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Bundestagswahlen
in Deutschland

Die SPD in der Sinnkrise

Vom Wählerspagat zur "Neuen Mitte": die SPD

Die Zukunftsaussichten der SPD

Von Franz Walter



 

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Prof. Dr. Franz Walter lehrt Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

Ein kräftiger Wählerspagat war notwendig, damit die SPD die Bundestagswahlen von 1998 gewinnen konnte. Allzu heterogen war ihre Anhängerschaft, gleichzeitig waren die Traditionsmilieus der Sozialdemokraten kräftig geschrumpft, zum Teil hatten sie sich auch abgewandt. Die Aktivisten der Partei hingegen waren relativ homogen und seit den Zeiten von Helmut Schmidt ziemlich gleich geblieben: Es war die Generation der 68er, nunmehr jedoch "erwachsen" geworden, pragmatischer, aber auch älter und müder. Sie ließen sich zum Kanzlerwahlverein machen. Der Nachwuchs fehlt jedoch, mehr noch mangelt es an Zukunftsprojekten, die die Mitgliedschaft mobilisieren könnte. Doch hat die SPD gute Aussichten, die Partei der neuen Alten zu werden, geburtenstarke Jahrgänge und Nutznießer der Bildungsexpansion, denen die SPD behutsame Innovation bei gleichzeitiger sozialer Sicherheit versprechen kann.           Red.

 

Eigentlich überraschend:
die Rückkehr der SPD an die Macht

Im ersten Quartal des Wahljahres 2002 konnte man oft lange Gesichter bei den Matadoren in der sozialdemokratischen Wahlkampfzentrale sehen. Über etliche Monate zuvor hatten sich die Strategen der SPD nach der Parteienfinanzierungskrise der gegnerischen CDU schon als sichere Sieger gefühlt. Doch dann, nachdem die Union die Kanzlerkandidatenfrage geklärt hatte, zog die CDU/CSU ohne besondere Anstrengungen (oder auch Leistungen) an den Sozialdemokraten vorbei - zumindest in den Erhebungen der Umfrageinstitute, von Forsa bis Allensbach, von der Forschungsgruppe Wahlen bis
Infratest dimap. Es ist nach wie vor also
keineswegs sicher, dass die SPD nach dem 22. 9. 2002 in die Bundesregierung zurückkehren, abermals den Kanzler dieser Republik stellen wird. Indes: Dass die Sozialdemokraten derzeit überhaupt regieren, ist im Grunde überraschend genug. Denn in den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren gab es genug brillante Denker und kluge Deuter des Politischen, die das Ende der sozialdemokratischen Ära ausgerufen hatten. Von einer strukturellen Mehrheitsunfähigkeit der Sozialdemokraten war auch in Pressekommentaren, ebenso in Politologenbeiträgen häufig genug die Rede.

Auseinander laufende
Wählersegmente bei gleichzeitiger Uniformität der Aktivisten

Und das alles schien ja auch keineswegs unplausibel. Die Kumulation der Probleme, die den Sozialdemokraten zu schaffen machten, waren - und sind im Übrigen - in der Tat beträchtlich. Da gab es zunächst und vor allem den sozialen und ökonomischen Wandel der bundesdeutschen
Gesellschaft insgesamt seit den Siebzigerjahren. Die altindustriellen Strukturen brachen weg, die Zechen verschwanden, die Hochöfen und Werften wurden stillgelegt. Das zehrte die historischen, gleichsam natürlichen Ressourcen der Sozialdemokratie auf. Im Zuge der öffentlichen Finanzknappheiten und antistaatlichen
Deregulierungstrends seit etwa 1978 schrumpfte überdies der öffentliche Dienst und damit das berufliche Fundament der sozialdemokratischen Kader, Funktionäre, Eliten. Hinzu kam die kulturelle Enthomogenisierung der bundesdeutschen Arbeitnehmergesellschaft, was oft im trivialsoziologischen Jargon als Individualisierung und Pluralisierung bezeichnet wird. In diesem Prozess jedenfalls spreizte sich das Anhängerpotenzial der SPD in extrem heterogene Lebensstilgruppen, die zusammen nur schwer integrierbar waren, da sie vom ökopazifistischen und kosmopolitischen Studienrat bis zum mehr konsumistischen und eher ausländerfeindlichen Unterschichtangehörigen reichten. Keine andere bundesdeutsche Partei hatte eine so in sich widersprüchliche Wählerschaft wie die Sozialdemokraten; nirgendwo sonst waren die politischen Optionen, Lebenslagen und Einstellungen so vielfältig, gegenläufig, ja nicht selten einander feindlich wie hier im Lager der SPD.

Der dadurch notwendige weite Spagat zwischen den verschiedenen Segmenten ihrer Anhängerschaften gelang der SPD zunehmend weniger. Schon zu Beginn
der 70er-Jahre liefen ihr infolgedessen die markt- und produktionsorientierten Mittelschichten (die "Schillerwähler" von 1969) von den Fahnen; Anfang der 80er Jahre konvertierten dann die Postmaterialisten zur neuen Partei der "Grünen"; und Ende der 80er-Jahre kündigten auch zahlreiche Arbeiter und Arbeitslose ihre Loyalität zur SPD auf und protestierten an den Urnen zuweilen rechtspopulistisch. Und ein weiteres Problem der SPD war, dass sie sich in ihrem Aktivistenbereich, trotz der mentalen Vielfalt ihrer Wähler- und Anhängergruppen, auf eine einzige Generation mit einem nahezu uniformen kulturellen, politischen, habituellen und semantischen Ausdruck verengt und vereinseitigt hatte. In der SPD der 80er- und 90er-Jahre dominierte ganz und gar die 68er-Kohorte, die Jahrgänge der so genannten Brandt-Enkel, die Juso-Rebellen der 70er-Jahre mit ihren eher spielerischen Launen, mit ihren kapriziösen Sprunghaftigkeiten und mit ihrer oft genug intrigenreichen Binnenkonkurrenz. All das machte die chronische Krise der deutschen Sozialdemokraten spätesten ab 1982 bis in die zweite Hälfte der 1990er-Jahre aus.

Der Spagat verlangte eine furiose Mischung aus Semantik,
Symbolik und Personalität

Nun aber war keiner dieser Belastungsfaktoren - der Zerfall des klassischen Milieus, die Desintegration der Wählersegmente, die Dominanz und Unberechenbarkeit der 68er-Generation - 1998 urplötzlich verschwunden. Und doch gewann die SPD damals die Bundestagswahlen. Das lag keineswegs nur am "Medienfaktor Schröder", wie man gerade unter Journalisten gern kolportierte und sich im Lager der Union bevorzugt über die eigene bittere Niederlage hinweg zu trösten versuchte. Vielmehr hatten auch professionelle und kluge Interpreten der Parteienlandschaft über Jahre ignoriert, dass sich eben doch in der SPD etwas verändert hatte, dass sie zwar in der Tat viele der erwähnten Defizite mit sich herumschleppte, dass die Partei unterdessen aber auch einige strategische Vorteile herausgebildet hatte, die am Ende eines langen Prozesses in den Wahlsieg von 1998 mündeten - ohne dass aber dadurch der parallel laufende Prozess der Erosion des klassischen Sozialdemokratischen gestoppt wäre; im Gegenteil.
Verändert jedenfalls hatte sich im Laufe der 90er-Jahre - erstens - die 68er-Generation in der Führungsgruppe der SPD. Es hatte sich zwar bemerkenswert lange hingezogen, dann aber waren doch die meisten der "Enkel" Willy Brandts erwachsen geworden, auch durch Niederlagen und Rückschläge gereift, durch Regierungsverantwortung in die Mitte gerückt, pragmatischer geworden. Gelernt hatte die sozialdemokratische Parteielite 1998 - zweitens - nach vielen vergeblichen Versuchen das Management der Wählerintegration in Zeiten des Wahlkampfes. Das hatten sie nun der Union voraus, die in den 90er-Jahren verspätet ebenfalls mit dem Problem heterogener Einstellungen in ihrem Elektorat zu tun bekam. Die Sozialdemokraten inszenierten eine furiose Mischung aus Semantik, Symbolik und Personalität, um Traditionalisten und Modernisierer, Gewerkschafter und Firmengründer, Apologeten des Sozialstaats und Herolde der Eigenverantwortung unter einen Hut zu bringen. Das gelang der SPD so erstmals wieder seit den Zeiten Brandts und Schmidts. Profitiert hatte die SPD - drittens - ebenfalls erstmals seit der sozialliberalen Zeit von ihrem traditionellen Basis-Issue der "sozialen Gerechtigkeit". Seit jeher hatte die SPD mit diesem Slogan das Bündnis von Mittel- und Unterschichten zu schmieden versucht, allerdings nur ganz selten mit Erfolg, da sich die saturierte Mitte keineswegs mit den Opfern des Kapitalismus und Bewohnern der gesellschaftlichen Souterrains identifizierte oder solidarisierte. Doch seit Mitte der 90er-Jahre fürchtete sich die "Mitte" der deutschen Gesellschaft vor dem sozialen Abstieg, sorgte sich um den Erhalt der sozialstaatlichen Sicherungssysteme, klammerte sich daher am sozialdemokratischen Schutzversprechen. Das hatte - viertens - nicht zuletzt damit zu tun, dass sich die Mitte der Gesellschaft allmählich verändert hatte.

In der Tat eine "neue Mitte", in der Kohl nicht mehr recht ankam

Pm Zentrum der Republik standen die Zugehörigen der 1940er-, 1950er- und 1960er-Geburtenjahrgänge, die 1998 die gesellschaftlich tragende Schicht der Eltern und Berufstätigen bildeten. Das war in der Tat im Vergleich zu den Generationen davor, die durch die Republik von Weimar, den Nationalsozialismus, die Ära Adenauer sozialisiert worden waren, eine "neue Mitte". Denn diese neue Mitte war in großen Teilen geprägt durch die sozialliberale Ära der Bildungsreform, der Expansion des Wohlfahrtsstaates und des Ausbaus des öffentlichen Sektors, besonders in den Humandienstleistungsbereichen. Sie war geprägt oder vorgeformt durch 1968, durch allerlei Emanzipationswellen, durch Partizipationsansprüche, durch die Popkultur und den Wertewandel, in ihren jüngeren Kohorten auch und vor allem durch die sozialen Bewegungen und Konflikte der späten 70er- und frühen 80er-Jahre.
In dieser neuen Generationen-Mitte kamen Rhetorik, Sprachbilder und Habitus von Helmut Kohl nicht mehr recht an; die "Mittigkeit" hatte sich kulturell verändert, was ganz erheblich zu den Stimmeneinbußen der Union 1998 und auch weit schon davor beigetragen hatte. In dieser Generation, in dieser neuen Mitte - vor allem der Jahrgänge 1950 bis 1967 - gab es für Rote und Grüne bereits seit der ersten Hälfte der 80er-Jahre und danach weiterhin konstant eine stabile Mehrheit. Nirgendwo sonst war das bürgerliche Lager so schwach vertreten wie in den quantitativ starken Altersgruppe der letzten Baby-Boomer der Republik. In der sozialliberal geprägten neuen Mitte der Gesellschaft hatte sich das Wahlergebnis von 1998 schon seit den 80er-Jahren aufgebaut, zuerst in den Ländern und Kommunen, dann schließlich im Bund. So konnte Schröder Kanzler werden.

Warum der Pragmatiker Schröder nicht wie Helmut Schmidt scheiterte

Und schließlich wurde Gerhard Schröder, im April 1999 nach dem Abgang von Oskar Lafontaine, auch noch Vorsitzender der deutschen Sozialdemokraten. Die SPD wurde zur Schröder-SPD. Manche Beobachter sprechen mittlerweile gar von einem Kanzlerwahlverein, so sehr ist die SPD gegenwärtig auf die Politik des Kanzler zugeschnitten. Das hat ursprünglich, bei der Wahl Schröders in den Parteivorsitz, nicht jeder erwartet. Schließlich war Schröder nicht als treuer und folgsamer Parteisoldat ganz nach oben gekommen. Im Gegenteil, Schröder hatte Karriere gemacht, weil er sich in den Medien als unabhängiger Politiker feiern ließ, der sich an enge Parteidogmen nicht hielt, der sich von verkrusteten Parteigremien nichts diktieren ließ, der von drögen Parteichefs nicht in die Pflicht und an die kurze Leine zu nehmen war. Schröder und die SPD - das war lange kein inniges Liebesverhältnis, das war auch im Wahljahr 1998 noch ein kühl durchkalkuliertes Zweckbündnis für den politischen Erfolg.

Und so rechneten im Frühjahr 1999 nicht wenige Kommentatoren damit, dass der neuer Parteivorsitzende im Kanzleramt und seine bis dahin schon seit ewigen Zeiten verlässlich störrische Partei heftig aneinander geraten würden. Man erinnerte in diesem Zusammenhang gerne an die letzten Jahre der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt, an all die oft sonderbaren, immer jedenfalls turbulenten, mitunter gar unversöhnlichen Konflikte zwischen den mehrheitlich ungestüm reformistischen sozialdemokratischen Aktivisten und einem sozialdemokratischen Kanzler, der auf Regierungszwänge, wirtschaftliche Nöte und schwierige Machbarkeiten - häufig genug vergeblich - hinwies. Schröder war von einem ähnlichen Zuschnitt wie Schmidt, ebenfalls ein Pragmatiker, ebenfalls ein Freund der Wirtschaftskapitäne, ebenfalls indifferent gegenüber den kanonisierten Lehrsätzen des demokratischen Sozialismus. Schmidt scheiterte zuletzt am Dauerkonflikt mit seiner obstinaten Partei. So fürchteten nun die einen, so hofften jetzt die andern, so spekulierten Anfang 1999 in jedem Fall viele, dass auch Schröder in ähnlich schweres Gewässer geraten würde.

Älter und müder: Die SPD mutierte zum Kanzlerwahlverein

Aber so einfach wiederholt Geschichte sich bekanntermaßen nicht. Schröder wurde nicht zum zweiten Helmut Schmidt. Paradoxerweise profitierte Schröder davon, dass die SPD so blieb, wie sie zwei Jahrzehnte gewesen war - und sich eben dadurch verändert hatte. Schröder hatte nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden ganz überwiegend noch mit der gleichen Aktivisten- und Funktionärskohorte zu tun wie schon Schmidt, also den viel zitierten sozialdemokratischen 68ern. Aber diese Gruppe war gemeinsam mit Schröder seit den Zeiten der späten sozial-liberalen Koalition um ein Fünfteljahrhundert älter geworden, also auch müder, vielfach resignierter, positiver formuliert: reifer und erfahrener. Unter Schmidt waren sie noch jung, radikal und rebellisch, bastelten sie begeistert am Modell einer systemüberwindenden Reform, marschierten sie bei allen Demonstrationen der damaligen ökopazifistischen Bewegungen mit, auch wenn diese sich gegen die Ziele der eigenen Regierung richteten.
Von diesem Impetus indessen war nicht mehr viel übrig, als 1999 Schröder an die Spitze der SPD trat. Man war insgesamt um 20 Jahre gealtert, glaubte nun nicht mehr recht an die großen Versprechungen des demokratischen Sozialismus, an die kühnen Pläne zur Veränderung des Kapitalismus. Und für anstrengende Demonstrationsmärsche reichte oft ganz einfach die körperliche Fitness nicht mehr aus bei den inzwischen über fünfzigjährigen Frauen und Männern im Funktionärscorps der Sozialdemokratie. Viele von ihnen waren überdies seit den späten 80er-Jahren in exekutive Verantwortung von Kommunen und Ländern gelangt, waren dadurch politisch ernüchtert und desillusioniert, hatten sich von linken zu eher mittleren Positionen gewandelt. Die frühere Linksopposition in der SPD zu Zeiten von Helmut Schmidt war also im biografischen Gleichschritt einer ganzen Generation in das politische Zentrum gerückt. Eine neue Linke hatte sich in der SPD nicht entwickelt, dafür war die Dominanz der 68er in der Partei über zwei Jahrzehnte zu stark, zu übermächtig. So gab es da keinen charismatischen Theoretiker und demagogischen Agitator der Linken mehr, keinen zeitgemäßen Eppler oder neuen Lafontaine, der Schröder in innerparteilichen Schlachten in die Bredouille hätte bringen können. Es gab überhaupt keine Diskussionsschlachten in der SPD mehr. Kurzum: Schröder profitierte von einer SPD, die sich im Aktivistenbereich seit Schmidt personell kaum verändert hatte, dadurch aber politisch und mental ganz anders geworden war: ruhiger, moderater, ohne den Eifer und Drang zur Rebellion oder Obstruktion.
Auf diese Weise bekam Schröder die geschlossene und folgsame Partei, die Schmidt sich immer gewünscht, aber nie zur Verfügung hatte. Die Sozialdemokraten vollzogen diszipliniert nach, was der Kanzler vorgab: von der durchaus überraschenden, rhetorisch und konzeptionell in all den langen Oppositionsjahren nie vorbereiteten Konsolidierungspolitik des Finanzministers Eichel über die law-and- order-Zackigkeiten des Innenministers Schily bis hin zu den militärischen Auslandseinsätzen der Bundeswehr. All das wäre wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen, wäre vom Gros der aktiven Sozialdemokraten noch in dem einen Fall als herzloser Neoliberalismus, in den anderen Fällen als übler Rechtskonservatismus oder Militarismus gegeißelt worden. Nun aber schwieg die Partei. Sie segnete auf Parteitagen fast widerspruchslos ab, was Schröder vorgab und sein Generalsekretär Müntefering in Kampfparolen fasste. In dieser Hinsicht hatte es Schröder in der Tat leichter als alle sozialdemokratische Kanzler vor ihm, von Philipp Scheidemann bis Helmut Schmidt, die sich immer mit einer sperrigen, diskussionsfreudigen, oppositionsgeneigten Partei- und Aktivistenbasis plagen und balgen mussten. Das war zum Ende der 1990er-Jahre, zum Ende also des zwanzigsten Jahrhunderts anders geworden, bedeutete für die SPD eine historische Zäsur. Sie war nun berechenbar, für den Parteichef vergleichsweise leicht zu steuern, war weniger links und stärker gouvernemental als je zuvor in ihrer langen Geschichte.

Doch damit zugleich sinnentleert und mobilisierungsschwach

Für den Kanzler war das gewiss höchst erfreulich. Für die Zukunft der SPD aber war - und ist - es doch nicht unbedenklich. Denn die SPD ist zum Kanzlerwahlverein nicht vorwiegend oder allein deshalb geworden, weil sie ihre historische Lektion aus dem Scheitern Helmut Schmidts reflexiv gelernt hätte, weil sie also vernünftiger, politisch rationaler, kraftvoll pragmatischer geworden wäre. Sie ist vor allem darum Kanzlerwahlverein, weil sie als Partei an eigener Substanz, Dynamik, Verve, Vorstellung und Fantasie, ja an Autonomie und Eigensinn verloren hat. Anders und noch schärfer formuliert: Die SPD bereitet dem Kanzler keine Schwierigkeiten mehr, weil es ihr an Energie, an Leidenschaften, an konzeptioneller Kreativität dafür fehlt. Sie stellt sich auch deswegen nicht gegen Schröder, weil sie dafür zu müde, zu erschöpft, zu ermattet ist. Die Sozialdemokraten der 68er-Generation sind nach dreißig Jahren oft wilder innerparteilicher Kämpfe, intrigenreicher Kungelrunden und zeitfressender Gremiensitzungen ausgebrannt, verschlissen, in großen Teilen resigniert. Vielleicht gerade aus diesem Grund kamen sie an die Macht. Als bunte, dabei eben ein wenig chaotische, zuweilen schrille Partei der Flügelkämpfe und Programmdispute traute ihr eine Mehrheit der Wähler die Regierungsfähigkeit nicht zu. Erst als der Elan der Flügel erlahmte, als das alte Pathos des Sozialismus verstummte, als das emotionale Feuer sozialdemokratischer Parteitagsdelegierter erlosch, erst dann öffnete sich für die SPD das Tor zur Regierung. Erst dadurch erschien sie nicht mehr als unzuverlässige "lose verkoppelte Anarchie", als verwirrend vielstimmiger Chor aus Richtungen, Grüppchen, Arbeitsgemeinschaften und Debattierzirkel. Erst das machte sie zur regierungsfähigen Kanzlerunterstützungstruppe.

Anders als früher fehlen nun die großen Leitvorstellungen

Doch ist das nun für die Sozialdemokratie und auch für den Kanzler nicht ohne Tücken. Schröder braucht die erschlaffte Partei nicht als Widerlager zu fürchten, aber er kann sie zum Zwecke der Wahlmobilisierung auch nicht recht nutzen. Dafür ist die SPD in den letzten Jahren zu sehr deaktiviert worden, dafür sind ihre Mitglieder zu passiv, zu unmotiviert, ja zu ratlos geworden. Den Sozialdemokraten fehlt gegenwärtig das große Thema, das mitreißende Projekt, die Zukunftsidee, was man wohl braucht, um sich politisch ehrenamtlich zu engagieren, um Samstag für Samstag die Tapeziertische in den Fußgängerzonen der Innenstädte aufzustellen und sich von den chronischen Nörglern der Republik unflätig beschimpfen zu lassen. Politischer Aktivismus setzt Sinn und Ziel voraus. Aber Begründung und Perspektive des Sozialismus sind vielen Mitgliedern der SPD seit den späten 1980er Jahren zweifelhaft geworden. Und so wirkt die traditionell aktivistische Partei zuletzt eher passiv, nahezu gelähmt, nicht fähig zur Kampagne.

Repräsentativ
ist auch die Parteizentrale der SPD in Berlin, das Willy-Brandt-Haus, mit einer Plastik des charismatischen Parteiführers und ehemaligen Bundeskanzlers, 3,40 m hoch, in Bronze. Foto: dpa-Fotoreport

Das war viele Jahrzehnte anders. Mehrere Generationen von Sozialdemokraten waren sich ihrer Sache stets und unverzagt sicher, waren fest von den Vorzügen und dem historischen Fortschritt einer sozialistischen Gesellschaft, später dann der sozialen Demokratie überzeugt. Eben diese unbeirrbare Überzeugung lieferte den Antriebsstoff dafür, Funktionen zu übernehmen, Freizeit zu opfern, neue Anhänger zu werben, auch lange Strecken der Opposition und des chronischen Misserfolges auszuhalten. Bis in die späten 80er Jahre dauerte das an. Bis dahin hatten die Sozialdemokraten ganz selbstverständlich die Begriffe und Leitziele parat, die ihrem politischen Tun Sinn und Legitimation verliehen. Die sozialdemokratischen Aktivisten fochten für mehr wirtschaftliche Mitbestimmung, setzten sich für eine stärkere demokratische Rahmenplanung der Ökonomie ein, plädierten in Teilen für eine staatliche Lenkung der Investitionen, waren fast durchweg für eine gewaltfreie Außenpolitik und redeten in jenen Jahren kurz vor der deutschen Einigung viel von der sozialökologischen Reform.
Binnen weniger Jahre verflog, auch für die Sozialdemokraten selbst, der Charme und die Aura all dieser Leitvorstellungen. Der ideologische Siegeszug der neoliberalen Semantik, die tiefe Finanzierungskrise der Wohlfahrtsstaaten, in einer gewissen Weise auch das völlige Scheitern der staatssozialistischen Systeme, schließlich die Rückkehr des Krieges nach Zentraleuropa drängten den Ethos der sozialdemokratischen 68er aus den 70er- und 80er-Jahren in die Defensive, diskreditierten und falsifizierten ihn auch partiell. So standen die sozialdemokratischen Aktivisten diesseits ihres Appells an die soziale Gerechtigkeit ideologisch gleichsam nackt da, ohne ihre traditionsgesättigte Sprache, ohne ihre überlieferten Bilder und Formeln, ohne die Zukunftsgewissheit, die doch gerade für Sozialdemokraten Elixier und Überlebensmedizin in historisch harten Zeiten war.

Nach Lafontaine kam die Wende rückwärts

Die rot-grüne Regierung, die Kanzlerschaft Schröders hat diese Erosion sozialdemokratischer Identitäten gar noch verstärkt. Nur in den ersten Monaten von Rot-Grün schien die vertraute Welt noch in Ordnung. Die Lafontaine-SPD realisierte in der Regierung in der Tat all das, was sie in all den Jahren zuvor versprochen hatte. Sie setzte den demografischen Faktor in der Rentenreform von 1997 aus, revidierte die Lockerung des Kündigungsschutzes, nahm die Minderung der gesetzlichen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zurück, korrigierte die finanzielle Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen. Sozial- und finanzpolitisch agierte sie also gut linkskeynsianisch, setzte auf expansive Nachfragepolitik. Doch mit dem Abgang von Lafontaine war das alles vorbei. Es folgte die Wende rückwärts. Autoritätspolitik war angesagt. Und auch außenpolitisch wechselten die Sozialdemokraten ihren Kurs, stimmten für Bundeswehreinsätze in Bosnien und Afghanistan. Dies mochte richtig gewesen sein oder falsch. Es war jedenfalls ein Bruch mit der alten sozialdemokratischen Vorstellungswelt, auch mit langjährigen Parolen, Maximen, Versprechen der sozialdemokratischen 68er-Generation.

Die sozialdemokratischen Anführer im Kabinett waren diesen Weg wohl nicht zuletzt auch deshalb gegangen, weil der Handlungsdruck von exzessiver Staatsverschuldung, überhöhten Lohnnebenkosten, massiven Investitionsschwächen der deutschen Wirtschaft, riesigen demografischen Zukunftsproblemen und auswärtigen Bündnisverpflichtungen sie dazu zwangen. Zurück aber blieb eine ratlose, verunsicherte sozialdemokratische Basis, die ihre bisherigen Gewissheiten verloren hatte, die die Erklärung für den Sinn ihrer politischen Biografie nicht mehr fand. So ist es nun einmal: Wer am Sinn seines Tuns zweifelt, dem fehlt die Passion, die Begeisterung, die Ausstrahlung und Vitalität, um für seine Organisation überzeugend und gewinnend zu werben. Eben das war der Sozialdemokratie seit dem Frühjahr 1999 anzumerken. Sie war mangels inneren Eigensinns kein Störfaktor mehr für den Kanzler, das hatte er Schmidt und Brandt voraus; sie war angesichts ihres Sinnverlustes aber auch keine mobilisierungsfähige Potenz mehr, aus solchen Kraftquellen konnten Schröders Vorgänger hingegen noch reichlich schöpfen. So hat man dann auf den Marktplätzen der deutschen Republik in den letzten drei Jahren nur wenige Sozialdemokraten gesehen, die die Bürger mit Inbrunst und leuchtenden Augen über die Vorzüge der rot-grünen Steuer- und Rentenpolitik aufklären konnten oder wollten. Noch weniger Sozialdemokraten ließen sich entdecken, die dazu in der Lage waren, den eigenen Wählern plausibel zu machen, dass die Freistellung der Veräußerungsgewinne großer Kapitalgesellschaften von den Steuern durch das Eichel-Ministerium auf das Trefflichste mit dem Versprechen der "sozialen Gerechtigkeit" harmonisierte. Ein ganzes sozialdemokratisches Leben hatten die Parteisoldaten schließlich das Gegenteil von alledem vertreten. So waren sie jetzt artikulationslos, stumm, ohne den Antrieb für die politische Kampagne. Sie wussten wohl, dass die alten Formeln nicht mehr taugten; aber ihnen war schleierhaft, wohin die neue Reise gehen sollten.

Das "neue Unten" macht nicht mehr mit

Dadurch aber gingen eine Reihe von Regional- und Kommunalwahlen, 1999 drastisch auch die Europawahlen verloren. Vor allem in den urbanen Arbeiter- und Arbeitslosenvierteln, den früheren Hochburgen der Sozialdemokraten, war die Abwendung von der SPD, war vor allem das Ausmaß an Wahlabstinenz eklatant. Die immer noch vielfach als Traditionswähler der SPD bezeichneten Unterschichten gehörten längst nicht mehr zu den verlässlichen Stammwählern der Sozialdemokratie. Einige von ihnen hatten sich ganz vom Politischen abgekoppelt, andere wählten zuweilen kühl die je aktuelle Variante des rechten Extremismus, ein Teil votierte weiterhin für die SPD, wenn deren Anführer hinreichend populistisch und machomäßig auftraten bzw. reizvolle versorgungsstaatliche Garantien für diese Klientel in Aussicht stellten.

Für den Wahlerfolg der SPD aber haben die Unterschichten nach wie vor erhebliche Bedeutung. Auch der Sieg bei den Bundestagswahlen 1998 kam allein zustande, weil neben der "neuen Mitte" auch das "neue Unten" im beträchtlichen Umfang den Sozialdemokraten ihre Stimme gab. Doch war das Bündnis von "Mitte" und "Unten" von Beginn an höchst zerbrechlich, war keine sozialkulturell unterfütterte und zusammengeschmiedete Allianz. Wo die einen mit Schröder eher auf Innovation hofften, wünschten sich die anderen von Lafontaine in erster Linie Schutz und Verteidigung. Als die regierenden Sozialdemokraten seit dem Frühjahr 1999 verstärkt auf Sparsamkeit, Eigenverantwortung und Selbstinitiative drangen, wandten sich ganze Scharen der 1998er-Wähler aus den unteren Schichten verärgert ab. Schon die Koalitionsbildung mit den Grünen hatte ihnen nicht recht gefallen. Im "neuen Unten" interessierten Cash-Fragen, nicht postmaterialistische Werte. Mit Homo-Ehe, Atomausstieg und Reform des Staatsbürgerrechts oder gar der Ökosteuer waren die Wähler aus den früheren Traditionsquartieren der Arbeiterbewegung nicht zu versöhnen, nicht zu reaktivieren.

Die selbst geschaffene neue Mitte der Bildungsexpansion

Entscheidend aber war, dass sich diese ehemaligen Traditionsreviere der SPD von organisierten Sozialdemokraten entleert haben. Im Zuge und als Konsequenz der sozialdemokratischen Bildungsreform stiegen etliche hunderttausend von Söhnen und Töchtern sozialdemokratischer Facharbeiter auf und verließen die alten, proletarischen Wohnviertel. Die Zurückgebliebenen verloren so gleichsam ihre politischen, gewerkschaftlichen und auch kulturellen Organisatoren. Und so löste sich zunehmen ihr Kontakt und ihre Bindung zur SPD. Die Sozialdemokratie wurde mehr und mehr zu einer Partei der Aufsteiger aus den Arbeitnehmerschichten, gewissermaßen zur selbst geschaffenen neuen Mitte der Bildungsexpansion. Insofern also ist die SPD in der Tat Partei der Mitte geworden, soziologisch, bildungsstrukturell, auch vom Lebensalter ihrer Kernwähler.

Und Partei der Mitte ist sie ebenfalls im System der parlamentarischen Mehrheits- und Regierungsbildung. Die SPD ist als Scharnierpartei im Zentrum des Parteiensystems bekanntermaßen die Partei mit den meisten Koalitionsoptionen. Das hat ihr einen historisch für sie ganz ungewöhnlich großen Zugewinn an Machtchancen verschafft. Aber es hat das Dilemma der SPD, ihren Verlust an Sinn und Identität, noch verschärft. Denn Mitte-Parteien verlieren an Eindeutigkeit, an programmatischer Schärfe und Substanz; sie müssen, wollen sie die optionalen Karten voll ausspielen, offen nach allen Seiten sein, lavieren, ihr Profil flach halten. Dadurch aber büßen sie an Aura und Ausstrahlung ein, schwächen die emotionalen Bindungen zu Anhängern und Wählern. Man kennt das alles aus der Parlaments- und Parteiengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: Mitte-Parteien ohne festes Wertefundament und stabilen Loyalitäten ihrer Mitglieder geraten rasch in den Sog der Erosion, des Wählerschwunds.

Kein neuer Nachwuchs, kein neuer Leitwolf

Auf der Ebene der Mitglieder hat sich die Schwindsucht in der SPD schon verbreitet. Seit der deutschen Einheit sind den Sozialdemokraten fast 23 % ihrer Mitglieder abhanden gekommen. 1990 waren noch 919 000 Deutsche im Besitz des sozialdemokratischen Parteibuchs, 2001 waren es nur noch 717 500. Derartige Rückgänge, die in anderen Partei ganz ähnlich zu beobachten sind, werden oft und gern als sicheres Zeichen für den unvermeidlichen Niedergang der Volksparteien und aller Großorganisationen schlechthin in postmodernen, individualisierten Gesellschaften gewertet.

Doch ein bisschen übertrieben sind derartige Interpretationen schon, sind zu stark orientiert an den extrem hohen Mitgliederzahlen aus den Zeiten der Überpolitisierung der 1970er- und frühen 1980er-Jahre. Seither tragen die Parteien im Grunde ab, was auch in historischer Perspektive ungewöhnlich stark akkumuliert worden war. Jedenfalls haben die Sozialdemokraten auch gegenwärtig noch in etwa so viele Mitglieder wie zur Mitte der Zwanzigerjahre und rund 150 000 Mitglieder mehr als beispielsweise 1954 - in Zeiten mithin, als die Klassengesellschaft noch stabil, die sozialmoralischen Milieus intakt, das kollektive Organisationsverhalten weit verbreitet war. Auch war die SPD im Jahr 2000 immer noch stärker als im Jahr 1968, also im großen Sturm- und Drangjahr der westdeutschen Republik. So gesehen muss man nicht unbedingt dramatisieren, müssen auch Sozialdemokraten nicht in tiefen Pessimismus und apokalyptische Ängste über die Zukunft der eigenen Partei verfallen.

Aber ein wenig Sorgen sollten sie sich wohl doch machen. Denn von unten wächst nicht viel nach. Nur 2,8 % ihrer Mitglieder sind unter 26 Jahre. Da sind selbst die Hochbetagten in der Partei noch stärker vertreten: immerhin 3,8 % der Sozialdemokraten haben bereits das achtzigste Lebensjahr überschritten. Im Kern ist die SPD eine Partei der 68er-Kohorte. Im Jahr 2000 gehörten jedenfalls über ein Viertel ihrer Mitglieder den 1940er-Geburtsjahrgängen an. Kein Zweifel: Die Schröder-SPD ist eine Partei der 50- bis 60-jährigen Altbundesrepublikaner. Diese Kohorte, wir sahen es, hat die SPD in den 1970er-Jahren so mächtig und nachdrücklich überschwemmt, dass die Jahrgänge danach keine Chance mehr hatten, in die dicht besetzten und hart verteidigten Leitungspositionen der Partei hineinzudringen. Und so fehlen den Sozialdemokraten auf den Führungsebenen von Regierungen und Parlamenten rund 15 Jahrgänge, eben die 35- bis 49-jährigen, die wunderlicherweise aber im Elektorat den stabilen Kern der sozialdemokratischen Wähler stellen. Doch im innerparteilichen Flechtwerk der SPD konnte kaum jemand aus dieser Kohorte reüssieren. Die großen und ambitionierten Talente der rot-grünen Generationenkultur landeten daher fast durchweg bei den "Grünen", deren Führung im Parlament und in der Partei sie nunmehr stellen.

Für die SPD bedeutet das in mittlerer Frist ein gewaltiges Problem. Wenn Schröder und seine Generationsgenossen abtreten - viele haben dies bekanntlich bereits getan - kommt nach ihnen lange erst einmal nichts. Gern genannt werden zwar als Personen der Zukunft Hans Martin Bury, Olaf Scholz, Heiko Maas, Ute Vogt, Siegmar Gabriel. Sie alle mögen sehr begabt sein, doch zeichnet sie durchweg ein entscheidendes Defizit aus: Keiner von ihnen hat jemals eine bedeutende Wahl gewonnen; niemand darunter ist bisher durch das Säurebad schlimmer Rückschläge, übler massenmedialer Häme und brutaler Intrigen gegangen. Die christdemokratischen Führungsanwärter in der Union sind da politisch schon weiter, verfügen über mehr Erfahrung, haben - wie etwa Roland Koch - ein solches Bad bereits hinter sich, das man wohl braucht, um für die Führung einer großen Partei und der deutschen Republik fähig zu sein. Insgesamt fällt auf, dass der Generation der "Youngsters" in der SPD gleichsam der politische Mittelstürmer fehlt, der die Themen früher als andere wittert, der die Arbeit der Zuspitzung entschlossen und mit Autorität betreibt, der die Richtung vorgibt und die Partei dabei mitzieht. Es fehlt der Leitwolf, aber auch die gruppenbildende Leitidee, es fehlen die eigene Sprache, die eigenen Bilder, die eigenen Botschaften. Die lange und zähe Dominanz der 68er in der SPD kann sich zweifelsohne noch bitter rächen für die SPD.

Doch ein führungsstarkes Management

Allerdings wird im Management der SPD-Zentrale einiges dafür getan, die Probleme der Partei anzugehen, Alterslücken zu schließen, das eigene Personal zu qualifizieren und auf die Höhe der Kommunikationsanforderungen der Zeit zu bringen. Das hat viel mit der Autorität von Franz Müntefering zu tun, auch mit der Härte und Dynamik seines allerdings nicht von allen in seiner Partei wohlgelittenen Bundesgeschäftsführer Matthias Machnig. Müntefering und Machnig haben zweifellos mehr bewegt und mehr gegen den zähen Widerstand der Parteistrukturen durchgesetzt als die letzten drei oder vier Leiter der Parteizentrale zuvor. Und sie haben auch mehr an Parteireformen lanciert als die drei oder vier letzten Generalsekretäre in der CDU. So sind sie dabei, einigen Quereinsteigern Wege in die sozialdemokratische Fraktion zu bahnen; so versuchen sie, einen ausgewogenen Altersmix in den Parlamentsvertretungen zu fördern; so forcieren sie die Vernetzung der traditionellen Parteiorganisation mit neuen Themen- und Kompetenzrunden von oft zeitarmen, auch parteiunabhängigen Experten der deutschen Berufswelt. Nicht alles ist erfolgreich, vieles ist im Initiativenwirbel vor allem von Machnig auf halber Stecke stecken geblieben, einiges ist auch lediglich rhetorischer Budenzauber. Aber immerhin, dass die Sozialdemokraten vergleichsweise professionell, geschlossen und abgestimmt in der Öffentlichkeit agieren und reagieren, hat doch erheblich mit den Managementkünsten der beiden Westfalen an der Organisationsspitze zu tun.

Medienpartei und partizipationsfreudige Netzwerkpartei im Widerspruch

Doch auch hier tun sich Widersprüche auf. Müntefering und Machnig wollen die moderne Wähler- und Medienpartei, aber sie wollen auch die partizipationsgeprägte Netzwerkpartei. Doch beides geht schwer zusammen. In der modernen Medienpartei geht es hochzentralistisch zu; hier beherrschen die PR-Experten, die Consultants, Werbefachleute und Politikprofis das Feld, die in kleinen Stäben blitzschnell handeln müssen, immer den aktuellen demoskopischen Befund als orientierenden Maßstab im Auge behalten, die Events inszenieren und alle Politik personalisieren. Dem partizipationsfreudigen Netzwerkprojekt aber geht es stärker um Inhalte, um langfristig angelegten Konzeptionen, an denen geduldig und argumentativ gearbeitet wird. Die Partizipationspartei, kurzum, ist also an der Sache orientiert, dezentral verfasst und eigensinnig; die moderne Medienpartei dagegen bewegt sich vorwiegend in den zyklischen Trends je gegenwärtiger Aufgeregtheiten, wird zentral dirigiert und kann sich Widersprüchlichkeiten und Vielstimmigkeiten nicht leisten. Zumal in Wahlkampfzeiten - und wann gibt es sie einmal nicht in Deutschland? - haben sich die Oberkommandierenden der SPD dann doch mehr für die leichter kalkulierbare Medienpartei als für das schwierigere Partizipationsprojekt entschieden. Insofern schreitet der Autonomie- und Identitätsverlust der klassisch programmorientierten sozialdemokratischen Mitglieder- und Partizipationspartei weiter fort.

Auch die CDU hat natürlich ihre Probleme

Nun sollte man die mittlere Zukunft der Sozialdemokraten natürlich nicht ausschließlich düster sehen. Schließlich schleppt auch der Gegner, die andere große Volkspartei, ganz ähnliche Problem mit sich herum. Auch bei der Union sind die über lange Jahrzehnte stabilen und integrierenden Identitäten - Religion, Heimat, Brauchtum, Nation, lebenslange Familie, Antikommunismus - brüchig bzw. unzeitgemäß geworden. Auch die CDU hat noch keinen Sinnersatz für ihren Sinnverlust gefunden, kennt noch nicht das Programm und Projekt einer christdemokratischen Politik in nachchristlichen Gesellschaften. Auch der Union fehlt der Nachwuchs. Und ihre Führungsanwärter in der mittleren Generation mögen zwar zahlreicher und politisch bereits reifer sein, aber dafür ist auch die Rivalität untereinander größer. Und zu welchen Verwerfungen die Konkurrenz zwischen den "Enkeln" - ob nun die von Willy Brandt oder die von Helmut Kohl - führen können, das haben die Sozialdemokraten in der ersten Hälfte der 90er-Jahre bitter erfahren müssen. Da kann auch auf die Union noch einiges zukommen.

Wer wird die Partei der neuen Alten?

Im Übrigen ist die SPD in der Tat in gewisser Weise Partei der Mitte. Wir sahen es. Nun ist die Mitte ein durchaus prekärer, politisch keineswegs unproblematischer Ort. Auch das sahen wir. Aber machtpolitisch birgt er doch unzweifelhafte Vorzüge. Die Union hat allein die Freien Demokraten, um an die Regierung zu kommen; einen anderen Partner gibt es für sie derzeit nicht. Die Sozialdemokraten haben in dieser Hinsicht einige Pfeiler mehr im Köcher, um im Bundeskabinett zu bleiben. Im Übrigen sind sie in der Tat die Mehrheitspartei des mittleren Lebensdrittels, der 30- bis 50-jährigen, der Eltern, Berufstätigen und Steuerzahler dieser Republik, der geburtenstarken Jahrgänge der bundesdeutschen Gesellschaft. Selbst im Depressionsjahr 1999 lagen die Sozialdemokraten bei der Baby-Boomer-Kohorte im Westen Deutschlands noch vor der Union. Es ist schon bemerkenswert, wie sich das in höchst konfliktreichen Jahren erlernte Wahlverhalten dieser Generation biografisch konstant erhalten hat. Nun kommt diese geburtenstarke Kohorte in den nächsten Jahren ins Alter. Aber in einer massiv ergrauenden Gesellschaft wie die der Bundesrepublik, in der zwei Drittel der Wähler über 45 Jahre sind, wird die Partei der neuen Alten - und das könnte die SPD gut werden - im Parteienwettbewerb im Vorteil sein.

Behutsame Innovationsankündigung bei starkem Schutzversprechen

Und auf eine alternde Gesellschaft passen auch die sozialdemokratischen Motti von der "Modernisierung mit Bodenhaftung", von der "Sicherheit im Wandel". Diese Kombination aus behutsamer Innovationsankündigung und doch starkem Schutzversprechen missfällt zwar den jungdynamischen Meinungs- und Wirtschaftseliten der Republik, aber sie deckt sich stark mit einer bemerkenswert schichtübergreifenden Alltagsmentalität der Deutschen in diesen Jahren. Die ergrauende deutsche Gesellschaft wird durchaus sozialdemokratische Züge tragen.

Die wird sich auch wieder stärker homogenisieren. Das zeichnete sich bereits in den letzen Jahren ab, trotz gegenläufiger Interpretationen im soziologischen Feuilleton. Der weit gefächerte, kulturell experimentierfreudige Lebensstilpluralismus der 1970er/80er-Jahre hat sich mittlerweile eher abgeschwächt. So groß ist also der Spagat nicht mehr, den die Sozialdemokraten zum Zwecke der Wählerintegration schaffen müssen. Die postmaterialistische Flanke etwa hat wesentlich an Bedeutung verloren, auch an Konsistenz und politischer Zielstrebigkeit. Denn auch die postmaterialistische Generation der Achtzigerjahre hat in den Neunzigerjahren - nunmehr älter geworden sowie beruflich und privat stärker belastet - den Nutzen materieller Sekurität entdeckt.

Nun mindert all dies nicht die vielen, hier ausführlich referierten Probleme, die der SPD schon gegenwärtig und mehr noch in der Zukunft zu schaffen machen. Aber auch das ist richtig: Es wird irgendwie weitergehen mit der SPD. Wie schon seit langen 139 Jahren. 

 

 

 

Thema des nächstes Heftes:

Mobilität in Deutschland


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