Zeitschrift

Die Bundesländer

 


Antonio Peter
Freistaat Thüringen


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Inhaltsverzeichnis



Ehemaliges Musterland der Kleinstaaterei und kulturelles Experimentierfeld

Im Herzen Deutschlands

Der Freistaat Thüringen ist nach seiner Fläche mit 16 171 km2 eines der kleineren Flächenstaaten der Bundesrepublik Deutschland. Auch die Bevölkerungsdichte (gesamt 2,504 Millionen) liegt mit 155 Einwohnern pro km2 (1995) deutlich niedriger als zum Beispiel die Flächenstaaten im Westen der Bundesrepublik (zum Vergleich: Baden-Württemberg 289 pro km2). Die Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) des Freistaats betrug 1996 61,0 Milliarden DM (zum Vergleich: Baden-Württemberg 510,5 Milliarden DM).

Im Nordwesten grenzt Thüringen an Niedersachsen, im Norden an Sachsen-Anhalt, im Osten an Sachsen, im Süden an Bayern und im Westen an Hessen. Die Oberflächengestalt des Landes ist vielfältig. Während die Gebirge im Norden und Süden des Freistaats eine Höhe von über 600 m erreichen (der Große Beerberg ist mit 982m ü. NN. die höchste Erhebung) werden an der Grenze zu Sachsen-Anhalt lediglich noch 119 m ü. NN gemessen. Umgrenzt von der "buckligen Welt" des Eichsfeldes im Nordwesten, den Hügelländern im Osten und den Erhebungen im Süden liegt das fruchtbare Thüringer Becken, ein Raum vergleichbar mit einer riesigen Schüssel, das durch verschiedene kleinere Heraushebungen gekennzeichnet ist. Eines der bekanntesten Mittelgebirge in Deutschland ist der Thüringer Wald. Keilförmig erstreckt er sich beginnend im Gebiet um Eisenach in südöstlicher Richtung bis etwa zur Linie Gehren-Schleusingen und geht dort in das Thüringer Schiefergebirge über. Der auf den Kammlagen des Thüringer Waldes von Hörschel nach Blankenstein verlaufende Rennsteig ist einer der populärsten Wanderwege Deutschlands. Dabei kann das Gebiet auf eine lange touristische Tradition zurückblicken. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckten Reisende die landschaftlichen Reize dieser Gegend, und der Thüringer Wald entwickelte sich zu einem der beliebtesten Feriengebiete. Als besonders mondän galt der Wintersportort Oberhof.

Thüringen gehört zu den waldreichsten Bundesländern in Deutschland. Etwa ein Drittel der Fläche (537 400 Hektar) ist mit Wald bewachsen. Daher wird das Land auch oft "Das grüne Herz Deutschlands" genannt. Eine Bezeichnung, die bereits im vorigen Jahrhundert entstand, und die immer wieder gern in Reiseführern Aufnahme findet. Die Länge des Gewässernetzes beträgt für Thüringen 15400 km. Besonderen Anteil haben daran die Flüsse Werra (200 km), Saale (196 km), Unstrut (150) km und Ilm (120 km).

Kleinstaaten

Thüringen ist oft in negativem Sinn als das Musterland deutscher Kleinstaaterei bezeichnet worden. Im 18. und 19. Jahrhundert, als Territorialstaaten allgemein als "modern" galten, sprach man despektierlich von der Flickenkarte Thüringen. Tatsächlich bestand das Gebiet, das wir heute als Thüringen kennen, über lange Zeit aus vielen Kleinststaaten. Immer wieder durchgeführte Erbteilungen, Kriege und territoriale Entschädigungen führten zu einem kaum überschaubaren Gewirr von Klein- und Kleinststaaten. Um 1700, dem Höhepunkt der territorialen Zersplitterung, bestand Thüringen aus zehn Herzogtümern, zehn Herrschaften, vier Grafschaften, einem erzbischöflichen Besitz sowie zwei Reichsstädten. Dies war aber nicht immer so. Im Mittelalter stellte das Gebiet eine recht geschlossene Herrschaft dar. Die Landgrafen von Thüringen zählten sich im 12. und 13. Jahrhundert zu den mächtigsten Fürstengeschlechtern des Reiches. Ihr Stammsitz, die Wartburg in Eisenach, ist heute noch eine der bekanntesten Burgen in Deutschland. Ebenso populär ist die heilig gesprochene Elisabeth (1207-1231) als mildtätige Landgräfin.

Am Beginn der neuzeitlichen Staatengeschichte Thüringens steht die Landesteilung von 1485. Die Brüder Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht (Albert) beschlossen, ihre gemeinsame Regierung zu beenden und den Wettinischen Staat aufzuteilen. Mit der Leipziger Teilung entstand ein "ernestinischer" und ein "albertinischer" Staat. Den Ernestiner genannten Wettinern blieb der Kurkreis Wittenberg neben großen Gebieten im mittleren und südlichen Thüringen. Die Albertiner erhielten die Mark Meißen und neben anderen Territorien die Gebiete von Naumburg bis Weißensee. Diese Gebiete führten den Namen "Herzogtum Sachsen" mit Dresden als Mittelpunkt. Im Verlauf der Geschichte agierten die Ernestiner zum Teil unglücklich. Zum Beispiel befand sich Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige auf Seiten der Verlierer in der Schlacht bei Mühlberg 1547 gegen den Kaiser. Infolge dessen verlor das Haus die Kurwürde und die Kurlande an den Albertiner Moritz von Sachsen.

Aber noch weitreichendere Auswirkungen hatte das Erbrecht. Es gelang den Ernestinern nicht, die Erbfolge im Sinne der Primogenitur (Erbrecht des erstgeborenen Sohnes) zu regeln. Vielmehr blieben alle männlichen Mitglieder einer Dynastie zur Erbfolge berechtigt. Das war die wesentliche Ursache der Landesteilungen. Viele der entstandenen Kleinstaaten trugen noch die Bezeichnung "Sachsen" im Namen, obwohl sie kaum noch etwas mit dem Kurfürstentum zu tun hatten. So auch im Fall des möglicherweise berühmtesten deutschen Kleinstaates Sachsen-Weimar-Eisenach, dessen Herzog Carl August (1775-1828) als Mäzen das schriftstellerische Wirken Johann Wolfgang Goethes und Friedrich Schillers mit ermöglichte.

Die Landesgründung von 1920

Zur maßgeblichen territorialen Zusammenlegung kam es 1920. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte sich die Zahl der thüringischen Kleinstaaten auf acht verringert - vier ernestinische: Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, Herzogtümer Sachsen-Coburg und Gotha, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg; zwei Schwarzburgische: Fürstentümer Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen; zwei Reußische: Fürstentümer Reuß älterer Linie (Greiz) und Reuß jüngerer Linie (Gera). Nicht zu Thüringen im politischen Sinne zählte der 1816 entstandene Regierungsbezirk Erfurt, der mit der Stadt Erfurt, dem Eichsfeld und den ehemaligen Reichsstädten Mühlhausen und Nordhausen zu Preußen gehörte. Nach den Landtagswahlen von 1919 entstand durch Zusammenlegung der Kleinstaaten das Land Thüringen mit Hauptstadt Weimar. Die Befürworter einer großthüringischen Lösung unter Einbeziehung des Regierungsbezirks Erfurt erhielten keine Mehrheit. Erst 1944 wurde Erfurt mit weiteren preußischen Gebieten in das Land Thüringen eingegliedert. Auch nach 1945 konnte sich Erfurt als Hauptstadt des Landes gegenüber Weimar durchsetzen. Allerdings endete die Geschichte Thüringens als Staats- und Verwaltungsgebilde wenige Jahre später. Im Rahmen der Aufgliederung der Länder der DDR in Bezirke wurde 1952 auch das Land Thüringen in die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl unterteilt. Die Landesvertretung wurde aufgelöst, ihre Kompetenzen und Aufgaben von der Zentralregierung in Berlin und den einzelnen Bezirksverwaltungen wahrgenommen.

Thüringen als kultureller Mittelpunkt

Die Einschätzung der Bedeutung Thüringens hat sich in den letzten Jahren radikal gewandelt. Wurde früher oft von einem "Musterland deutscher Kleinstaaterei" mit provinzieller Größe gesprochen, dessen einzelne Bestandteile die Modernisierung und kulturelle Entfaltung eher behinderten als förderten, so weisen neue Studien darauf hin, daß sich hier wie in kaum einer anderen kulturellen Landschaft Deutschlands die jeweilig aktuellen politischen und kulturellen Strömungen gebündelt haben; hierzu habe die zentrale Lage, aber auch die Kleinstaaterei beigetragen. Denn es gab ideale Möglichkeiten, kulturelle Modelle und Gegenmodelle auf kleinstem Raum aufzubauen. Thüringen ist als Experimentierfeld gesellschaftspolitischer Visionen immer wieder in Erscheinung getreten. Der Ruf der Landgrafen als Mäzene von Kunst und Kultur war schon so groß, daß der legendäre "Sängerkrieg" auf die Wartburg verlegt wurde. In Thüringen hielten sich die wichtigsten Sänger und Poeten des 13. Jahrhunderts auf. Von hier gingen kulturelle Impulse für ganz Deutschland aus. Im 16. Jahrhundert meldete sich Thüringen als religiöses, politisches und kulturelles Zentrum zurück. Die Landschaft wurde zum Zentrum der Reformation. Auf der Wartburg übersetzte Martin Luther die Bibel und schuf damit die Norm für die von uns heute gebräuchliche Sprache. Mit Kurfürst Friedrich dem Weisen hatte Luther einen Partner innerhalb der Reichsfürstenschaft gewonnen. Daraus entwickelten sich auch die frühen und später traditionell engen Beziehungen zwischen der Reformation und Teilen der Reichsfürstenschaft. Die politischen und gesellschaftlichen Friktionen, die sich auch aus der neuen Lehre ergaben, wurden ebenfalls in Thüringen ausgetragen. Thomas Müntzer verband reformatorische mit sozialrefomatorischen Ideen. Von hier aus verbreiteten sich Müntzers Thesen im ganzen Reich. Das Territorium wurde zu einem der Zentren des Bauernkrieges in Deutschland.

Der Geist von Weimar

In den letzten Jahren ist deutlich geworden, daß die thüringische Kleinstaaterei eine Fülle von kulturellen Experimenten förderte. In jedem Territorium gab es einen Fürsten, der als Mäzen fungieren konnte. Dank des Mäzenatentums des Fürsten konnten Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller aus Weimar die impulsgebende Stadt für die gesamte deutsche Klassik machten. Außerhalb Thüringens weniger bekannt, aber trotzdem nicht minder wichtig, sind die schulischen und pädagogischen Experimente Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha-Altenburg (1601-1675), der erstmals in Deutschland eine allgemeine Schulpflicht für Kinder einführte. Einige Fürsten legten aber auch selbst Hand an. So schrieb Georg II. (1866-1914) von Sachsen-Meiningen mit seinen werkgetreuen Aufführungen Theatergeschichte. Der Herzog wirkte sowohl als Mäzen wie auch als Künstler. Im 19. Jahrhundert galt das kleinstaatliche Thüringen als eines der liberalsten Gebiete Deutschlands. Nicht von ungefähr wurde 1815 in Jena die erste Burschenschaft gegründet, die sich der Vereinigung Deutschlands unter liberalem Vorzeichen verpflichtet fühlte. 1817 entlud sich der Unmut über die reaktionären politischen Verhältnisse in den deutschen Einzelstaaten auf dem Wartburgfest.

Politische und künstlerische Konzepte verdichteten sich im 20. Jahrhundert. Das Gebiet des Thüringer Waldes und der Rhön galt vielen deutsch-völkischen Gruppen als eine der letzten Bastionen deutschen Wesens. Mit den instrumentalisierten Bezügen zu Weimar und der Wartburg entwickelten Schriftsteller wie Adolf Bartels (1862-1945) ihre literarischen und politischen Konzepte gegen die Moderne. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums stand das Bauhaus (1919-1925 in Weimar) als Werkstatt für moderne Gestaltung. Schon 1903 war Harry Graf Kessler nach Weimar gekommen und bemühte sich dort um eine Modernisierung des Ausstellungs- und Kunstgewerbes. 1919 tagte im Weimarer Theater die Verfassunggebende Nationalversammlung. Auch wenn Weimar lediglich wegen seiner politisch ruhigen Lage und der guten Unterbringungsmöglichkeiten für die Abgeordneten gewählt worden war, so bekannten sich die demokratischen Parteien gerne zum humanistisch weltoffenen "Geist von Weimar". 1921 setzte die SPD/USPD-Landesregierung unter August Frölich an, das Land radikal zu modernisieren. Die Schul- und Kulturpolitik nahm geradezu kulturkämpferische Züge an und lief doch an den Interessen großer Teile der Bevölkerung vorbei. Mit dem "Sprung in die Moderne" setzte die Landesregierung modernistische Strömungen der Weimarer Republik in politisches Handeln um, aber gleichzeitig überforderte sie damit die thüringische Bevölkerung. 1924 kam es zum politischen und damit auch zum kulturellen Umschwung. Der aus den Landtagswahlen als Sieger hervorgegangene "Thüringer Ordnungsbund" rechnete mit der vorhergehenden Reformperiode ab. Künstlerische Experimente wurden abgebrochen, das Bauhaus nach Dessau vertrieben.

Schon drei Jahre vor der Machtergreifung zeigten die Nazis hier ihr wahres Gesicht

In den folgenden Jahren erhielten deutsch-völkische Gruppierungen und die Nationalsozialisten Zulauf. 1926 fand in Weimar der erste Parteitag der NSDAP statt. Während in anderen Ländern noch Redeverbote und Einschränkungen galten, fand Adolf Hitler in Thüringen ein tolerantes zum Teil auch wohlwollendes politisches Klima vor. In den Weimarer Zirkeln trafen sich Nationalkonservative, die die Demokratie von Weimar ablehnten, mit den jüngeren radikale Veränderungen anstrebenden Nationalsozialisten. Auf Landesebene entwickelte sich die NSDAP zu einer politischen Macht und nahm damit die Entwicklung auf Reichsebene in gewissem Maße voraus. Am 23. Januar 1930 übernahm Wilhelm Frick (NSDAP) die Ministerien Inneres und Volksbildung in einer Koalitionsregierung. Drei Jahre vor der Machtergreifung Hitlers zeigte Fricks Vorgehen, wozu die Nationalsozialisten fähig waren. Als Innenminister betrieb er die konsequente Durchsetzung der Polizei mit Nationalsozialisten. Als Kultusminister führte er Schulgebete mit nationalsozialistischen Inhalten ein. Es erging ein Verbot der Mitgliedschaft in kommunistischen Organisationen für alle Landes- und Kommunalbeamten. Im Juli 1932 erhielten die Nationalsozialisten 42,5 Prozent der Stimmen bei den Landtagswahlen. Fritz Sauckel übernahm den Vorsitz des Staatsministeriums und benannte als Schwerpunkte seiner Arbeit: "Rasse und Volkstum, nationaler Lebens- Aufbau- und Wehrwille". Für Thüringen hieß dies nach der Machtergreifung Hitlers uneingeschränkte Willkürherrschaft, Ermordung der jüdischen Mitbewohner, Einweisungen in Konzentrationslager. Mit dem Konzentrationslager Buchenwald entstand in unmittelbarer Nähe Weimars eines der größten Lager in Deutschland. Die klassische Kultur Thüringens wurde im NS-Sinne instrumentalisiert, Kunst- und Literatursammlungen "gesäubert". Besondere Bedeutung kam hier den "Weimar-Festspielen der deutschen Jugend" zu, die unter der Schirmherrschaft des "Reichsjugendführers" durchgeführt wurden. Überregionale Bedeutung hatte ebenfalls die "Woche des deutschen Buches", die Joseph Goebbels besonders förderte, denn die "Plattform Weimar" sollte auch international dem Nationalsozialismus zum Transport seiner Ideologie dienen.

Recht schnell instrumentalisierte dann die DDR die kulturellen Traditionen Thüringens

Mit dem Einmarsch der Amerikaner 1945 und später der sowjetischen Streitkräfte setzte eine Neubesinnung auf die kulturellen und politischen Traditionen Thüringens ein, die allerdings nicht lange anhielt. Recht schnell instrumentalisierte die DDR die kulturellen Traditionen Thüringens. In den 60er Jahren nannten sich die wichtigsten Veranstaltungen "Weimartage der Jugend", in den 80ern "Weimartage der FDJ", die bis 1989 durchgeführt wurden - sie sollten Jugendlichen ein "Weimarerlebnis" vermitteln und an die "Klassiker" heranführen. Eine selbständige kulturelle Entfaltung blieb dem Land ebenso verwehrt wie ein eigenes politisches Profil an der Nahtstelle zwischen West- und Ostdeutschland. Zwischen 1945 und 1989 unterbanden die Sowjetische Militäradministration und KPD - später die SED - nach Kräften alle kulturellen oder politischen "Sonderwege". Vereinfacht wurde dieses Bestreben durch die Einführung der Bezirke. Thüringen versank weitgehend im politischen und kulturellen Mittelmaß.

Auch wenn es an der Universität Jena schon vor 1989 oppositionelle Kreise gab, so spielte Thüringen in der friedlichen Revolution von 1989 keine herausragende Rolle. Nach dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland und der Wiedererlangung der staatlichen Souveränität bemühen sich kulturelle Institutionen, an die vielfältigen Traditionen des Landes anzuknüpfen. Nicht immer leicht, bei einer konsequenten Mißachtung innovativen Potentials in den letzten Jahrzehnten.

Das Land Thüringen 1990

Unmittelbar nach der politischen Wende 1989 wurde auch in Thüringen der Wunsch nach Bildung eines eigenen Landes laut. Die aus den Wahlen am 18. März 1990 hervorgegangene 10. Volkskammer kam dem Wunsch der Bevölkerung nach regionaler Selbstverwaltung nach. Zunächst aber fanden am 6. Mai 1990 Kommunalwahlen statt, denn es galt auf kommunaler Ebene frei gewählte und demokratisch legitimierte Vertretungen aufzubauen. In einem zweiten Schritt erließ das frei gewählte Parlament in Berlin am 22. Juli 1990 das Ländereinführungsgesetz. Damit wurden die fünf ostdeutschen Länder, darunter auch Thüringen, gebildet. Die erste Landtagswahl in Thüringen fand am 14. Oktober statt. Nach den rasanten Umbrüchen der Zeit zwischen 1989 und Sommer 1990 verlief die Landtagswahl relativ ruhig. Bei einer vergleichsweise niedrigen Wahlbeteiligung von 70,5 Prozent errang die CDU mit 45,4 Prozent gefolgt von der SPD 22,8 Prozent einen Erfolg (PDS 9,7 Prozent, FDP 9,3 Prozent, Grüne 6,5 Prozent). Am 25. 10. 1990 konstituierte sich der Thüringer Landtag. Zum Ministerpräsidenten einer CDU-FDP-Koalitionsregierung wurde Josef Duchac (CDU) gewählt. Allerdings blieb Duchac nicht lange im Amt. Schon im Januar 1992 trat er zurück, nachdem er sich des Vertrauens seiner eigenen Fraktion nicht mehr sicher sein konnte. Die Koalitionsfraktionen CDU und FDP wählten daraufhin Bernhard Vogel (ehemals Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz) zum neuen Ministerpräsidenten.

Die Verfassung

Thüringen kann auf ruhmvolle Traditionen als Rechtsstaat zurückblicken. Schon das am 5. Mai 1816 verkündete Grundgesetz einer Landständischen Verfassung für das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach enthielt zwar noch keinen Grundrechtekatalog doch garantierte der Text dank ordentlicher Gerichtsbarkeit und Hinweis auf die Pressefreiheit weitgehende Grundrechte. Die Thüringer Verfassung wurde am 25. Oktober 1993 verkündet und lehnt sich in ihren Grundzügen an das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland an. Am 16. Oktober 1994 fand ein Volksentscheid über die Verfassung statt. Mit 70,1 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen stimmten die Bürgerinnen und Bürger zu. Diesem Ergebnis gingen intensive Beratungen voraus. Die Phase der Verfassunggebung zwischen 1991 und 1993 verlief zunächst weitgehend ohne Beteiligung der Öffentlichkeit. Im Sommer 1993 wurde der Entwurf der Bevölkerung vorgestellt und diese zu Stellungnahmen eingeladen. Erst nach Kenntnisnahme der Änderungsvorschläge der Bürgerinnen und Bürger und nochmaligen Beratungen stand der endgültige und dann verabschiedete Text fest.

Die Verfassung entstand aus dem Wissen um die Gefahren, die Diktaturen für das demokratische Staatswesen bergen. In der Präambel wird unmittelbar auf die "leidvollen Erfahrungen mit überstandenen Diktaturen" und auf die "friedlichen Veränderungen im Herbst 1989" hingewiesen. Darüber hinaus werden eindeutige Bezüge zur weltoffenen kulturellen Tradition Thüringens hergestellt. In der Präambel hieß es "Thüringen ist ein Freistaat". Hiermit wird an den 1921 in der ersten demokratischen Verfassung benutzten Begriff angeknüpft. Im Gegensatz zu oft geäußerten Vermutungen hat dieser Begriff aber keinerlei verfassungsrechtliche Auswirkungen. In Rechten und Pflichten ist der Freistaat den anderen Ländern der Bundesrepublik Deutschland gleichgestellt. Die Grundrechte stehen an erster Stelle in der Verfassung. Dies zeigt, welch hohe Bedeutung der Würde und der Selbstbestbestimmung des Menschen beigemessen wird. Hier decken sich Verfassung des Freistaats und Grundgesetz weitgehend. Aber anders als das Grundgesetz formuliert die Thüringer Verfassung in ausführlicher Form Ziele staatlichen Handelns. Dazu zählen unter anderen: die Sozialstaatlichkeit, der Schutz für Menschen mit Behinderung, der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen, die Möglichkeiten, durch frei gewählte und dauerhafte Arbeit den Lebensunterhalt zu verdienen, der Schutz von Tieren, das Angebot angemessenen Wohnraums.

Der Landtag

Der Thüringer Landtag ist das vom Volk gewählte oberste Organ der demokratischen Willensbildung und übt die gesetzgebende Gewalt aus. Der Landtag bestand in der Wahlperiode 1990-94 aus 89 Abgeordneten und besteht in der laufenden Wahlperiode 1994-1999 aus 88 Abgeordneten. Die Zahl der im Landtag vertretenen Fraktionen sank vom ersten auf den zweiten Landtag von fünf auf drei. Waren in der ersten Wahlperiode noch CDU (44 Sitze), SPD (21), NF/GR/DJ (6), LL-PDS (9), FDP (9) vertreten, so blieben in der Wahlperiode 1994-1999 CDU (42), SPD (29), PDS (17) übrig.

Bezüglich der Sozialstruktur des Landtages lassen sich im 2. Thüringer Landtag einige ostdeutsche Besonderheiten erkennen. Neben den acht Abgeordneten, die auch Minister sind, üben nur elf der 88 Abgeordneten neben ihrem Mandat einen weiteren Beruf aus. Auf das Erbe der DDR ist der geringe Anteil an Beamten und selbständigen Abgeordneten zurückzuführen. Während die erste Berufsgruppe in der DDR nicht existierte wurde die zweite aus politischen Gründen möglichst klein gehalten. Ähnlich verhält es sich mit der Religionszugehörigkeit. So ist der Anteil der sich als konfessionslos bekennenden Abgeordneten mit fast 35 Prozent recht hoch.

Während die parlamentarische Arbeit im 2. Landtag in strukturierten Bahnen verläuft, war die Arbeit im 1. Landtag von Intensität bestimmt. Galt es doch, innerhalb kürzester Zeit die Gesetzgebung dem westdeutschen Niveau anzugleichen, um so die Voraussetzungen für ähnliche Lebensumstände in Ost- und Westdeutschland zu schaffen. Die Aufgaben des Landtages unterschieden sich nicht nennenswert von denen der anderen föderalen Parlamente in Deutschland. Zu den wichtigsten Aufgaben gehören die Gesetzgebung, die Wahl des Ministerpräsidenten und die Kontrolle der vollziehenden Gewalt.

Nach kaum zwei Wahlperioden ist es noch zu früh, langfristige Trends erkennen zu können. Die politische Landschaft einerseits und das milieubedingte Wahlverhalten andererseits sind in Thüringen noch nicht so festgefügt, als daß gesicherte Aussagen gemacht werden könnten. Mit Interesse wird die für 12. September 1999 vorgesehene Landtagswahl erwartet. Die politischen Akteure wünschen sich, daß die Wähler eindeutige Verhältnisse schaffen und die allseits ungeliebte Große Koalition aufgegeben werden kann.

Regierung und Verwaltung

Die Landesregierung ist ein Kollegialorgan und bildet das "oberste Organ der vollziehenden Gewalt". Die Landesregierung entscheidet als ganze über die Einbringung von Gesetzesentwürfen im Landtag, den Abschluß von Staatsverträgen und bei Stimmabgabe im Bundesrat. Gemäß der Koalitionsvereinbarung von 1994 bestehen neben dem Ministerpräsidenten (Bernhard Vogel, CDU) und der ihm zugeordneten Ministerin für Bundesangelegenheiten in der Staatskanzlei (CDU), acht Ministerien, denen jeweils vier Minister von der CDU und vier von der SPD vorstehen. Die Verfassung gewährt dem Ministerpräsidenten eine durchaus starke Position. Nur er wird vom Parlament direkt gewählt und nur er kann von diesem Parlament durch ein "konstruktives Mißtrauensvotum" gestürzt werden. Der Ministerpräsident ernennt und entläßt die Minister und hat die Richtlinienkompetenz in der Politik. De facto sind diese Machtmittel allerdings eingeschränkt. In einer Koalition (in Thüringen seit 1994 CDU/SPD) hat jeder der Koalitionäre das Gewohnheitsrecht, "seine" Ministerien eigenverantwortlich zu besetzen. Die Grundzüge der Politik wurden bereits im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Weitere Grundsatzfragen werden im Koalitionsausschuß vorbesprochen, so daß die Interessen der beiden Koalitionäre gewahrt bleiben. Trotzdem sind die Möglichkeiten des Ministerpräsidenten, Einfluß zu nehmen gegeben, denn alle Minister müssen ihn über Angelegenheiten von besonderer politischer Bedeutung informieren.

Der Verwaltungsaufbau des Freistaats ähnelt dem anderer Flächenstaaten der Bundesrepublik, weist aber eine Besonderheit auf. Zu den obersten Landesbehörden gehören die Ministerien sowie der Präsident des Landtags, der an der Spitze der Landtagsverwaltung steht. Die wichtigste Mittelbehörde ist das Landesverwaltungsamt in Weimar. Seine Stellung und Aufgaben sind mit den Regierungspräsidien bzw. Bezirksregierungen in anderen Ländern vergleichbar. Das heißt, daß es in Thüringen keine Regierungsbezirke gibt! Dem Landesverwaltungsamt sind als untere Landesbehörden die Landratsämter der Kreise und die Stadtverwaltungen der kreisfreien Städte unterstellt.

Die Kommunen

Seit 16. August 1993 gilt die Thüringer Kommunalordnung. Hier wird die Selbstverwaltung der Kommunen garantiert. Das Bestreben des Gesetzgebers war es, die Voraussetzungen zu schaffen, daß möglichst alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft auch vor Ort geklärt werden können. Mit der Thüringer Kommunalordnung hat sich der Freistaat für die Einführung der Süddeutschen Ratsverfassung entschieden. Dies heißt, daß Gemeinderat und Bürgermeister per Urwahl durch das Volk gewählt werden. Der kommunale Bereich wurde als erster nach der Wende von 1989 durch die freie Kommunalwahl vom 6. Mai 1990 demokratisch legitimiert. Dabei haben die Kommunen in den zurückliegenden Jahren den größten Teil der personellen, städtebaulichen und infrastruktur-technischen Konversion tragen müssen. Galt es doch durch personelle Erneuerung wieder an Glaubwürdigkeit vor den Wählerinnen und Wählern zu gewinnen. Darüber hinaus mußte in erheblichem Maße Personal abgebaut werden. Die verrottete Infrastruktur, die darniederliegenden Innenstädte verlangten nach schneller und umfassender Sanierung. Mit der zügigen Erschließung von Gewerbegebieten sollten die Voraussetzungen für die Ansiedlung neuer Unternehmen geschaffen werden. In den dieser Gründungsphase folgenden Jahren kam es zu einer scharfen öffentlichen Diskussion um Auslastung der Gewerbegebiete und um den Verbrauch von Fördermitteln. Dabei muß aber bedacht werden, daß die Nachfrage durch ansiedlungswillige Unternehmen oft nur sehr ungenau eingeschätzt werden konnte.

Die wirtschaftliche Entwicklung

Wie kaum ein anderer Bereich erfährt die wirtschaftliche Entwicklung Thüringens öffentliche Aufmerksamkeit. Nach wie vor liegt die Arbeitslosenquote mit 19 Prozent (September 1997) deutlich höher als im Westen der Bundesrepublik. Dabei verfügt der Freistaat über eine Wirtschaftsstruktur, die von Experten als günstig eingeschätzt wird. Große Unternehmen haben sich in Eisenach (GM, BMW) und in Jena (Jenoptik, Schott) angesiedelt bzw. konnten nach 1990 weitergeführt werden. Im übrigen Thüringen sind von einzelnen Ausnahmen abgesehen (z.B. Computer und Mikroelektronik in Sömmerda sowie Erfurt) vorwiegend Klein- und mittelständische Unternehmen vertreten. Die Palette der hergestellten Produkte reicht dabei von der Glasproduktion und Veredlung im Thüringer Wald bis hin zum Maschinenbau. Wie anderenorts auch konnte der beschleunigte Abbau von Arbeitsplätzen in der Industrie nicht durch den expandierenden Markt für Dienstleistungen ausgeglichen werden. Städte wie Weimar sowie das Gebiet des Thüringer Waldes sind stark auf den Fremdenverkehr hin orientiert. Der Neubau von Hotels und die Wiederherstellung von Sehenswürdigkeiten eröffnete für viele, aber eben doch nicht für alle Menschen neue Berufsperspektiven. Die Dynamik des in den frühen 90er Jahren sehr aktiven Baugewerbes hat deutlich nachgelassen. Dank erheblicher steuerlicher Begünstigungen für Investoren ist die verkommene Bausubstanz in Rekordzeit renoviert worden. In einigen Gemeinden hat sich der gravierende Wohnungsmangel ins Gegenteil gekehrt - ausreichend Wohnungen und gewerblich nutzbare Immobilien sind vorhanden. Dafür scheint sich in letzter Zeit ein konjunktureller Aufschwung im industriellen Bereich abzuzeichnen. Allerdings bleiben Experten skeptisch, ob dieser Aufschwung sich auch in einer zunehmenden Zahl an Beschäftigten niederschlagen wird.

In der Landwirtschaft haben sich nach der Wende aus den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) der DDR Betriebe unterschiedlicher Rechtsform gebildet. Neben Einzelbetrieben durch Wiedereinrichtung und Personengesellschaften haben sich mit eingetragenen Agrargenossenschaften und Agrar-GmbH als Nachfolgebetriebe der LPG wie in den anderen neuen Bundesländern große Betriebsstrukturen erhalten, die etwa 68 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche bewirtschaften. Stark gestiegene Hektarerträge und Leistungen in der Tierproduktion führen bei drastischer Verringerung der Arbeitskräfte zu einer beachtlichen Produktivität. Günstige natürliche Voraussetzungen für eine landwirtschaftliche Produktion bieten sich vor allem im Thüringer Becken, wo u. a. die Erzeugung von Braugerste Tradition hat.

Forschungsverbünde zwischen Hochschulen und Unternehmen

Das Land hat große Anstrengungen unternommen, um Hochschulen und wissenschaftliche Einrichtungen auf den neuesten Stand zu bringen. Mit der Technischen Universität in Ilmenau besteht eine Bildungsstätte, die sich bewußt von den großen Massenhochschulen abhebt und ihr Profil im Bereich Maschinenbau und Mikroelektronik weiter schärft. Die große "Landesuniversität" in Jena kann auf eine ruhmreiche Tradition zurückblicken. Anwendungsorientierte Forschung gibt es hier seit 100 Jahren. Die Beziehungen zu den Firmen Carl Zeiss und Schott waren seit jeher besonders eng und bildeten eine der Voraussetzungen für den weltweiten Erfolg beider Unternehmen. In engen "Forschungsverbünden" zwischen Hochschulen und Unternehmen soll der technologische Sprung gelingen, der für das rohstoffarme Thüringen von zentraler Bedeutung ist.

Wie in den anderen der sogenannten neuen Ländern tut sich die Wirtschaft nach wie vor schwer, den Anschluß an das "Westniveau" zu halten. Die Gründe dafür sind vielfältig und werden allenthalben breit diskutiert. Ermutigend ist, daß in der verarbeitenden Industrie die Produktivität weiter zunimmt und in einigen Bereichen eben jenes geforderte "Westniveau" bereits erreicht worden ist. Demgegenüber stehen heute noch zum Teil höhere Lohnstückkosten in Thüringen als im Westen der Republik. Neue Entwicklungen und aufsehenerregende erfolgreiche Börsengänge (Jenoptik, Mühl) zeigen allerdings, daß die wirtschaftliche Entwicklung sehr differenziert zu betrachten ist. Schon jetzt bestehen in Thüringen Unternehmen, die fit für den Weltmarkt sind und die sich auf diesem behaupten werden.

Das Wappen

Der thüringische Löwe - der ungekrönt auch im hessischen Wappen zu finden ist - geht auf die Landgrafen von Hessen-Thüringen zurück, die ihn seit dem 12. Jahrhundert führten, seit 1210 mit der Streifenteilung.

Der Löwe ist von acht silbernen Sternen umgeben, von denen sieben die Länder symbolisieren, aus denen Thüringen 1920 entstanden ist. Der achte Stern steht für die später hinzugekommenen, ehemals preußischen Gebietsteile.

 

Literaturhinweise

Mägdefrau, Werner: Die Landgrafschaft Thüringen 1130 bis 1247. Erfurt 1996.

Thüringen auf dem Weg ins "Dritte Reich." Hrsg. von Detlev Heiden, Gunther Mai. Erfurt 1996.

Thüringen: Eine politische Landeskunde. Karl Schmitt (Hrsg.) Weimar 1996.

Anschrift:
Landeszentrale für politische Bildung Thüringen,

Regierungsstr. 73, 99084
Erfurt
 

Internet:
http://www.thueringen.de/LZT


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