Zeitschrift 

Menschenrechte


 

Heft 1/2  2005

Hrsg: LpB

 



 

Inhaltsverzeichnis

  Menschenrechtsbildung als Menschenrecht
 

Die Macht der Menschenrechte und die Schlüsselrolle der Menschenrechtsbildung

  K. Peter Fritzsche

 


Nur Menschenrechte, die man kennt und versteht, können ihre Wirkung entfalten. Menschenrechte müssen deshalb gelernt werden. Somit ist Menschenrechtsbildung für die Umsetzung und Entwicklung der Menschenrechte unverzichtbar. Auf dem Hintergrund dieser Kernthese entfaltet K. Peter Fritzsche, Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Menschenrechtsbildung, im ersten Teil ein konzeptionelles Angebot zur Menschenrechtsbildung. Euphorische Erwartungen an eine rasche Umsetzung und vor allem schnelle Ausbreitung der Menschenrechtsbildung werden im zweiten Teil des Beitrags relativiert. Neben mangelnden Ressourcen und dem oftmals fehlenden politischen Willen erklärt sich diese nüchterne Betrachtungsweise durch Gründe, die in der Entwicklung der Menschenrechte begründet liegen: Sie sind komplex, unvollendet und kontrovers. Menschenrechtsbildung ist auch deshalb ein schwieriges Unterfangen, weil sie verschiedensten Stereotypen wirksam begegnen muss.

Red.

 

Menschenrechtsbildung ist unverzichtbar

Menschenrechte können nur soviel Macht entfalten, wie diejenigen, die sie brauchen und verteidigen, ihnen in gemeinsamen Bemühungen verschaffen können. Menschenrechte müssen aber gelernt werden. Weder reichen natürliche Talente noch alltägliche Orientierungen oder die schlichte Mediennutzung, um sich zurechtzufinden oder seine Rechte zu bekommen. Ohne professionelle Bildungsmaßnahmen auf diesen Gebieten bleiben die Menschen ignorant und inkompetent und werden in der Folge nicht selten indifferent oder intolerant. Menschenrechtsbildung ist für die Umsetzung und Entwicklung der Menschenrechte unverzichtbar!

Das Argument der Unverzichtbarkeit hat drei Ebenen:

  • Ohne Menschenrechtsbildung kann der Einzelne seine Rechte nicht wahrnehmen und verteidigen.

  • Ohne Menschenrechtsbildung kann sich keine Menschenrechtskultur in der Zivilgesellschaft entfalten.

  • Menschenrechtsbildung ist mittlerweile international selbst als ein Menschenrecht anerkannt, das es zu achten, zu schützen und zu fördern gilt.

Menschenrechtliche Ignoranz vermag für die Gesellschaft, für den Einzelnen wie auch für den Staat schädlichere Folgen haben als schlechte PISA-Werte in Deutsch und Mathematik, nämlich Einbußen an Freiheit , Gleichberechtigung, menschlicher Sicherheit und Lebensqualität.

 

KINDER SIND BEZÜGLICH DER MENSCHENRECHTE ALS „BESONDERS VERLETZLICHE GRUPPE“ ANERKANNT WORDEN. JUGENDLICHE TEILNEHMER EINER UNICEF-AKTION HALTEN IN FREIBURG PLAKATE MIT DER AUFSCHRIFT „UNVERKÄUFLICH“. UNTER DEM MOTTO „KINDER SIND UNVERKÄUFLICH“ STARTETE DIE KINDERHILFSORGANISATION UNICEF EINE BUNDESWEITE AKTION GEGEN AUSBEUTUNG VON KINDERN DURCH MENSCHENHÄNDLER. 

picture alliance / dpa

 

Ein positiver Trend

Bereits früh hatte sich die Einsicht von der Unverzichtbarkeit der Menschenrechtsbildung in einem engen "Kreis der Eingeweihten" von UNESCO, Europarat und Nicht-Regierungs-Organisationen (Non-Governmental-Organizations/NGOs) durchgesetzt. Diese Einsicht beginnt sich auch über diesen Kreis heraus langsam auszuweiten. So wie der neuerliche Bedeutungszuwachs des Themas Menschenrechte, so ist auch die Entwicklung der Menschenrechtsbildung stark mit dem Wandel von 1989 verbunden. Nach 1989 stellen die Menschenrechte den einzigen Orientierungsrahmen mit universellem Geltungsanspruch jenseits politischer Ideologien und Religionen dar. Auch wenn die kritischen Analysen der real existierenden Menschenrechtsbildung mahnend auf Defizite hinweisen, so stellt sich doch auch die Frage, mit welchem zeitlichen Erwartungshorizont man an die Verankerung und Umsetzung der Menschenrechtsbildung herangeht. Trotz der aufgewiesenen Defizite ist doch insgesamt ein positiven Trend erkennbar. Wenn man sich die differenzierten konzeptionellen Angebote sowie die wachsenden Veröffentlichungen zum Thema anschaut, wie auch die didaktischen Materialien, die neuen Angebote im außerschulischen Bereich, die Aufnahme in internationale Programme, die Einrichtung von menschenrechtsorientierten Master-Studiengängen, die vielfältigen Informations- und Kursangebote im Internet, dann lässt sich trotz aller Rückstände schlussfolgern: Und sie bewegt sich doch!

Nach einem konzeptionellen Angebot zur Menschenrechtsbildung im ersten Teil, möchte ich im zweiten Teil meiner Ausführungen zeigen, warum die Menschenrechtsbildung ein schwieriges Unterfangen ist, von dem keine schnelle Ausbreitung zu erwarten ist. Neben den bekannten bremsenden Gründen mangelnder Ressourcen und fehlenden politischen Willens gibt es Gründe, die in der Entwicklung der Menschenrechte selber liegen: sie sind komplex, unvollendet und kontrovers. Ihre alltägliche Wahrnehmung ist zudem durch verbreitete Stereotypen belastet. Sie gelten - je nach Kontext - als selbstverständlich, als machtlos, als idealistisch, als verzichtbar oder als störend kritisch. Menschenrechtsbildung hat auch die Aufgabe, diesen Stereotypen zu begegnen.

 

Profil der Menschenrechtsbildung

Menschenrechtsbildung muss nicht mehr erfunden werden, weltweit gibt es eine wachsende Anzahl von Konzeptionen und praktischen Angeboten. Menschenrechtsbildung hat auch ein je eigenes regionales oder nationales Profil, bedingt durch die spezifischen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie praktiziert wird. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob Menschenrechtsbildung in so genannten Entwicklungsländern, in Nach-Bürgerkriegsgesellschaften, in post-totalitären Gesellschaften, in tief gespaltenen Gesellschaften, in Post-Apartheidsgesellschaften oder in etablierten Demokratien durchgeführt wird.

Trotz der konzeptionellen und kontextuellen Vielfalt hat Menschenrechtsbildung weltweit etwas, was sie verbindet, was in Zielsetzung und Engagement universell ist. Wenn man versucht, Meilensteine und Hauptströme zusammenzuführen, dann kann man das nachfolgend dargestellte Profil einer ganzheitlichen Menschenrechtsbildung skizzieren.

 

Menschenrechtsverständnis

Menschenrechte sind besondere, prioritäre Rechte, die wir als "angeboren, unveräußerlich oder unverlierbar" bezeichnen. Aber warum? Die Qualifizierung der Menschenrechte als angeborene Rechte bedeutet, dass sie weder erworben, noch verdient oder verliehen werden können, sondern dass sie eine Berechtigung allein auf Grund des Menschseins sind. Gleichwohl ist die Bestimmung der Menschenrechte als angeboren im "metaphorischen Sinne" (Ernst Tugenhat) gemeint, um ihren besonderen Rang zu unterstreichen. Einmal als angeboren anerkannt, können sie nicht wieder genommen oder verwirkt werden. Sie bleiben eine Berechtigung, die an keine Leistungen, Verdienste oder Pflichterfüllung gebunden ist. Zwar sind mit den Rechten auch die Pflichten verbunden, die Rechte der anderen zu achten, aber die Nichtachtung kann nur zu unterschiedlichen Arten der Kritik oder Sanktion führen, jedoch nicht zum Verlust der Menschenrechte. Menschen sind und bleiben Menschen, auch in extremen Fällen: Sie stehen nicht irgendeiner Strategie der De-Humanisierung zur Disposition.

 

Menschenrechtswissen

Menschenrechtsbildung muss Grundkenntnisse vermitteln über die Rechte, die ich und alle anderen haben, warum sie sich entwickelt haben und was sie für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft leisten. Menschenrechtswissen ist beschreibendes und kritisches Wissen zugleich. Es fragt sowohl nach den Institutionen, Organisationen, Dokumenten und Akteuren, als auch nach den Ursachen der Differenz von Norm und Wirklichkeit, nach den Ursachen von Menschenrechtsverletzungen. Wenn man auch nicht alle Bürger zu Experten machen kann, so müssen die Bürger doch wissen, welche nationalen, regionalen oder internationalen Beschwerde- oder Klagemöglichkeiten sie haben und an wen sie sich wenden müssen. In aller Regel sind geeignete Ansprechpartner zunächst wohl helfende Nicht-Regierungs-Organisation wie amnesty international, um zu erfahren, was im Falle vermuteter Menschenrechtsverletzung zu tun ist. Gerade am Beispiel der differenzierten Erweiterung der Menschenrechte, ihrer vielfältigen Schutzmechanismen und den breiten Angeboten von menschenrechtsorientierten NGOs wird deutlich, dass man ohne ein Mindestmaß an Bildung und Aufklärung Menschenrechte weder wahrnehmen noch respektieren kann.

 

Unteilbare Menschenrechte

In der Geschichte der Menschenrechte sind fundamentale Lebensbereiche der Menschen menschenrechtlich normiert worden. Bekannt sind allerdings meist nur ganz grundlegende Rechte wie das Recht auf Leben oder auf Meinungsfreiheit. Nicht selten wissen die Opfer von Menschenrechtsverletzungen gar nicht, dass ihnen widerfahrendes Leid eine Verletzung eines Menschenrechts darstellt, gegen die sie sich effektiv und legal wehren dürfen. Menschenrechtsbildung hat über den gesamten unteilbaren Bereich der Menschenrechte aufzuklären, der auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte umfasst. Weiterhin gilt es für diejenigen Gruppen, die international bisher als "besonders verletzliche Gruppen" anerkannt worden sind (Kinder, Frauen, Flüchtlinge, Arbeitsmigranten), Informationen über die verstärkten Schutzmöglichkeiten zu liefern.

 

Wissen und Werte

Zur Unteilbarkeit der Menschenrechtsbildung gehört auch der Zusammenhang von Wissen und Werten. Menschenrechtsbildung bliebe nämlich eindimensional, wenn sie nicht auch über die Ideale und Werte aufklären würde, die den Rechten zugrunde liegen. Zu den beiden tragenden Säulen des Menschenrechtsverständnisses gehört erstens die Idee, dass der Einzelne schutzbedürftig und schutzwürdig ist, um sein Leben selbstbestimmt gestalten zu können. Zweitens sind Menschenrechte als MENSCHEN-Rechte egalitär oder gar nicht. Entweder sie gelten für alle gleich oder sie werden Sonderrechte. Menschenrechte haben also einen Selbstbestimmungs- und einen Nicht-Diskriminierungskern.

Jemand, der über große Kenntnisse der Menschenrechte verfügt, muss noch lange nicht bereit sein, auch die ihnen zugrunde liegenden Werte zu teilen. Zur Unteilbarkeit der Menschenrechte gehört unverzichtbar hinzu, dass es sich bei den Menschenrechten nicht nur um "meine Rechte" handelt, sondern immer auch um die gleichen Menschenrechte aller anderen. Menschenrechtsbildung zielt deshalb nicht nur auf die Kenntnisse der je eigenen Rechte, sondern immer auch auf die Anerkennung der Rechte der anderen! Menschenrechte gelten nicht exklusiv, sie gelten nicht nur für Deutsche oder Franzosen oder welche Gruppe auch immer.

 

Rechts- und Politikbezug

Verkürzt wäre allerdings auch eine Menschenrechtsbildung, die sich nur als Werteerziehung verstünde oder die sich damit bescheidet, dass "irgendwie" implizit in den vielen Angeboten der Friedenserziehung und der interkulturellen Erziehung Menschenrechtsbildung praktiziert wird. Für die Menschenrechtsbildung ist es unverzichtbar, dass ein expliziter Bezug hergestellt wird zu den Menschenrechtsdokumenten, zu den Rechten und ihrer Verankerung in Verfassungen und völkerrechtlichen Verträgen wie auch zu der Begründung, der Genese und zu den Akteuren der Menschenrechtspolitik.

 

Menschenrechte als "way of life"

Menschenrechte stellen aber nicht nur einen normativen Rahmen für die große Politik dar! In einem weiter gefassten Verständnis der Menschenrechte, das ursprünglich aus der Menschenrechtsbewegung kommt, haben Menschenrechte sowohl einen prägenden Einfluss auf das Verhältnis des Bürgers zum Staat, als auch auf das Leben der Bürger untereinander, auf das zivilgesellschaftliche Zusammenleben. Den Menschenrechten als Regime stehen die Menschenrechte als ein "way of life" zur Seite:

"Information and knowledge about the holistic meaning of human rights, as relevant to peoples' daily lives, will evoke the missing dialogue about human rights as a way of life, and contribute to the questions and answers that promote social responsibility. A world where women and men alike participate in the decision that determine their lives (...) where we build a new political culture based on human rights."1

Ausgehend von diesem weiten Menschenrechtsverständnis nimmt Menschenrechtsbildung einen jeden und eine jede in die Pflicht, sich so zu verhalten, dass sie die (gleichen!) Menschenrechte aller anderen anerkennen und respektieren. Nur wenn sich staatliche und zivilgesellschaftliche Menschenrechtsorientierung ergänzen und stützen, wird es zur nachhaltigen Entwicklung einer Menschenrechtskultur kommen, einer Verankerung der Menschenrechte, die mehr ist als deren Präsenz in Texten und Dokumenten.

 

Menschenrechtsverletzungen

Da Menschenrechte der systematische Versuch sind, Macht durch gleiche Rechte für alle zu begrenzen, muss immer wieder mit dem Widerstand derer gerechnet werden, die ihre Machtinteressen, ihre Vorrechte und/oder vermeintlichen Überlegenheiten bedroht sehen. Konflikte gehören also konstitutiv zu der Entwicklung der Menschenrechte dazu. Radikaler und unversöhnlicher Widerstand erwächst aus den Reihen von Rassismus, Nationalismus und Rechtsextremismus, da deren Ideologien der Ungleichheit bereits die Grundannahme der Menschenrechte ablehnen: die gleiche Würde und Gleichwertigkeit aller Menschen. Aber auch die verschiedenen Varianten der Fundamentalismen, die Menschen in einer selbstverschuldeten Unmündigkeit halten wollen, stellen radikale Widersacher dar. Schließlich werden die Menschenrechte von all denen begrenzt, unterlaufen oder nachgeordnet, die in ihnen hinderliche und lästige Bedingungen für ihren lokalen bis globalen Wohlstandschauvinismus sehen. Allerdings werden Menschenrechte nicht nur durch "böse Absichten" identifizierbarer Akteure verletzt. Auch Strukturen der Ungleichheit, der Armut und der Unwissenheit tragen dazu bei, dass Menschen ihre Rechte nicht verwirklichen können.

 

Dreifacher Imperativ

Menschenrechtsbildung hat eine dreifache, handlungsorientierte Botschaft: Steh auf für deine Rechte! Und: Diskriminiere nicht! Diese Botschaft richtet sich zuweilen an geradezu entgegengesetzte Adressaten: an die potenziellen Opfer und an die potenziellen Verletzer. Darüber hinaus richtet sich dieser doppelte Imperativ jedoch an einen jeden von uns, denn ein jeder kann sowohl Opfer als auch Verletzer werden. Wenn wir noch die Solidarität mit den Opfern hinzunehmen, dann formuliert die Menschenrechtsbildung drei Imperative, für die auch die entsprechenden Handlungskompetenzen entwickelt werden müssen.

  • Kenne und verteidige deine Rechte.

  • Anerkenne die gleichen Rechte der anderen. Verhalte dich im Alltag selber so, dass du die Menschenrechte der anderen anerkennst und nicht verletzt.

  • Verteidige nach deinen Kräften auch die Rechte anderer und helfe nach deinen Möglichkeiten Opfern von Menschenrechtsverletzungen.

 

Menschenrechte und Toleranzkompetenz

Menschenrechtsbildung zielt auch auf die Entwicklung von Toleranzkompetenz. Hierbei orientiert sie sich an einem weiten Toleranzbegriff, der nichts gemein hat mit einem großzügig daherkommenden Gewährenlassen. Aus nachvollziehbaren Gründen trifft das Konzept einer Duldungstoleranz auf wenig Aufnahmebereitschaft in vielen Gesellschaften. Wer will schon gerne lediglich geduldet werden! Es geht vielmehr darum, die Anerkennungsbereitschaft von gleichen Rechten mit der Toleranzfähigkeit von unterschiedlichen Lebensformen zu verknüpfen. Menschen sollen sich wechselseitig tolerieren, gerade weil sie ein Menschenrecht auf Freiheit und Anderssein haben. Eine Menschenrechtskultur wäre eine, die eine Welt der gleichen Rechte mit einer Welt der Vielfalt verbinden könnte. Die Toleranz der Differenz folgt aus der Akzeptanz der Gleichberechtigung. Dies ist aber nicht selbstverständlich und muss gelernt werden. Immer dann, wenn es einem nicht gefällt, was der andere konkret aus seinen Freiheitsrechten macht und wie er sein Leben gestaltet, erfordert die Anerkennung seines Rechts auf Freiheit die Tolerierung ihrer Konsequenzen (sofern die Freiheit nicht zur Intoleranz missbraucht wird). Es ist die Orientierung an den Menschenrechten, die dann auch die oft aufkommende Frage der Grenzen der Toleranz beantworten kann.

Eine Menschenrechtsbildung, die sich in diesem Sinne um die Anerkennung gleicher Rechte und die Tolerierung unterschiedlicher Lebensformen bemüht, wird als Prävention gegen Rechtsextremismus und Rassismus und deren Ideologien der Ungleichheit wirksam werden können. Wenn es gelingt, die Attraktivität der Freiheits- und Gleichheitsidee der Menschenrechte nachvollziehbar zu machen, wird es möglich, eine Anfälligkeit für die Ideologien der Ungleichheit und des Autoritarismus gar nicht erst entstehen zu lassen.

 

Interkulturelle Kompetenz

Menschenrechtsbildung ist auch interkulturell ausgerichtet: Sie befähigt und ermutigt zum interkulturellen Dialog. Sie will gegen die Anfälligkeit gegenüber Fundamentalismen jeder Art vorbeugen. Ein integraler Bestandteil der Toleranzkompetenz ist der interkulturelle Perspektivenwechsel. Dieser wird jedoch nur gelingen können, wenn man Klarheit über seine eigene Position hat und diese mit Selbstbewusstsein vertreten kann. Dann aber erlaubt die Perspektivenübernahme eine Haltung, welche die Anfälligkeit für Vorurteile und Feindbilder verringert. Nur von denen, die zum Wechsel der Perspektive bereit sind, kann der viel beschworene Dialog der Kulturen geführt werden.

Dieser Dialog ist ein Mittel, um den Menschenrechten in allen Kulturen zur - oft noch ausstehenden - Anerkennung zu verhelfen. Der Dialog ist aber gleichzeitig auch der dauernde Testfall, ob das überhaupt gelingen kann. Nur im Dialog lässt sich eine universelle Anerkennung der Menschenrechte erreichen oder gar nicht. Ein solcher interkultureller Dialog über die Menschenrechte kann nur gelingen, wenn man zum einen nicht in die Arroganzfalle gerät, die blind macht für kulturelle Einwände aus weniger individualistisch orientierten Gesellschaften und zum anderen aber auch nicht in die Selbstblockierungsfalle tappt, die darin besteht, sich der relativistischen Argumentation zu unterwerfen, die die Menschenrechte als westliche Indoktrination missdeutet. Das bedeutet auch, dass Menschenrechte nicht als eine Art Zivilreligion gepredigt werden dürfen, sondern als eine Kultur begründet und entwickelt werden müssen.

 

Zivilcourage

Menschenrechte brauchen Mut, Menschenrechte machen Mut: Menschenrechte und Bürgermut haben eine Menge miteinander zu tun. Sowohl die Verteidigung der Rechte anderer Personen wie die der eigenen Rechte erfordern immer wieder Mut, auch einen solchen Mut, der um das Risiko weiß, in Folge des Engagements Schaden an Leib und Wohlergehen erleiden zu können. Die Menschenrechten sind nicht vom Himmel gefallen, sondern mussten in unterschiedlichen, durchaus revolutionären Schritten erstritten und erkämpft werden. Zu diesem Prozess hat von Anbeginn der Bürgermut derer gehört, die sich mit der Staatsmacht angelegt haben und sich gegen Entscheidungen und Strukturen aufgelehnt haben, die sie als Unrecht empfunden haben. Immer war der Mut gefordert, alte Regeln zu verletzen, sich Autorität zu widersetzen, um neue Rechte zu erstreiten. Stets galt es, Ängste und Widerstände zu überwinden. Auch wenn es von Anbeginn - in einem utopischen Überschuss - hieß, dass alle Menschen die gleichen Rechte besäßen, so wurden historisch aus diesem Begriff des Menschen doch viele ausgeschlossen oder noch benachteiligt. Also bedurfte es immer wieder des neuen Mutes, um als Frau, Schwarzer oder als Angehöriger einer benachteiligten Minderheit für die Anerkennung der gleichen Menschenrechte zu kämpfen.

 

ERFOLGSGESCHICHTEN VON MUTIGEN MENSCHENRECHTSAKTIVISTEN GEHÖREN ZUM ATTRAKTIVSTEN, WAS DIE MENSCHENRECHTSBILDUNG BEREIT HÄLT. EIN MITHÄFT-LING HAT DIESES FOTO DES AMERIKANISCHEN BÜRGER-RECHTLERS MARTIN LUTHER KING JR. GEMACHT.MARTIN LUTHER KING UND DREI WEITERE PERSONEN MUSSTEN IM GERICHTSGEBÄUDE VON JEFFERSON COUNTY EINE FÜNFTÄGIGE HAFTSTRAFE WEGEN ANSTIFTUNG ZU EINER DEMONSTRATION IM JAHR 1963 ABSITZEN. 

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Menschen, die um ihre Rechte wissen, können sich leichter wehren. So sehr historisch der Mut der Engagierten zu Menschenrechten geführt hat, so sehr setzen die erreichten Menschenrechte Mut frei, um sie zu verteidigen. Das Wissen um meine Rechte erleichtert mir die Entscheidung meines Engagements. Das Bewusstsein, das etwas verwehrt wird, wozu man berechtigt ist, mobilisiert den Mut, sich zu wehren. In diesem Sinne sind Menschenrechte Mutmacher! Erfolgsgeschichten von mutigen Menschenrechtlern gehören sicher zum Attraktivsten, was die Menschenrechtsbildung bereit hält.

Die Schicksale vieler Menschenrechtsaktivisten und Menschenrechtsverteidiger, die mit ihrem Leben "bezahlt" haben, verdeutlicht das Risiko, das in vielen Gesellschaften immer noch mit dem Einsatz für die Menschenrechte verbunden ist. Gleichwohl können wir auch diesmal wieder sagen: Menschenrechte sind Mutmacher! Oft fällt es nämlich leichter, sich für andere einzusetzen, wenn man um die Rechtsverletzung weiß, die ihnen widerfährt, wenn die mutige Handlung also mehr ist, als Ausdruck einer reinen "Empörung des Herzens". Ein aufgeklärtes Menschenrechtsbewusstsein kann hier hilfreich sein.

Die Menschenrechte dienen weiterhin dazu, dass aus dem Mut kein "Übermut" wird. Vor allem beim Engagement des zivilen Ungehorsams vermögen die Menschenrechte notwendige Grenzen zu setzen. So, wie wir zur Begründung von zivilem Ungehorsam uns am besten an den universellen Werten orientieren, die den Menschenrechten zugrunde liegen, so orientieren wir uns auch an ihnen, wenn es um die Frage geht: Wo hat der Ungehorsam seine Grenzen? Die liegen dort, wo er riskiert, die Menschenrechte anderer zu verletzen. Ziviler Ungehorsam, der dazu führt, dass die Unversehrtheit von Menschen verletzt wird - im Extremfall beim Ansägen von Gleisen -, ist nicht mehr "zivil", nicht mehr menschenrechtlich begründbar.

 

Adressatengruppen

Alle Menschen haben ein Menschenrecht, Menschenrechtsbildung zu erhalten! Nur diese Bildung wird es ermöglichen, dass die Menschenrechte ihre Macht entfalten und die Bürger schützen. Neben einer Art Grundwissen oder Kerncurriculum, das unverzichtbar für die eigene Orientierung ist und im Weiteren auch dazu befähigt, sich weiterzubilden und/oder nötige Expertisen bei NGOs oder Menschenrechtsverteidigern einholen zu können, gibt es notwendige Differenzierungen nach dem politischen Kontext, dem Art des Opferrisikos und dem Profil künftiger beruflicher Aktivitäten. Nach Artikel 24 des Aktionsprogramms der 2004 zu Ende gegangenen Dekade der Menschenrechtsbildung sollen vor allem folgende Berufsgruppen eine spezielle Menschenrechtsbildung erhalten (da ihr Beruf in besonderer Weise menschenrechtsrelevante Tätigkeiten beinhaltet): Polizei, Strafvollzugsbedienstete, Juristen, bewaffnete Kräfte, international tätige Beamte und Angestellte, Entwicklungshelfer, Angehörige von Friedenseinsätzen, Mitglieder von NGOs, Tätige im Bereich der Medien, Regierungsbeamte, Parlamentarier und Lehrer.

 

Kinderrechte als Einstieg

Menschenrechtsbildung ist schulische und außerschulische Menschenrechtsbildung! Gleichwohl hat die Schule für die Menschenrechtsbildung eine besondere Bedeutung, da Kinder die ersten Träger von Menschenrechten, die anfälligsten Opfer von Menschenrechtsverletzungen und auch die ersten Adressaten der Menschenrechtsbildung sind. Mittlerweile beginnt sich sogar die Einsicht durchzusetzen, dass es hilfreich ist, bereits im Kindergarten die ersten Schritte einer Menschenrechtsbildung zu gehen.

So früh wie möglich und altersgerecht sollen Kindern die Menschenrechte nahe gebracht werden. Was wäre geeigneter hierfür als die Kinderrechte! Das "Übereinkommen über die Rechte des Kindes" (vom 20. November 1989) - die so genannte "Kinderkonvention" - wird zunehmend zu einem Bezugspunkt und Schlüsseltext für die Menschenrechtsbildung. Kinder sind die ersten Träger von Menschenrechten und die ersten Adressaten von Menschenrechtsbildung. Nur wenn Kinder bereits ein Bewusstsein ihrer Menschenrechte entwickeln, können sie als Erwachsene in gelingender Weise ihre Menschenrechte wahrnehmen! Nur wenn schon Kinder erfahren, dass ihre Freiheiten und Rechte bei den Freiheiten und Rechten der anderen ihre Grenze haben, werden sie als Erwachsene die Menschenrechte nicht als eine exklusive Berechtigung missverstehen. Nur wenn Kinder schon erfahren, dass Ali und Shula zwar anders aussehen, aber nicht weniger wert sind als Julia und Markus, fällt es ihnen als Erwachsenen leichter, Anerkennung und Toleranz zu praktizieren. Die Kinderrechte erlauben auch eine Solidaritätsbrücke zu denjenigen Kindern in der Welt zu bauen, deren Menschenrechte durch Prostitution, Pornografie, Kinderhandel, Kinderarbeit, Krieg oder Folter verletzt werden. An den Kinderrechten lässt sich auch aufzeigen, wie unterschiedlich und ungleich sich Kindheit gestaltet, und dass Kinder unterschiedlich anfällig sind für Menschenrechtsverletzungen, je nachdem ob sie Jungen oder Mädchen sind oder auch je nach ihrer ethnischen, kulturellen, religiösen oder sozialen Zugehörigkeit.

 

Menschenrechte als Schulkultur

Darüber hinaus ist Menschenrechtsbildung, die im schulischen Rahmen stattfindet, nicht nur eine Querschnittsaufgabe, sondern sie ist vor allem eine Frage der Schulphilosophie, des Schulklimas und der Schulkultur. Es gilt nicht nur, über die Menschenrechte zu unterrichten, sondern Menschenrechte auch praktisch erfahrbar zu machen im Lern- und Lebensraum der Schule. Um Menschenrechte auch im schulischen Rahmen erfahrbar machen zu können, um Schule schon als Ort von Anerkennungserfahrung zu nutzen, kann Menschenrechtsbildung nicht allein die Aufgabe eines oder mehrerer Schulfächer sein, sondern sie wird zu einer Frage des Schulklimas und der Schulkultur. "Teste das Menschenrechtsklima deiner Schule", lautet konsequenterweise ein Projekt der Menschenrechtsbildung.2

So zutreffend der Hinweis auch ist, dass Schule, Staat und Welt nach unterschiedlichen Logiken funktionieren und man nicht eins zu eins von der Schule auf den Staat schließen darf, so unerlässlich erscheint der Menschenrechtsbildung und der durch sie fundierten politischen Bildung, den sozialen Raum, das Experimentierfeld und die Vorbereitungszeit, die Schule gewährt, für eine frühes Erfahrungslernen von Menschenrechten zu nutzen.

 

Menschenrechtsbildung als Fundament?

Die Menschenrechtsbildung befindet sich noch in einem konzeptionellen Entwicklungsprozess, in dem sie auch ihr Verhältnis zu komplementären und/oder konkurrierenden benachbarten Bildungsansätzen bestimmt sowie ihr Verhältnis zu den Bezugswissenschaften und ihren Didaktiken klärt. Zur Menschenrechtsbildung gehört eben auch dieser reflexive Prozess der Standortbestimmung der Menschenrechtsbildner selbst wie ihrer wissenschaftlichen und pädagogischen Partner.

Ein spannender, längst nicht abgeschlossener Kommunikationsprozess ist seit einiger Zeit in Bezug auf Ansätze wie Interkulturelle Erziehung und Anti-Rassistische Erziehung, Globales Lernen, Friedenserziehung und Citizenship Education in Gang gekommen. Diese "Welt der Vielfalt" von Bildungsangeboten kann auch zur Verunsicherung von Lehrern und Lernern führen. Ist das alles nur alter Wein in jeweils neuen Schläuchen? Innerhalb der Selbstverständigungsprozesse beginnt eine Lesart an Gewicht zu gewinnen, welche die Nachbaransätze der Menschenrechtsbildung als Ausdifferenzierungen von menschenrechtsorientierten Themen versteht wie Nicht-Diskriminierung, Gewaltlosigkeit, globales Bewusstsein, Partizipation. Menschenrechte werden als eine Art Kernbereich oder Fundament all dieser Bildungsansätze gedeutet. Wenn sich dieses Verständnis durchsetzen sollte, wird es aber auch erforderlich sein, das Eigentliche des Menschenrechtzugriffes zu unterstreichen. Menschenrechtsfundierte Ansätze sind moralisch, politisch und rechtlich noch weiter gehend, als Ansätze, die sich "nur" auf Bedürfnisse und Werte beziehen. Es geht nämlich um universalisierbare und egalitäre Berechtigungen und Verantwortlichkeiten, die als fundamental anerkannten Lebensbereiche besonders zu schützen.

Es gibt auch keine einheitliche Bezugwissenschaft "Menschenrechtswissenschaft", sondern weit gehend separate Wissenschaftsdisziplinen, die sich dem Thema der Menschenrechte aus unterschiedlichen Perspektiven annehmen bzw. die unterschiedlichen Dimensionen der Menschenrechte getrennt behandeln. Zu nennen sind die Philosophie, Rechtswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft und Psychologie, hinzu kommt die Erziehungswissenschaft. Menschenrechtsbildung "gehört" darum auch keinem (Schul)Fach allein, sondern ist nur als Querschnittsaufgabe zu bewältigen, denn sie klärt auf über moralische Regeln und Begründungen, historische Entwicklungen, über politische Konflikte, wirtschaftliche Interessen und über rechtliche Verfahren im Feld der Menschenrechte. Einige Fächer haben gleichwohl eine besondere Affinität wie die politische Bildung.

 

Menschenrechtsbildung und politische Bildung

Menschenrechtsbildung ist auch politische Bildung im klassischen Sinn. Menschenrechte sind ein politisches Thema und zwar im Sinne von "großer Politik", Makropolitik, staatlicher und internationaler Politik. Menschenrechtsbildung hat genuin machtpolitische und herrschaftskritische Fragestellungen auf der Tagesordnung:

  • Die Begrenzung und Zivilisierung staatlicher Macht im Interesse fundamentaler Bedürfnisse des Bürgers (Abwehr staatlicher Willkür, Demokratisierung staatlicher Macht, soziale Verpflichtung des Staates);

  • der Kampf diskriminierter und verletzlicher Gruppen um gleiche Rechte;

  • der Prozess internationaler Einflussnahme, Kontrollen, Monitoring von Menschenrechten;

  • die Herstellung von politischem Druck via Öffentlichkeiten (auch dort, wo es noch keine rechtlich ausgearbeiteten Mechanismen gibt), durch zwischenstaatliche Organisationen und durch NGOs;

  • diplomatische Verhandlungen im Interesse der Menschenrechte;

  • die Kritik an ideologischen Instrumentalisierungen;

  • der Dialog um universelle Anerkennung;

  • der nationale wie internationale Disput um neue Rechte, der Entwicklungsprozess von Rechten.

 

MENSCHENRECHTSBILDUNG IST AUCH POLITISCHE BILDUNG IM KLASSISCHEN SINN. GEHT ES DOCH UM KRITISCHE FRAGESTELLUNGEN UND DIE HERSTELLUNG VON POLITISCHER ÖFFENTLICHKEIT. MEHR ALS 2000 NAMEN VON POLITISCH VERFOLGTEN CHINESEN SCHREIBT EINE MITARBEITERIN VON AMESTY INTERNATIONAL AM 4.6.1996 AUF EINE PLAKATWAND IN DER U-BAHNSTATION AM MÜNCHNER MARIENPLATZ. DIE AKTION ERINNERT AN DEN SIEBTEN JAHRESTAG DES MASSAKERS AUF DEM „PLATZ DES HIMMLISCHEN FRIEDENS“ IN PEKING. 

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Innerhalb der Debatte um die Menschenrechte finden wir allerdings eine parallele Auseinandersetzung zu der Debatte um Demokratie als Herrschafts- und Lebensform. Menschenrechte benötigen zu ihrer Verwirklichung sowohl institutionalisierte Schutzmechanismen wie eine sie begleitende Menschenrechtskultur. Menschenrechtsbildung hat sich einerseits als Institutionenkunde zu verstehen, andererseits zielt sie auf eine menschenrechtlich orientierte Zivilgesellschaft.

 

Menschenrechte lernen und Demokratie lernen

Es ist sicher zutreffend, dass sich Menschenrechte und Demokratie thematisch teilweise überschneiden und Demokratie lernen auch Menschenrechte lernen einschließt. Demokratie ist ja letztlich eine Manifestation politischer Menschenrechte oder eine Institutionalisierung partizipatorischer Rechte. Zudem ist die Demokratie diejenige Herrschaftsform, in der sich die Menschenrechte am ehesten verwirklichen lassen. Aber die Menschenrechte beanspruchen auch dort Geltung, wo Demokratie noch nicht, nicht mehr oder überhaupt nicht existiert. Einige Beispiele:

  • Kinderrechte markieren einen Geltungsbereich der Menschenrechte, ohne dass die Familie, die Schule oder auch die Wirtschaft, in der sie eingefordert werden, demokratisiert sein müssen.

  • Menschenrechte gelten auch für Ausländer, die nicht über demokratische Bürgerrechte verfügen. Der Begriff der Menschenrechte greift prinzipiell weiter als der der Bürgerrechte.

  • Das Menschenrecht, nicht gefoltert zu werden, gilt unabhängig von der Staatsform.

  • Die Umsetzung von Menschenrechten wie das auf Nahrung oder auf Bildung können nicht auf die Verwirklichung demokratischer Verhältnisse warten, so sehr diese förderlich für die Umsetzung sein werden.

  • Die Beachtung der Menschenrechte durch Wirtschaftsunternehmen (die oft mehr Macht als Staaten haben), steht ganz oben auf der Agenda der internationalen Menschenrechtsdebatten, ohne dass zu erwarten ist, dass solche Unternehmen demokratisiert werden können.

  • Die völkerrechtliche Selbstbindung der Staaten an die UN-Menschenrechtskonventionen ist an keine Regierungsform dieser Staaten gebunden.

  • Und schließlich: Auch dort, wo eine funktionierende Demokratie besteht, setzen die Menschenrechte der demokratischen Mehrheit Grenzen für einen humanen Kern, der nicht zu ihrer Disposition steht.

 

Die schwierigen Menschenrechte und ihr Einfluss auf die Menschenrechtsbildung

Die real existierende Menschenrechtsbildung ist von der Umsetzung ihrer programmatischen Zielsetzungen noch weit entfernt. Gründe hierfür liegen auch in der Logik und Entwicklung der Menschenrechte selbst wie in ihrer alltäglichen und stereotypen Wahrnehmung durch die Bürger. Menschenrechte sind komplex, unvollendet und umstritten. Im Alltagsbewusstsein gelten sie zudem oft als selbstverständlich, machtlos oder aber als störende Unruhestifter. Beides schafft besondere Herausforderung für die Menschenrechtsbildung.

 

Komplexe Menschenrechte

Die Menschenrechte sind selbst ein schwieriges, hoch ausdifferenziertes Thema, das an alle Menschenrechtsbildner hohe Ansprüche stellt. Nehmen wir nur einige markante Beispiele:

  • Menschenrechte haben unterschiedliche Geltungsbereiche: Sie existieren als philosophische Ideale, als moralische Normen, als politische Forderungen und als juridische Normen.

  • Es gibt unterschiedliche Generationen von Menschenrechten, die auch unterschiedlich gut geschützt sind.

  • Es gibt unterschiedliche Schutzsysteme mit unterschiedlich weit entwickelten Schutzformen und teilweise sich überschneidenden Kompetenzen.

Die didaktischen Entscheidungen, was wer und wie lernen soll, ist eine schwieriges Unterfangen. Zunehmend erleichtern die zur Verfügung stehenden Materialien aber diese Entscheidungen. Eine unverzichtbare Ressource für die Menschenrechtsbildung ist auch das Internet geworden, und der freie Zugang wie die Möglichkeit, die nötigen Kompetenzen zu erlernen, gehören heute selbst schon zum Recht auf Bildung dazu. Das Internet bietet Informationen über alle Menschenrechtsdokumente und Schutzmechanismen, über Verletzungen der Menschenrechte und über Reaktionen und Initiativen der NGOs, Zugang zu und Verteilung / Versendung von Kursen / Materialien zur Menschenrechtsbildung. Darüber hinaus ermöglicht es Kommunikation und Dialoge zwischen den unterschiedlichsten Akteuren und Betroffenen der Menschenrechtspolitik und der Menschenrechtsbildung.

 

Unvollendete Menschenrechte

Die Entwicklung der Menschenrechte ist ein noch längst nicht abgeschlossener Prozess. Einerseits bedeutet dies, dass immer noch neue Lebensbereiche als so fundamental wichtig anerkannt werden, dass sie menschenrechtlich normiert und geschützt werden können. Andererseits bedeutet dies aber auch, dass viele Menschenrechte noch gar keine einklagbaren Rechte darstellen, sondern erst im Stadium eines Ideals oder einer politischen Forderung existieren. Wenn hier der kontextbezogene und historisch aufgeklärte Blick fehlt, kann das bei Lernern leicht zu Enttäuschungen führen und zur Skepsis gegenüber der Wirksamkeit der Menschenrechte.

 

Kontroverse Menschenrechte

Eine besondere Herausforderung für die Menschenrechtsbildung liegt darin, dass Menschenrechte im seltenen Fall eindeutig und unstrittig interpretierbar sind, sondern dass es vielfältige Streitpunkte und Konfliktfelder gibt. Kontroversen gibt beispielsweise über

  • das Menschenrecht auf Asyl;

  • die Begründbarkeit kollektiver Rechte;

  • die Umsetzbarkeit des Menschenrechts auf Entwicklung;

  • die Interpretation konfligierender Rechte wie im Kopftuchstreit;

  • das Verhältnis von politischen und von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten;

  • die Einschränkung von Menschenrechten in Notsituationen und Nicht-Einschränkbarkeit von so genannten notstandsfesten Menschenrechten;

  • die Legitimierbarkeit von militärischen Interventionen zum Schutz von Menschenrechten.

Menschenrechtsbildner können nicht die Probleme und Kontroversen lösen, die die Menschenrechtspolitik aufwirft. Sie können nur kontrovers darstellen, was kontrovers ist.

 

Selbstverständliche und unmerkliche Menschenrechte

Die Lerner dort abzuholen, wo sie sind, bedeutet oft Unterschiedliches - je nach der Art und Weise, in der die Einzelnen in ihren Rechten beschnitten sind und dies als Problem wahrnehmen. In Gesellschaften, in denen zumindest die Bürgerrechte vergleichsweise gut geschützt sind, herrscht oftmals eine Art "Rechtssaturiertheit" vor. Die Sensibilität und Aufmerksamkeit für das Thema Menschenrechte ist dann sehr begrenzt, sie richten sich vorrangig auf schwere Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern. Vor allem die Menschenrechte, die man nicht mehr hat, gelangen als verletzte Rechte zu Bewusstsein. Im Zustand relativer Sicherheit gelten sie jedoch als selbstverständlich und unmerklich. Lehrerinnen und Lehrer können dann nicht darauf rechnen, dass Menschenrechte als ein drängendes Thema wahrgenommen werden. Immer gilt es herauszuarbeiten: Was bedeuten Menschenrechte konkret für das eigene Leben und was passiert, wenn sie fehlen? In radikaler Weise vermag Menschenrechtsbildung an den Beispielen deutscher Diktaturen darüber aufzuklären, warum wir Menschenrechte brauchen und was passieren kann, wenn staatliche Macht entgrenzt wird und zivilgesellschaftliche Gegenmacht fehlt.

 

Lästige Menschenrechte?

So leicht es zuweilen ist, Menschen zu motivieren, sich für ihre "eigenen" Menschenrechte einzusetzen, so schwierig gestaltet es sich zumeist, wenn es um die Anerkennung der gleichen Menschenrechte bei den anderen geht. Dort, wo die Botschaft lautet: Nimm dir deine Rechte, findet man leicht Gehör. Dort, wo die Botschaft heißt: Achte die gleichen Rechte der anderen, wird dies nicht selten als lästige Beschränkung und moralische Zumutung empfunden. Menschenrechtsbildung leistet beides: Aufklärung über Berechtigungen, aber auch über Begrenzungen und Verpflichtungen! Die Anerkennung gleicher Würde und Rechte kann man sicherlich nicht mit moralischen Appellen an die "Gutmenschen" erreichen, sondern es bedarf frühzeitig einer besonderen Lernkultur, um die Bereitschaft zu stärken, gleiche Rechte und gleiche Würde zu akzeptieren: Empowerment heißt ein "magic word" in der internationalen Diskussion. Es geht um das Starkmachen von Menschen als Grundlage für ihre Offenheit und Toleranz. Vor allem diejenigen, die selber Anerkennung erfahren haben, sind fähig, andere als gleichberechtigt anzuerkennen und ihr Anderssein zu tolerieren.

 

Machtlose Menschenrechte?

Die Menschenrechtsbildung muss sich weiterhin auch mit einem allgemeinen Ohnmachtsverdacht auseinandersetzen. Wie kann der ganze Menschenrechtsschutz etwas taugen, wenn er die vielen zu beklagenden Menschenrechtsverletzungen nicht verhindern kann?! Diese oft lähmende Ohnmachtsvermutung wird allerdings nicht nur durch die schockierenden Ausmaße der Menschenrechtsverletzungen ausgelöst, sondern sie wird auch durch unangemessene Erwartungen verursacht. Stattdessen ist es angeraten, die Perspektive einmal zu verändern. Was wäre denn ohne den bisherigen Menschenrechtsschutz?! Wie viel Willkür wurde verhindert, welche Diskriminierungen gemindert und welche Lebensqualität ermöglicht! Aus dieser Sicht kommt in den Blick, was schon erreicht wurde und nicht nur, was noch aussteht. Menschenrechtsbildung muss die Erfolgsgeschichte und die "Macht der Menschenrechte" vermitteln! Mit der Entwicklung der Menschenrechte haben es die Menschen - in einem langen und konfliktreichen Zivilisationsprozess - gelernt, sich zu schützen: zunächst vor der Willkür des Staates, aber zunehmend auch vor Diskriminierung und Repression anderer Bürger. Am Beispiel der einmal überschwänglich "friedliche Revolution" genanten Bürgerproteste von 1989 lässt sich zudem zeigen, was zivilgesellschaftliche Gegenmacht unter günstigen Rahmenbedingungen erreichen kann. Menschenrechte haben die Welt verändert und können es auch weiterhin tun.

 

Blauäugige Menschenrechtler?

Stereotype Vorhaltungen, dass Menschenrechtsbildung auf einer blauäugigen "Gutmenschenperspektive" beruhe, hört man immer wieder. Das Gegenteil ist der Fall. Menschenrechte sind kein Thema für "Gutmenschen". Die Menschenrechtsbildung rechnet auch mit dem Schlimmsten. Menschenrechte sind notwendig und haben sich entwickelt, weil Menschen andere Menschen immer wieder und systematisch entwürdigen, entrechten, entmenschen, beschädigen. Menschenrechte sind eine aufgeklärte Reaktion auf die Schattenseiten unseres Menschseins und seiner gewalttätigen gesellschaftlichen Erscheinungsformen. Menschenrechte sind Schutzinstrumente, die Räume der Selbstbestimmung und der Nicht-Diskriminierung ermöglichen sollen. Deshalb ist es für die Menschenrechtsbildung auch so wichtig, nicht nur über die Ideale und den Werthintergrund der Menschenrechtsentwicklung zu berichten, sondern über die real existierenden nationalen wie internationalen Schutzmechanismen, die die Menschenrechtsverletzungen zwar nicht überwinden, aber begrenzen können. Menschenrechte sind ein Dauerprojekt der Zivilisierung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse. Die Decke der Zivilisation bleibt aber dünn und brüchig und historische Rückfälle hinter das Niveau erreichten Menschenrechtsschutzes sind immer möglich, wie uns die Zeit nach dem 11. September 2001 nachdrücklich demonstriert. Auch diese Anfälligkeit und Brüchigkeit ist Thema der Menschenrechtsbildung.

 

Bedrohte Menschenrechte

Schlagartig haben der Terroranschläge des 11. September und die Reaktionen auf sie unterstrichen, wie gering das Reservoir an nachhaltiger Toleranz und belastbarem Menschenrechtsbewusstsein war. Menschenrechte wurden nicht nur durch die Terroristen verletzt, sondern auch durch den Kampf gegen den Terrorismus. Generell entstand ein Klima, in dem viele Politiker im Einvernehmen mit der Mehrheit der Gesellschaft Menschenrechte für teilweise verzichtbar, suspendierbar oder einschränkbar halten, sofern die Einschränkungen in Zeiten der Unsicherheit wieder mehr Sicherheit zu versprechen scheinen. Im Schatten terroristischer Bedrohung besteht die Gefahr, dass der Staat überreagiert und sich dem anheim gibt, was Wilhelm Heitmeyer die "autoritäre Versuchung liberaler Republiken" nennt und dass die Bürger bereit sind, Freiheitsrechte für Sicherheitsversprechen aufzugeben. Menschenrechtsbildung nach dem 11. September ist stärker gefordert denn je zuvor. Auf der Wissensebene gilt es sowohl darüber aufzuklären, welche Grund- und Menschenrechte durch die unterschiedlichen Sicherheitspolitiken tangiert und beschnitten werden, als auch die Analyse voranzutreiben, was denn die Ursachen des Terrorismus sind, und wie allein durch die Achtung der Menschenrechte "menschliche Sicherheit" ermöglicht wird. Auf der Werteebene gilt es immer wieder zu verdeutlichen und zu begründen, warum die Würde des Menschen als unteilbar und unverlierbar angesehen wird und dass dies eben im Extremfall (oder Notstandsfall) auch für vermutete wie überführte Terroristen gilt, d.h. dass auch sie das Menschenrecht haben und behalten, nicht gefoltert zu werden.

 

Vision der Veränderung

Einigen sind die Menschenrechte aber auch ein Dorn im Auge, da sie als Störenfriede und Unruhestifter angesehen werden. Dies ist nicht ganz falsch, aber welche Schlussfolgerung ist daraus zu ziehen? Die Menschenrechte sind eine Rebellion gegen leidvolle Erfahrungen, die als Unrecht gedeutet werden. Menschenrechte sind Instrumente der theoretischen wie der praktischen Kritik. Menschenrechtsbildung ist deshalb eine Art Schule des kritischen Denkens und des auf Veränderung zielenden Handelns. Der Begriff der Menschenrechte erfasst einerseits die schon real existierenden und andererseits die noch zu realisierenden Menschenrechte. Und dort, wo sich eine Kluft zwischen beiden Dimensionen auftut, entzündet sich die Kritik. Dem Begriff der Menschenrechte eigen ist eine Kritik an all den Verhältnissen, in denen Menschenrechte verletzt, verweigert oder verschwiegen werden. Menschenrechtsbildung klärt auf über solche Verhältnisse. Sie informiert über Missstände und vermittelt - orientiert an den Ergebnissen der Bezugswissenschaften - Einsichten in deren vielfältige Ursachen. Menschenrechtsbildung will verändern (in unterschiedlichen Gesellschaften natürlich unterschiedlich tief greifend und weit reichend): Orientiert an der Idee gleicher Menschenwürde und im Vertrauen auf ihre gemeinsamen Kräfte als Bürger und Bürgerinnen werden sich die Menschen wehren gegen Diskriminierung, Widerstand leisten gegen Tyrannis und sich einsetzen für die Ziele der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Artikel 28 dieser Erklärung lautet "Jedermann hat das Recht auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung ausgesprochenen Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können." Dort, wo sich die Menschen eine andere Ordnung als die bestehende gar nicht mehr vorstellen können, gilt es zu zeigen, inwieweit die Menschenrechte ein Mehr an Freiheit, Gleichberechtigung, menschlicher Sicherheit und Lebensqualität ermöglichen.

 

Literatur

Breit, G./Schiele, S. (Hrsg.): Demokratie braucht politische Bildung. Bad Schwalbach/Ts. 2004

Fritzsche, K.P.: Menschenrechte. Eine Einführung mit Dokumenten. Paderborn u.a. 2004

Fritzsche, K.P.: Bedeutung der Menschenrechte für die politische Bildung. In: Himmelmann, G./ Lange, D. (Hrsg.): Demokratiekompetenz. Beiträge aus Politikwissenschaft, Pädagogik und politischer Bildungs Wiesbaden 2005

Himmelmann, G.: Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Ein Lehr- und Studienbuch. Bad Schwalbach/Ts. 2004

Lehnhart, V.: Pädagogik der Menschenrechte. Opladen 2003

Lohrenscheit, C.: Das Recht auf Menschenrechtsbildung. Grundlagen und Ansätze einer Pädagogik der Menschenrechte. Frankfurt am Main 2004

Mahler, C./Mihr, A.(Hrsg.): Menschenrechtsbildung. Bilanz und Perspektiven. Wiesbaden 2004

 

Anmerkungen

1 Vgl.: http://www.nafia.idv.tw/htm/docs/ShulamithKoenig.doc

2 Vgl. http://www.hrusa.org/hrmaterials/temperature/default.shtm

 

Unser Autor

Prof. Dr. K. Peter Fritzsche ist Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Menschenrechtsbildung an der Universität Magdeburg und Mitglied des Bundesvorstands der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB). Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Menschenrechte und Menschenrechtsbildung, Toleranzerziehung, didaktische Fragen der politischen Bildung.

 


 

 


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