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Vereint nach drei Jahrzehnten?
 

 

 

Heft 1-2/2020

Hrsg: LpB



 

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Inhaltsverzeichnis
 

  

Einleitung

Vereint nach drei Jahrzehnten?


Jahrestage und Jubiläen werden medial zuweilen etwas überbemüht. Sie gehören jedoch zu den wichtigen Erinnerungspunkten, die zur Reflexion anregen. Die Jahre 1989 und 1990 sind „Epochenjahre“: Der Fall der Mauer am 9. November 1989 war der Durchbruch zur Einheit und markierte einen Wendepunkt in der deutschen und internationalen Politik. Mit der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 und dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 endete die Teilung der Welt in zwei Blöcke.

Die Bürgerinnen und Bürger der DDR erlebten einen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Transformationsprozess, dessen Nachwirkungen immer noch spürbar sind. Die Transformationserfahrungen haben Spuren hinterlassen. Eine beiderseitige Ernüchterung währt schon geraume Zeit. Bis heute treten Unterschiede zwischen dem „Osten“ und dem „Westen“ zutage, sei es in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, in (partei-)politischen Einstellungen oder in der politischen Kultur. Als Symbol der deutschen Teilung ist die Mauer mittlerweile länger verschwunden als sie gestanden hat, doch die Unterschiede zwischen Ost und West sind noch existent. Es gibt nicht nur ein ökonomisches und materielles Gefälle, sondern auch ein Gefälle mit Blick auf Selbstbewusstsein, Darstellungsvermögen und Zuhörbereitschaft.
Was geschah 1989 und 1990? Das letzte Jahr der DDR gilt oft als ein vergessenes Jahr. Das 41. Jahr der DDR brachte jedoch gravierende Entscheidungen. Der Zehn-Punkte-Plan Helmut Kohls war von größerer Tragweite als der maßgeblich von DDR-Oppositionellen initiierte Aufruf „Für unser Land“. Der Zentrale Runde Tisch plädierte für schnelle Wahlen zur Volkskammer, ohne aber die Einheit Deutschlands zu propagieren. Mit überwältigender Mehrheit stellte der Ausgang dieser Wahl eine Art Plebiszit für die deutsche Einheit dar. Der Staatsvertrag, der Wahlvertrag und der Einigungsvertrag bildeten wichtige Schritte auf dem Weg zur Wiedervereinigung. Eckhard Jesse plädiert dafür, das letzte Jahr der DDR nicht als ein Jahr der verpassten Chancen zu interpretieren.

Unzufriedenheit und darauf gründende Opposition und Widerspruch sowie eine Tendenz zur Westwanderung hatte es in der Bevölkerung der DDR immer schon gegeben. Als die leitenden Parteikader der KPD 1945 aus ihrem Moskauer Exil nach Deutschland kamen, brachten sie vielleicht die Hoffnung mit, die „Befreiung der Arbeiterklasse“ in Deutschland zu vollenden, aber ihre politische Vorstellungswelt war geprägt von den Kämpfen der Weimarer Republik und der stalinistischen Atmosphäre der Angst, die ihre Persönlichkeiten überformt hatte. Statt einer sozialen Republik errichteten sie eine Diktatur, welche eine Mauer als Basis staatlicher Macht benötigte, wodurch sich die SED für weitere 28 Jahre an der Macht halten konnte, bevor sie 1989 zusammen mit ihrer Mauer unterging. Gerhard Sälter schildert die zeitgeschichtlichen Etappen des SED-Staates, beginnend mit der Durchsetzung der Diktatur nach 1945 bis zum Fall der Mauer im November 1989.

Michael Fritsch erörtert Ausmaß und Ursachen der immer noch bestehenden wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Er geht zunächst auf die ökonomische Ausgangslage nach dem Zweiten Weltkrieg und auf die wirtschaftliche Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft bis zur Wiedervereinigung im Jahr 1990 ein. Des Weiteren wird der Transformationsprozess in den neuen Ländern nachgezeichnet. Die noch verbleibenden Entwicklungsunterschiede und die aktuelle Situation der ostdeutschen Wirtschaft sind auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung noch deutlich durch mehr als vierzig Jahre Sozialismus geprägt. Eine grundlegende Umorientierung des Wirtschaftssystems benötigt aufgrund der immensen Anforderungen schlichtweg längere Zeiträume.

Anlässlich der Volkskammerwahl reiste Jo Berlien im März 1990 auf Einladung eines CDU-Abgeordneten des Wahlkreises Calw-Freudenstadt nach Frankfurt/Oder. Er sollte den dortigen Wahlkampf beobachten und in einer Lokalausgabe der Südwest Presse darüber berichten. Dem konservativen Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ wurden 1990 nur geringe Chancen eingeräumt. Die CDU (Ost) bat daher um Unterstützung aus dem Westen. Seit dieser Zeit ist Jo Berlien beruflich wie privat immer wieder mit der Ost-West-Thematik befasst. Ob im Journalistenkolleg an der FU Berlin, in einer Begegnung mit dem Ostberliner Autor Andre Wilkens oder mit der Ostberliner Schriftstellerin Barbara Honigmann – immer geht es auch um den Unterschied zwischen Ost und West.

Knapp zweieinhalb Millionen Frauen und Männer sind seit der Wiedervereinigung in die neuen Länder gezogen. Einer von ihnen ist Markus Decker. Im Spätsommer 1992 zog der Journalist als 28-Jähriger nach Sachsen-Anhalt und „verliebte“ sich rasch in den Osten. Er erzählt, wie er die neuen Bundesländer kennen lernte, wie steinig, aber dennoch voller Überraschungen und menschlich wichtigen Begegnungen sein Weg war. In seinem einfühlsamen Porträt der ostdeutschen Gesellschaft beschreibt Markus Decker aber auch, wie seine Liebe zum Osten langsam erlosch. Er schildert sein nachlassendes Verständnis für ostdeutsche Mentalitäten, Besonderheiten der politischen Kultur und für den zu beobachtenden Rechtsruck einzelner Milieus. Die Geschichte seiner teilweisen Entfremdung zeigt, dass die innere Einheit eine immer noch reichlich fragile Angelegenheit ist.

Die Wiedervereinigung versprach Freiheits- und Wohlstandsgewinne, wurde aber aus Sicht der ostdeutschen Bevölkerung als ökonomischer Schock, als soziale und kulturelle Enteignung wahrgenommen. Mehr als die Hälfte der Ostdeutschen fühlen sich im Jahr 2019 immer noch als Bürger zweiter Klasse. Wolf Wagner zeigt an historischen Beispielen gelingende Vereinigungen als Zusammenschlüsse Gleicher und vergleicht diese mit Vereinigungen, die per Anschluss oder Beitritt erfolgten und Konflikte auslösten. Mit Bezug auf Norbert Elias und Pierre Bourdieu entwickelt Wolf Wagner ein eigenes Modell kulturellen Wandels. Anstatt eines optimistischen Modells des Kulturschocks, an dessen Ende die Verständigung steht, werden ein dauerhaft wahrgenommener Ausschluss der ostdeutschen Bevölkerung und als Folge davon eine trotzige Gegenkultur konstatiert.

Die psychologischen Nachwirkungen der Umbrüche sind immer noch gegenwärtig. Everhard Holtmann geht der Frage nach, wie sich die politischen Einstellungen in Ost- und Westdeutschland im Zeitverlauf entwickelt haben. Denn nur im Ost-West-Vergleich lässt sich klären, ob sich die Deutschen nach der Wiedervereinigung im politischen Denken angeglichen haben, getrennte Wege gingen oder sich divergent entwickelt haben. Indikatoren wie die Demokratiezufriedenheit, das Institutionenvertrauen, die wahrgenommene Responsivität von Politikern, die Bevorzugung des repräsentativen oder direkten Demokratiemodells, Formen politischer Partizipation sowie die Gerechtigkeitserwartungen an Staat und Politik geben Auskunft über Stand und Veränderungen der politischen Einstellungen.

Drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung dominiert das Trennende, nicht das Vereinende oder gar Vereinigte das öffentliche Bild zum Zustand der Republik. Nicht zuletzt die regionale Stärke der rechtspopulistischen bis -extremistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD) im Osten gilt als Ausdruck der gesellschaftlichen Spaltung. Noch dreißig Jahre nach ihrem Beitritt zur Bundesrepublik müssen sich die Bürger und Bürgerinnen der neuen Länder des Verdachtes erwehren, sie seien nicht „demokratiefähig“. Doch wie gravierend ist die Spaltung der Gesellschaft? Erik Vollmann diskutiert, wie es um zentrale Elemente der Demokratieunterstützung in Deutschland bestellt ist. Dabei werden der Osten und der Westen nicht als monolithische Blöcke betrachtet, sondern Unterschiede zwischen einzelnen Bundesländern in den Blick genommen.

Haftete den neuen Ländern unmittelbar nach der Wiedervereinigung mit Blick auf die Wahlbeteiligung das Bild des Sorgenkindes an, schienen sich die Unterschiede im Lauf der Zeit einzuebnen. Die Bundestagswahl 2017 jedoch brachte, auch durch die Stimmengewinne der AfD, Bewegung in das Parteiengefüge. Isabelle-Christine Panreck fokussiert zunächst die Anfänge der bundesdeutschen Demokratie nach der Wiedervereinigung. Nach der Skizzierung der „Übernahmepolitik“, die der Bevölkerung der DDR durchaus entgegenkam, werden die westdeutschen Volksparteien sowie deren Streben in die politische „Mitte“ analysiert. Schließlich rücken diejenigen Parteien in den Vordergrund, die eindeutige Positionen in sozioökonomischen und soziokulturellen Konflikten einnehmen: zunächst der Kontrast von FDP und Die Linke als Gegenspielerinnen in sozioökonomischen Fragen, dann Grüne und AfD als Gegenpole auf der soziokulturellen Achse. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf mögliche Konsequenzen für das Parteiensystem.

Nach dem Umbruch in der DDR 1989/90 erfolgte ein enormer Elitentransfer von West- nach Ostdeutschland. Mit der Ausdehnung des politisch-rechtlichen Systems der Bundesrepublik auf die neuen Länder wurden (er­fahrene) Westdeutsche betraut, die in der Folge im politisch-administrativen, wirtschaftlichen und juristischen ­Bereich Führungspositionen besetzten. Auffallend ist, dass sich an dieser anfänglichen Lage bis heute wenig geändert hat. Die Frage einer angemessenen Repräsentation ostdeutscher Bevölkerungsgruppen in den Führungsetagen ist nicht zuletzt politisch relevant und macht sich in der aktuellen Stimmungslage in der Bevölkerung Ostdeutschlands bemerkbar. Michael Schönherr und Olaf Jacobs gehen der Frage nach, inwieweit Ostdeutsche in den Elitepositionen sowohl Deutschlands als auch Ostdeutschlands tatsächlich repräsentiert sind oder im Laufe der Zeit überhaupt in Führungspositionen nachrücken konnten.

Die gesellschaftliche Position der Frau in der DDR war durchaus zwiespältig. Die Gleichberechtigungspolitik führte zur Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt und zu deren rechtlicher und finanzieller Unabhängigkeit – ein Gleichstellungsvorsprung, der sich bis heute in der beruflichen Autonomie ostdeutscher Frauen niederschlägt. Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensgestaltung und politischen Partizipation jedoch blieben beschränkt. Um die Verstetigung der bis heute zu konstatierenden Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Frauen erklären zu können, bedarf es der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen der Frauen in der DDR sowie mit den Umbruchserfahrungen und den Angleichungsprozessen nach der Wiedervereinigung. In den Werte- und Einstellungsmustern ostdeutscher Frauen spiegeln sich – so das Fazit von Martin Kopplin – Umbruchserfahrungen, ökonomische und soziale Unsicherheiten sowie politische Enttäuschung wider.

Der westdeutsche Blick auf die DDR, auf den Fall der Mauer, die Wiedervereinigung sowie den Transformationsprozess wird in der Geschichtswissenschaft erst in jüngster Zeit thematisiert. Will man die nach wie vor anhaltende Unzufriedenheit der Menschen in den neuen Ländern verstehen, muss man auch nach der Perspektive der „alten“ Bundesrepublik fragen. Christiane Bertram schildert das Interviewprojekt „Generation 1975“, in dem 26 Zeitzeug*innen befragt wurden, die im Jahr 1975 geboren wurden und bis zum Mauerfall im Westen bzw. im Osten Deutschlands aufgewachsen sind. Der Beitrag geht zunächst der Frage nach, ob die deutsch-deutsche Teilungsgeschichte durch asymmetrische, parallele oder verflochtene Entwicklungen charakterisiert ist. Die Schilderung der ersten Ergebnisse des Oral History-Projekts zeigt eindrücklich, wie unterschiedlich nicht nur die Zeit der Trennung, sondern auch der Mauerfall und die Wiedervereinigung samt ihren Folgen im Osten und Westen erlebt wurden.

Siegfried Wittenburg war in den 1980er-Jahren einer der wichtigsten Fotografen in der DDR. Als ausgebildeter Funkmechaniker und fotografischer Autodidakt dokumentierte er in dieser bedeutenden historischen Zeitspanne den Alltag in diesem Staat mit einem kritischen und doch liebevollen Blick. 1986 geriet er mit dem Regime in Konflikt, weil er sich einer Zensuraufforderung der SED widersetzte und nicht den Zielen des Staates folgte. Die spannenden Jahre nach der politischen Wende bis 1996 hat Wittenburg mit der Kamera festgehalten. Nach einer Zwischenphase von 15 Jahren kehrte er 2010 zu seinen künstlerischen Wurzeln zurück. Sein Thema ist wiederum der Alltag der Menschen im vereinten Deutschland. Seine Publikationen, Ausstellungen und Vorträge speisen sich aus eigenem Erleben, als folgende Werte für ihn nicht existierten: Freiheit, Demokratie und Menschenwürde.

Allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen aufschlussreiche Informationen sowie Einsichten und oft auch persönliche Ansichten vermittelt haben, sei an dieser Stelle gedankt. Dank gebührt auch dem Schwabenverlag und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Druckvorstufe für die stets gute und effiziente Zusammenarbeit.


Siegfried Frech

 

 


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