Zeitschrift Bundestagswahlen in Deutschland Es geht um Optimierung von Sachkompetenz, Personenpräsenz und Mobilisierung der Anhängerschaft Wer gewinnt die Bundestagswahl? Lang- und kurzfristige Trends im Wahlverhalten in Deutschland Von Richard Hilmer |
|
||
Meinungsforschungsinstitute verfolgen sehr genau die Stimmungslage in der Wählerschaft, wie das politische Personal eingeschätzt wird und welchen Zulauf jeweils die Parteien aufweisen. Wichtig ist vor allem auch, welche Probleme die Wähler sehen und wem sie die Lösung dafür zutrauen. Solche Informationen werden um so wichtiger, je geringer die Stammwählerschaft wird, die ihrer Partei die Treue hält. 47 % der Wählerschaft stufen sich inzwischen als parteipolitisch nicht gebunden ein. Sie vor allem müssen durch das Programm- und Personalangebot der konkurrierenden Parteien erst gewonnen werden. Red. Die Wähler scheinen auf den Geschmack gekommen zu sein Bundestagswahlen werfen lange vor dem Wahltermin ihren Schatten voraus und sie sorgen noch lange danach für Gesprächsstoff. Dies gilt vor allem für die letzte Bundestagswahl ´98, die sehr viel Bewegung in die politische Landschaft der Bundesrepublik brachte. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde am 27. September 1998 eine amtierende Bundesregierung abgewählt. Die Union verzeichnete seinerzeit ihre bislang größten bei einer Bundestagswahl erlittenen Verluste, die SPD ihre bis dato größten Gewinne.
Die Wähler sind offenbar auf den Geschmack gekommen, was sie mit ihrer Stimme bewirken können, denn auch in der Folgezeit sorgten sie bei mancher Landtagswahl mit ihrer Wahlentscheidung für Turbulenzen:
Fasst man einmal jeweils die 10 höchsten Verluste und Gewinne, die jemals bei Wahlen seit 1950 gemessen wurden, zusammen, so wird deutlich, dass es sich dabei zwar um die beiden Extremwerte handelt, die aber einen Trend verdeutlichen: Erdrutschartige Siege und Niederlagen häufen sich inzwischen
Wie man aus der Übersicht ersehen kann, häufen sich seit Beginn der 90er-Jahre erdrutschartige Siege und Niederlagen in auffälliger Weise. Vergleichbare Verschiebungen bei Wahlen gab es allenfalls in der Frühphase der Bundesrepublik, als das deutsche Parteiensystem erst allmählich seine Konturen herausbildete, die gekennzeichnet sind von der überdeutlichen Dominanz der beiden Volksparteien SPD und CDU/CSU und einer ansonsten recht überschaubaren Anzahl relevanter Parteien. Auf Landesebene zeigt sich der Trend sogar noch deutlicher
In den Siebzigerjahren vermochten Union und SPD bei Bundestagswahlen
noch über 90 % der Stimmen auf sich zu vereinen, zuletzt auf Bundesebene nur noch gut drei Viertel. Gleichzeitig stieg seit den Siebzigerjahren die Zahl der im Bundestag vertretenen Parteien von drei auf 5. Tendenziell werden damit die Mehrheitsverhältnisse im Parlament weniger klar und die Regierungsbildung schwieriger. Abnehmende Stammwählerschaft Die Veränderungen in der Parteienstruktur und der härtere Wettbewerb zwischen den Parteien gehen auf der individuellen Ebene einher mit Veränderungen im Wahlverhalten im Sinne einer zunehmenden Volatilität: Eine wachsende Zahl von Wählern wechselt von einer Wahlperiode zur anderen die Parteipräferenz. Dieser Trend lässt sich zwar seit langem beobachten, hat sich aber in den letzten Jahren noch einmal deutlich beschleunigt, wie einige Befunde unserer Wahltagsbefragung zur Bundestagswahl 1998 zeigen: Diese Tendenz einer kontinuierlich an Bedeutung abnehmenden Stammwählerschaft findet in den Ergebnissen einer Langzeitanalyse der Konrad Adenauer Stiftung (KAS) eine empirische Bestätigung. Demnach sank der Anteil der Stammwähler von CDU/CSU und SPD auf zuletzt jeweils rund 10 % - der Wahlberechtigten. Gleichzeitig stieg der Anteil der parteipolitisch Ungebundenen seit 1990 von 22 auf 47 %. Gleichzeitig zunehmende Wahlenthaltung
Nicht nur die Volatilität, die Bereitschaft zum Parteiwechsel, ist in den letzten Wahlen deutlich gestiegen, zugenommen hat auch die Bereitschaft der Bürger, einer Wahl fernzubleiben. Problematisch ist, dass eher "einfache Leute" der Wahl fernbleiben Problematischer erscheint allerdings, dass die Beteiligung in bestimmten Bevölkerungsgruppen stärker sinkt als in anderen. Vor allem die "einfachen Leute" bleiben immer häufiger Wahlen "2. Ordnung" oder "3. Ordnung" (Kommunalwahlen, Europawahl) fern. Sie teilen auch weit häufiger als andere die Überzeugung, dass ihre Stimme ja doch nichts ändere und dass sich zudem keine Partei für ihre Interessen einsetze. Verfestigt sich dieses Gefühl, neigen diese Wählergruppen nicht zuletzt bei Landtagswahlen dazu, aus Protest kleine oder neu auftretende Parteien zu wählen oder der Wahl ganz fernzubleiben. Dafür bietet wiederum die Hamburger Wahl ein gutes Beispiel. Dort wurden über die Jahre die Sicherheitsbedürfnisse gerade auch der Bewohner in den Problemvierteln vernachlässigt. Enttäuscht von beiden Volksparteien und ohne Alternative - ein gestandener Arbeiter wählt selten die Grünen oder die FDP und im Westen auch nicht die PDS - wendeten sich viele der neu formierten Schill-Partei zu, die ein Thema in den Mittelpunkt ihres sicherlich populistischen Wahlprogramms stellte: die Bekämpfung der Kriminalität. Hinzu kam, dass die Schillpartei einen im Sinne der zentralen programmatischen Aussage glaubwürdigen Spitzenkandidat aufbot: den ehemaligen Richter Ronald Schill. Der Schillpartei gelang es, in traditionelle Wählerschichten von SPD und CDU einzubrechen, und sie vermochte darüber hinaus auch in hoher Zahl Nichtwähler zu mobilisieren.
Das Ausmaß der damit verbunden Verschiebungen macht ein Blick auf eines der Problemgebiete deutlich: im Stadtteil Wilhelmsburg sank der Anteil der SPD innerhalb der letzten 10 Jahre von rund 60 auf 35 Prozent, während Schill
dort auf Anhieb einen Stimmenanteil von über 30 Prozent erzielte. Grundlegende strukturelle Veränderungen der Wählerschaft Wie das Beispiel Hamburgs und auch Berlins zeigen, haben an derartigen Entwicklungen in erster Linie die jeweils regierenden Parteien Anteil, die klar erkennbare Zeichen nicht wahrnehmen wollten oder andere Versäumnisse zu verantworten haben, wie die Bankenkrise in Berlin. Die steigende Volatilität hat aber tiefere Ursachen, ihr liegen grundlegende strukturelle Veränderungen des Wahlkörpers zugrunde:
Sachthemen und Personen gewinnen zunehmend an Bedeutung In dem Maße, wie sich tradierte Parteibindungen abschwächen, gewinnen Sachthemen und auch Personen für die Wahlentscheidung an Bedeutung. Dies belegen eine Reihe empirischer Langzeitanalysen, und dies bestätigte sich sehr eindrücklich bei der letzten Bundestagswahl: Eine grundlegende Analyse aller für die Wahlentscheidung relevanter Aspekte ergab, dass vor allen anderen drei Faktoren ausschlaggebend für den Wahlsieg der SPD waren:
Vor der Bundestagswahl 2002 Wie sieht nun, vor der Bundestagswahl 2002, die Ausgangssituation für die Parteien aus? Welcher Partei gelingt diesmal eine Optimierung dieses Dreiklangs: Sachkompetenz, Personenpräferenz und Mobilisierung der eigenen Wählerklientel? Über die Mobilisierungsfähigkeit der Parteien lässt sich aus heutiger Sicht nur spekulieren: Sie wird zum einen von einer erfolgreichen Wahlkampfführung abhängen. Hier hat sicherlich die SPD bei der Bundestagswahl 1998 Maßstäbe für eine erfolgreiche Wahlkampagne gesetzt, an denen sich die anderen Parteien orientieren werden. Angesichts der großen Unzufriedenheit mit der bürgerlichen Koalition und der weitverbreiteten Wechselstimmung nach 16 Jahren Kohl fiel ihr aus der Oppositionsrolle heraus die Mobilisierung allerdings auch relativ leicht. Als Regierungspartei ist die strategische Ausgangsposition für die SPD ungleich schwerer als vor vier Jahren, denn sie muss nun die Wähler durch ihre Regierungspolitik überzeugen, um eine Verlängerung ihres Mandats für weitere vier Jahre zu erreichen. Dies gelang ihr bis Ende 2001 offenbar recht gut, wenn man die Sonntagsfrage als Maßstab nimmt. Denn seit Anfang 2000 bis Ende 2001 lag die SPD in der Wählergunst mehr oder weniger deutlich vor der Union. Nach den Ereignissen des 11. September wuchs dieser Vorsprung zuletzt noch einmal auf beachtliche 6 Punkte - nicht zuletzt Ausdruck der breiten Akzeptanz, auf die die außen- und sicherheitspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung in der Bevölkerung stießen. Der Kanzler und die in der Krise besonders gefordert gewesenen Minister Fischer und Schily verzeichneten im Herbst 2001 höchste Zustimmungswerte. Mit dem Jahreswechsel ging aber ein deutlicher Stimmungswechsel einher. Erstmals seit langer Zeit lag die Union Ende Dezember 2001 in der Wählergunst wieder vor der SPD und konnte diesen Vorsprung bis Anfang Februar auf 41 gegenüber 36 Prozent für die SPD ausbauen. Worauf ist der Stimmungswechsel zurückzuführen? Ein ganz wesentlicher Grund für diesen Stimmungsumschwung zugunsten der Union lag darin, dass die Zufriedenheit mit der Bundesregierung auf einen Tiefpunkt sank. Selbst im rot-grünen Wählerlager mehrten sich die kritischen Stimmen. Dabei handelte es sich aber eher um keine grundlegend veränderte Beurteilung der rot-grünen Koalition, denn die Bilanz der Regierung fiel auch die Jahre zuvor eher durchwachsen, allerdings deutlich besser als in den letzten Jahren der Kohlregierung aus. Im Februar erreichte die Kritik an der Bundesregierung angesichts anhaltender wirtschaftlicher Probleme und weiter steigender Arbeitslosenzahlen einen neuen Höhepunkt. Die relativ hohe Unzufriedenheit mit der Arbeit der Bundesregierung wurde bislang aber mehr als kompensiert durch das geringe Vertrauen in die Union. Seit Januar zeichnet sich aber für die Union eine Wende zum Besseren ab. Zuletzt stieg der Anteil derer, die der CDU/CSU zutrauen, mit den anstehenden Problemen besser fertig zu werden als die Bundesregierung, auf 35 Prozent. Anders als beim Regierungswechsel 1998 wird dies allerdings nach wie vor von einer deutlichen Mehrheit bezweifelt.
Die wichtigsten Probleme - und wem man deren Lösung zutraut
In dem langsam steigenden Zutrauen in die Union, die Probleme besser lösen zu können als die Bundesregierung, spiegelt sich ein den Unionsparteien zugeschriebener Kompetenzzuwachsein den Bereichen wieder, die den Bürgern besonders am Herzen liegen. Die von den Bürgern angeführte Problemagenda gleicht dabei in entscheidenden Punkten der vor vier
Jahren: Aufschwung der Union mit Stoiber
Der Aufschwung der Union hat schließlich auch mit dem neuen Spitzenkandidaten, Edmund Stoiber, zu tun. Der bayerische Ministerpräsident gilt in eben den Politikfeldern als kompetent, die derzeit im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion stehen: in der Wirtschaftspolitik, bei der Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen sowie darüber hinaus beim Thema innere Sicherheit und Zuwanderung. In all diesen Feldern wird Stoiber derzeit ein Kompetenzvorsprung vor Gerhard Schröder zugeschrieben. Der Wahlausgang verspricht spannend zu werden
Die verschiedenen Befunde sind also alles andere als eindeutig. Die Bundesregierung steht zwar derzeit heftig in der Kritik, ihre wichtigsten Repräsentanten erfreuen sich aber nach wie vor einer bemerkenswert hohen Beliebtheit. Anders als 1998
ist derzeit auch keine Wechselstimmung auszumachen. Bei der entscheidenden Frage, welche Partei die nächste Bundesregierung anführen soll, sind sich die
Deutschen zu Beginn des Jahres uneins:
44 Prozent sprechen sich für einen Wechsel zugunsten der Union aus, 46 Prozent plädieren für die Fortführung einer SPD-geführten Regierung.
|
|||
Thema des nächstes Heftes:
Mobilität in Deutschland
Copyright © 2001 LpB Baden-Württemberg HOME |
Kontakt / Vorschläge / Verbesserungen bitte an: lpb@lpb-bw.de |