deutsche Identität (sofern es eine solche gibt) in eine europäische transformiert werden kann, gerade weil der Nationalstaat als Orientierungsrahmen nicht ohne weiteres zu überwinden sein wird. "Das Verhältnis von Union und Nationalstaaten wird eine der wichtigen Fragen sein, die in den kommenden Jahren zu regeln sind. Denn auch in Zukunft wird der Nationalstaat mit seinen kulturellen und demokratischen Traditionen für die Menschen in Europa der primäre Träger ihrer Identität sein. Er ist der wichtigste Rahmen für Sprache, Kultur und Tradition und wird auch in einer großen Union unersetzbar bleiben, um europäische Entscheidungen überzeugend demokratisch zu legitimieren. Andererseits werden die Mitgliedstaaten im 21. Jahrhundert auf eine handlungsfähige, demokratisch legitimierte Europäische Union essentiell angewiesen sein" (Fischer 2001, S. 3).
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