Zeitschrift



Indien


Heft 1/98

Hrsg: LpB

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Inhaltsverzeichnis

 


Historische Weichenstellungen

Die Macht der Geschichte

Indien auf der Suche nach seiner Identität Von Dietmar Rothermund


Prof. Dr. Dietmar Rothermund ist Direktor der Abteilung Geschichte des Südasien-Instituts der Universität Heidelberg. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen gehören: "Indien. Kultur, Geschichte, Politik, Wirtschaft, Umwelt. Ein Handbuch" (Hrsg., 1995), "Gandhi. Eine politische Biographie" (mit Hermann Kulke, z. Aufl., 1997), "Geschichte" (2. Aufl. 1998).

Von Natur aus stellt Indien ein Sammelbecken verschiedenster Einflüsse und Traditionen dar, die bis heute das Land prägen. Der militärische Feudalismus der Großmoguln wurde beerbt durch die bürokratische Herrschaft der Briten. Nach der Unabhängigkeit wurde die Struktur der kolonialen Herrschaft beibehalten. Nach wie vor ist der öffentliche Dienst in Indien von besonderer Bedeutung, doppelt so viele Menschen sind hier beschäftigt wie in der Privatwirtschaft. Das hängt auch mit der Vorstellung der Eliten von einer Entwicklung von oben zusammen. Nicht zufällig ist auch das Bankenwesen Teil des öffentlichen Sektors.

Auch nach der blutigen Teilung des Landes lebt in der Diaspora eine starke islamische Minderheit von gegenwärtig 11 Prozent. Der Versuch, als indische Staatsideologie das Hindutum ("Hindutva") durchzusetzen, muß die Moslems aus grenzen, mit der Folge gefährlicher innerer Spannungen. Bleibt zu hoffen, daß eine Rückbesinnung auf die Gedanken Mahatma Gandhis erfolgt. Red.

 

Die Erlangung der Unabhängigkeit war kein Bruch mit der Vergangenheit

Die "Macht der Geschichte", die hier gemeint ist, ist kein geheimnisvolles Wesen, das den Lauf der Ereignisse vorherbe stimmt. Es ist die Summe vergangener Entwicklungen, die Strukturen gebildet haben, die den Rahmen für weitere Entwicklungen setzen. Weichenstellungen, die weit zurückliegen, bleiben dabei selbst für die Gegenwart bedeutsam. Das gilt für die Lebensgeschichte des einzelnen Menschen ebenso wie für die Ge schichte einer Nation. Entwicklungen, die in der Vergangenheit wurzeln, können dabei sowohl als tragendes Fundament als auch als Last und Hindernis wirken. Die Meinungen darüber, was sich zu bewahren lohnt und was überwunden werden muß, mögen dabei umstritten sein. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte ist in jedem Fall unvermeidlich.

Hier geht es nun um die Republik Indien, die zutiefst vom Erbe einer langen Ge schichte geprägt ist. Die Erlangung der Unabhängigkeit von britischer Kolonialherrschaft im Jahre 1947 bedeutete keinen Bruch mit der Vergangenheit. Die blutige Teilung des Landes war ein traumatisches Ereignis, das das Schicksal Indiens auch weiterhin bestimmt, aber in jeder anderen Hinsicht gab es keine Revolution in Indien, die die überkommenen Institutionen hinweggefegt und einen völligen Neubeginn signalisiert hätte. Es lohnt sich daher, das Erbe der indischen Geschichte näher zu betrachten und die Weichenstellungen aufzuspüren, die die Entwicklung des Landes bestimmt haben.

Von Natur aus ein Sammelbecken

Indien ist seiner Natur nach ein Sammelbecken, in das viele Einflüsse von außen einströmten, sich vermischten oder auch voneinander absetzten und eine in ihrer Art unverwechselbare Kultur hervorbrachten, die Jahrtausende überdauerte. Zu meist blieb diese Kultur auf sich selbst bezogen, doch zeigte sie in manchen Perioden auch eine erstaunliche Ausstrahlungskraft über die Grenzen Südasiens hin aus nach Zentralasien und Südostasien. Neben religiösen Bewegungen wie der des Buddhismus war diese Ausstrahlung auch der indischen Staatsform des religiös legitimierten aber zugleich pragmatisch agierenden Königtums zu verdanken. Diese Ausstrahlung erfolgte nur selten durch Eroberung, sondern weit mehr durch das Beispiel, das zur Nachahmung reizte.

In den staatlichen Gebilden des alten Indiens finden wir eine allmähliche Entfaltung der Königsmacht, die sich von Norden nach Süden ausbreitete, aber weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der autonomen Selbstorganisation überließ, wozu sowohl das Kastenwesen als auch die Händlergilden oder die Formen der lokalen Selbstverwaltung gehörten. Die Ordnung der Menschen nach Kasten er möglichte es den aus dem Norden eindringenden Eroberern, sich gegen die von ihnen angetroffenen einheimischen Stämme und Gemeinschaften abzugrenzen, ihnen aber zugleich einen Stellenwert zu zugestehen. Indien wurde "verkastet" und nicht vergesellschaftet. Die wichtigste Eigenschaft der Kaste war die Endogamie, die durch die Sitte der arrangierten Heirat gesichert wird, die auch heute noch die Grundlage des Kastenwesens ist.

Der militärische Feudalismus wurde von den Briten in eine bürokratische Herrschaft umgewandelt

Ein neues Element trat ab 1200 mit dem militärischen Überlagerungsfeudalismus islamischer Reiterkrieger auf. Es verbreite te sich rasch, weil sich auch die Hindu-Könige, wenn sie überleben wollten, dieser Struktur anpassen mußten. Die neuen Machthaber stützten sich auf stehende Heere professioneller Reiterkrieger. Das war kostspielig, trug aber gerade deshalb zu einer Konzentration politischer Macht bei. Die Autonomie lokaler Selbstverwaltung wurde von der Herrschaft der Reiterkrieger erdrückt. Der Kavalleriehauptmann als Garnisonschef und Distriktverwalter wurde zur Leitfigur des neuen Systems. Er war meist ein Fremdling in seinem Herrschaftsbereich.

Die Großmoguln standardisierten dieses System. Ihr Herrschaftsapparat wurde nach dem Muster militärischer Ränge durchorganisiert. Die Abschöpfung des Mehrwerts aus der Landwirtschaft zur Erhaltung des gewaltigen militärischen Apparats des Mogulreiches wurde solange vorangetrieben, bis der strapazierte Primärsektor den enormen "Dienstleistungssektor" nicht mehr tragen konnte. Im 18. Jahrhundert zerfiel das Reich in seine Teile, die aber die Strukturmerkmale des alten Systems bewahrten. Die miteinander streitenden Landmächte dieser Zeit waren nicht in der Lage, der Eroberung Indiens durch eine europäische Handelsgesellschaft Widerstand zu leisten, die durch ihre Seemacht einen größeren Operationsradius hatte, mit Rechenstift und Infantriedrill einen kostengünstigeren Militärapparat aufbaute und es verstand, diese Kosten dem indischen Steuerzahler anzulasten. Der Kavalleriehauptmann wurde als Distriktbeamter vom britischen Collector abgelöst, dessen Titel deutlich besagte, was er zu tun hatte.

Der Herrschaftsapparat wurde "zivilisiert", das nach Militärrängen geordnete System durch den lndian Civil Service (ICS) ersetzt. Die bürokratische Herrschaft war in Britisch-Indien sogar weit besser entwickelt als in Europa, weil sie an das Mogulerbe anknüpfen konnte, das sie aber umfunktionierte, indem sie den Militärfeudalismus durch eine bürgerliche Bürokratie ersetzte, ohne dabei andere Strukturmerkmale bürgerlicher Herrschaft nach Indien zu verpflanzen.

Der indische Freiheitskampf zielte darauf ab, diese den Indern vorenthaltenen Elemente bürgerlicher Herrschaft einzufordern. Man orientierte sich an den Ideen des Nationalismus, der Volkssouveränität und der parlamentarischen Demokratie. Die britische Vorgehensweise, mit beschränkten Verfassungsreformen auf die se Forderungen zu reagieren, ohne die parlamentarische Demokratie einzuführen, verstärkte den politischen Willen der indischen politischen Elite, sich mit nichts als dem echten Parlamentarismus zufriedenzugeben. Dieses Ziel erreichte sie 1947, doch sie kam nicht auf den Gedanken, nun auch die Bürokratie abzubauen. Im Gegenteil, der mächtige Innenminister Val labhbhai Patel sprach von dem ring of Service, der Indien zusammenhalten müsse, und meinte damit den in IAS (Indian Administrative Service) umbenannten ICS.

Bürokratie als Standbein, parlamentarische Demokratie als Spielbein

Die politische Entwicklung Indiens begann 1947 mit einem hybriden Erbe. Indien stand nun sozusagen auf zwei Beinen, dem Standbein der Bürokratie und dem Spielbein der parlamentarischen Demokratie. Man stärkte das Spielbein in der Folgezeit durch regelmäßige freie Wahlen, stützte sich aber auf das Standbein. Das Instrument der President's Rule das aus der Rüstkammer des britischen Vizekönigs stammte, der sich damit gegen das Überhandnehmen der Demokratie verteidigen konnte, wurde im Laufe der Zeit immer mehr genutzt. Unter President's Rule enthebt die Zentralregierung eine Landesregierung ihres Amtes, löst den Landtag auf und überträgt die Regierungsgewalt dem von der Zentralregierung ernannten Gouverneur. Innerhalb eines halben Jahres müssen Neuwahlen abgehalten werden wenn diese zu keinem guten Ergebnis führen, wird die Prozedur wiederholt.

Auf die Entwicklung von oben gesetzt

Die politische Elite Indiens setzte auf eine Entwicklung von oben. Für Jawaharlal Nehru war der republikanische Staat eine moralische Anstalt, in der die noch im Werden begriffene indische Nation zu einem modernen, homogenen Staatsvolk heranreifen sollte. Er dachte hierin ähn lich wie die nationalliberalen Freiheitskämpfer einer früheren Generation, mit denen er sonst nichts gemeinsam hatte. Er war von den Ideen des Marxismus geprägt und vertraute auf den planwirtschaftlichen Zugriff von oben und nicht auf die Impulse eines Wachstums von unten. Damit gab er, ohne es zu wollen, der Bürokratie Auftrieb, die nun nicht mehr nur Ruhe und Ordnung zu erhalten und die Steuern einzusammeln hatte, sondern auch die Zentren der Wirtschaft (commanding heights of the economy) besetzen mußte, die vor dem selbstsüchtigen Zu griff der Kapitalisten bewahrt werden sollten. Nehru sah nicht ein, daß Bürokrat und Unternehmer Funktionen haben, die sich nicht miteinander verbinden lassen. In einer "gemischten Wirtschaft", in der beide zusammenwirken sollen, versucht der Bürokrat den Unternehmer zu gängeln und der Unternehmer den Bürokraten zu korrumpieren, wobei die Gängelung eine Einladung zur Korruption wird.

Nehru hätte seine planwirtschaftlichen Ambitionen gar nicht verwirklichen können, wenn nicht die Briten bereits unter dem Druck der Probleme des Zweiten Weltkriegs einen Interventionsapparat aufgebaut hätten, den er übernehmen konnte. Er nutzte diesen Apparat dazu, um die Industrialisierung Indiens durchzusetzen, und konnte auf diesem Gebiet beachtliche Erfolge verzeichnen. Ob ein wirtschaftsliberales System hier effektiver gewesen wäre, bleibt eine offene Frage. Das Beispiel des deutschen "Wirtschaftswunders" legt es nahe, der liberalen Lösung den Vorzug zu geben. Aber man darf nicht vergessen, daß es sich in Deutsch land um einen Wiederaufbau handelte, der von gut ausgebildeten Arbeitskräften getragen wurde, die in Indien fehlten. Ferner wurde Indien von einem gallopierenden Bevölkerungswachstum betroffen, das sich gerade durch die bescheide ne Verbesserung der Lebensbedingungen nach der Erlangung der Unabhängigkeit dramatisch erhöhte.

Bevölkerungswachstum und Wirtschaftswachstum gingen Hand in Hand

Indien hatte 1947 rund 340 Millionen Einwohner, heute hat es 940 Millionen. Dabei ist es gelungen, das Prokopfein kommen dieser so stark gewachsenen Bevölkerung annähernd zu verdoppeln. Bevölkerungswachstum und Wirtschaftswachstum gingen Hand in Hand. Es war nämlich nicht ein übergroßes Geburtenwachstum, sondern ein rasches Abfallen der Sterberate, das Indiens Bevölkerungswachstum verursacht hat. Die durchschnittliche Lebenserwartung, die 1947 rund 40 Jahre betrug, liegt heute bei über 60 Jahren. Wäre Indien verelendet, hätte sich die Sterberate erhöht. Das Wirtschaftswachstum hat bewirkt, daß die Sterberate in Indien heute der in Europa entspricht.

Die indische Landwirtschaft hat einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, daß die wachsende Bevölkerung ernährt wer den konnte. Die Steigerung der Flächenerträge und die Ausdehnung der bewässerten Anbaufläche hat dies ermöglicht. Ein Drittel der Anbaufläche ist jetzt bewässert, 1960 waren es nur 18 Prozent. Indien hat sich weitgehend vom Monsun emanzipiert, dessen erratische Regenfälle sonst über Wohl und Wehe der Landwirtschaft bestimmten. Der Anstieg der land wirtschaftlichen Produktion bedeutete freilich nicht eine entsprechende Steigerung der Produktivität der Arbeitskräfte. Noch sind zwei Drittel der Arbeitskräfte Indiens in der Landwirtschaft tätig, erbringen aber nur ein Drittel des Sozialprodukts. Die Landwirtschaft bindet allerdings so die Arbeitskräfte, die im städtisch-industriellen Sektor keine Arbeitsplätze finden können. Die Urbanisierung Indiens hat einen geringeres Wachstums gezeigt als in anderen Ländern. Doch hat die Metropolisierung größere Fortschritte gemacht als die Urbanisierung insgesamt. Mit zusammen rund 45 Mill. stellen die sechs größten Städte rund ein Fünftel der gesamten städtischen Bevölkerung von 218 Mill.

Hohe Analphabetenrate bei gleich zeitig hohem Stand der Universitäten

Die große Zahl der ländlichen Bevölkerung bedingt den hohen Anteil von Analphabeten in Indien (ca. 45 Prozent), denn auf dem Lande sind weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung Analphabeten. Dabei ist der Anteil der Frauen bei den Analphabeten doppelt so groß wie bei den Männern. Früher war der elementare Bildungsstandard noch niedriger. Die Kolonialherren hatten nichts für die Grundschulerziehung getan, und so konnten nach 1947 nur langsam Fortschritte auf diesem Gebiet gemacht werden. Die Verhältnisse in der Landwirtschaft bewirken, daß Schulkinder immer wieder zur Arbeit auf dem Lande herangezogen werden und dabei wenig Zeit für einen geordneten Schulbesuch bleibt. Die offiziellen Statistiken, die von diesem Phänomen keine Notiz nehmen, zeigen freilich ein positiveres Bild.

Am oberen Ende der Bildungsskala ist dagegen ein enormes Wachstum zu verzeichnen. Das ist darauf zurückzuführen, daß die Briten Colleges in Indien gründe ten, die das Personal für die unteren Ränge der Verwaltung ausbildeten. Die technische Bildung wurde dabei vernachlässigt. Indien hat heute 148 Universitäten und weitere 28 Institutionen mit Universitätsstatus. Darunter gibt es nun auch bedeutende Technische Hochschulen. Bis her hat sich trotz hoher Absolventenzahlen nicht das Problem einer Schwemme arbeitsloser Akademiker ergeben. Als Sicherheitsventil bleibt die Auswanderung, die als brain drain kritisiert wird. Indien braucht sich aber um Nachwuchs auf diesem Gebiet keine Sorge zu machen. Eine staatlich verordnete Beschränkung der Freizügigkeit und die damit bewirkte Frustration hochbegabter Inder wäre wesentlich gefährlicher als jeder Verlust durch brain drain. Außerdem bringt die steigende Zahl hochqualifizierter Auslandsinder der indischen Nation auch manche Vorteile ein, die nicht unmittelbar zu Buche schlagen, aber im Zeitalter wachsender Globalisierung zunehmende Bedeutung haben werden.

Hohe Staatsquote, aufgeblähter öffentlicher Dienst

Die Tatsache, daß es nicht zu einer Arbeitslosigkeit von gut ausgebildeten Arbeitskräften gekommen ist, hängt freilich auch mit dem Wachstum der Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst zusammen. Der Anteil der Ausgaben der öffentlichen Hand am Bruttosozialprodukt betrug im Jahrfünft 1971-75 ca. 26 Prozent und im Jahrfünft 1987-91 ca. 38 Prozent. Ein großer Teil dieser Ausgaben waren solche für die Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor. Man könnte gerade zu von einer gigantischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sprechen. Von 1961 bis 1971 war die Zahl der Arbeitnehmer in diesem Sektor von 7 auf 10,7 Mill. gestiegen, von 1971 bis 1980 wurden weitere 4,5 Mill. Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor geschaffen, der nun doppelt so viele Arbeitnehmer beschäftigte wie die private Wirtschaft. Diese hatte 1961 5 Mill. beschäftigt, 1971 6,7, 1981 7,4. Seitdem stagnierte diese Zahl und ging zeitweilig sogar zurück.

Als ein Beispiel für die Rufblähung des öffentlichen Dienstes mag hier das verstaatlichte Bankwesen genannt werden. Das indische Bankwesen war nach britischem Vorbild auf die Finanzierung des Handels ausgerichtet. Es gab weder Investitionsbanken noch solche, die sich um die Ersparnisse der großen Masse der Bevölkerung und um die ländlichen Gebiete kümmerten. Als Indira Gandhi die Banken 1971 verstaatlichte, konnte sie daher gute Argumente dafür anführen. In der Folge zeit gelang es, das Netz .der Bankfilialen auf dem Lande auszudehnen und den Umfang der Spareinlagen zu vergrößern.

Um 1950 gab es in ganz Indien nur etwa 4000 Bankfilialen, um 1985 dagegen rund 50000, von denen sich mehr als die Hälfte in den ländlichen Gebieten befanden. Damit wuchs aber auch das Heer der Bankangestellten, die keinen freien Wettbewerb mehr kannten und ihre antiquierten Arbeitsmethoden als Besitzstand verteidigten. Im Jahr 1985 hatte der öffentliche Sektor in der Sparte "Finanz, Versicherungen etc.", zu der die Angestellten der verstaatlichten Banken zählen, rund 1 Mill. Arbeitnehmer zu verzeichnen, ein Jahrzehnt zuvor waren es etwa 460 000 gewesen. Beispiele dieses Wachstums einer parallelen Bürokratie ließen sich beliebig vermehren. Man denke nur an den staatlichen Aufkauf und Verteilung von rund 15 Prozent der indischen Getreideproduktion oder an die indische Eisen bahn, mit 1,8 Mill. Arbeitern und Angestellten der größte Arbeitgeber der Welt.

Wirtschaftliche Entwicklungen und Fehlentwicklungen

Die gigantischen Dimensionen des öffentlichen Dienstes behindern die interne Liberalisierung, die weit wichtiger ist als die Außenhandelsliberalisierung. Die Senkung von Zöllen war für den Staat leicht, zudem erbrachten Zollsenkungen rasch anwachsende Importe, die die Zolleinnahmen ansteigen ließen, die wiederum die Finanzierung der Rufblähung des öffentlichen Sektors ermöglichten. Diese Fehlentwicklung machte sich in den 1980er Jahren bemerkbar. Danach wurde versucht, sie zu korrigieren, aber das Tempo solcher Korrekturen ist der Natur der Sache nach langsam. Hier zeigt sich, daß Entwicklungen, die sich erst in jüngster Zeit vollzogen haben, schnell "geschichtsmächtig" geworden sind und sich nun eher als Belastung denn als tragendes Fundament für die Gestaltung der Zukunft erweisen.

Liberale Politiker und Wirtschaftswissenschaftler haben die Jahrzehnte, in denen sich Indien weitgehend vom Weltmarkt abgeschottet hatte, als verlorene Zeit bezeichnet und bedauert, daß Indien sich nicht schon viel früher dem Wettbewerb auf dem Weltmarkt gestellt hat. Doch war die Erschließung des großen indischen Binnenmarkts eine Aufgabe, der sich die Inder zunächst einmal selbst widmen mußten. In der langen Zeit der Kolonialherrschaft hatte Indien ja eine "offene Wirtschaft" gehabt, die voll an den Weltmarkt angeschlossen war. Erst in jüngster Zeit wird die Offenheit wieder erreicht, die im späten 19. Jahrhundert die Regel war. Nur hat Indien damals nur Agrarprodukte und Rohstoffe exportiert. Heute exportiert es Industrieerzeugnisse von Textilien und geschliffenen Edelsteinen bis zu komplizierter Computer-Software. Die Politik der Importsubstitution um jeden Preis war sicher schädlich. Der Protektionismus schafft Interessen, die sich seinem Abbau widersetzen. Doch wurde die Integration des indischen Binnenmarkts unter diesem Regime vorangetrieben. Eine rasche Erneuerung der alten "kolonialen" Offenheit hätte eher zu einer partiellen Erschließung durch ausländische Unternehmer geführt. Streiten könnte man sich freilich über den Zeit punkt, zu dem eine frühere Öffnung sinn voll gewesen wäre. Vielleicht wären die 1970er Jahre dazu geeignet gewesen. Nach der ersten Ölpreiskrise wurde deutlich, daß sich Indien nicht erfolgreich vom Weltmarkt abschotten kann, weil es auf Importe von Erdöl und Maschinen angewiesen ist. Dazu mußte es Devisen verdienen, doch das gelang zunächst durch den Export von Arbeitskräften, deren Überweisungen die indische Zahlungsbilanz ausglichen. Außerdem parkten Auslandsinder ihr Geld wegen der hohen Zinsen gern auf indischen Konten. Der Golfkrieg bedeutete dann eine ernste Krise für Indien. Überweisungen entfielen, und die Auslandsinder, die einen Staatsbankrott Indiens fürchteten, zogen ihre Gelder ab und brachten damit eben diesen Bankrott nahe herbei. Die indische Regierung machte 1991 aus dieser Not eine Tugend, wertete die Währung ab, senkte Steuern und Zölle und gewährte ausländischen Investoren mehr Möglichkeiten zur Beteiligung an indischen Firmen. Nach einem Regierungswechsel setzte die neue Regierung den Liberalisierungskurs fort, wie sich an dem unlängst vorgelegten Staatshaushalt für das Jahr 1997/98 zeigt. Indien hat jetzt ein Wirtschaftswachstum von ca. 7 Prozent pro Jahr zu verzeichnen und befindet sich auf einem stabilen Wachstumspfad. Das Bevölkerungswachstum zeigt außerdem bereits einen leichten Rückgang. Damit sind die Zeiten endgültig vorbei, als bei ca. 3,5 Prozent Wirtschaftswachstum und fast 2,5 Prozent Bevölkerungswachstum das reale Wachstum nur ca. 1 Prozent pro Jahr betrug. Bei einem reduzierten Bevölkerungswachstum von 2,1 Prozent verbleiben jetzt 4,9 Prozent Wachstum.

Diese Entwicklung stellt höhere Anforderungen an das politische System. Solange es möglich war, die ständig steigende Staatsquote zum Ausbau des politischen Patronagewesens zu nutzen und damit Wähler an "systemerhaltende" Parteien zu binden, brauchten sich die Politiker nichts Neues einfallen zu lassen. Jetzt steht das System auf dem Prüfstand.

Wird das politische System den neuen Herausforderungen gerecht?

Wird das politische System die neuen Anforderungen bewältigen können? Für seine Anpassungsfähigkeit spricht, daß mit Ausnahme von Indira Gandhis Notstandsregime seine Offenheit, bezeugt durch freie Wahlen und wiederholte Ablösungen von Regierungen, erhalten geblieben ist. Dringende Aufgaben, wie die Liberalisierung nach der Zahlungsbilanzkrise von 1991, sind erfolgreich bewältigt worden. Wesentliche politische Entscheidungen wurden von einem Konsensus getragen, der dafür sorgte, daß ein Regierungswechsel keine Kursänderung um 180 Grad bedeutete.

Als problematisch hat sich die Verbindung einer zentralistischen parlamentarischen Demokratie, geprägt durch das Mehrheitswahlrecht, mit einem föderalen Regierungssystem erwiesen. Für die Kongreßpartei, die nach Erlangung der Unabhängigkeit zur staatstragenden und staatsgetragenen Partei wurde, hatte sich das Mehrheitswahlrecht so ausgewirkt, daß es immer zu ihrem Sieg führte, weil sich rechte und linke Opposition gegenseitig neutralisierten und es zu keinem Zweiparteiensystem kam, dessen Heranbildung eigentlich als notwendige Konsequenz des Mehrheitswahlrechts gilt. Die Tatsache, daß die Kongreßpartei lange Zeit in Bund und Ländern herrschte, ließ auch den prinzipiell anti-föderalistischen Charakter der parlamentarischen Demokratie britischen Typs nicht hervortreten. Als die Kongreßpartei Macht verlor und die politische Willensbildung in den Bundesländern andere Wege ging, mußten Spannungen entstehen, die das politische System auf die Zerreißprobe stellen konnten, wenn es nicht gelang durch Konsensus-Management das Schlimmste zu verhüten.

Reformbedürftiger Föderalismus

Die Wahlen von 1996 haben nun ein besonders merkwürdiges Bild ergeben: Die Kongreßpartei blieb die einzige "nationale" Partei, sie hat zwar die absolute Mehrheit verloren, ist aber immer noch in zehn Bundesländern präsent, die Bharatiya Janata Partei, die sich anheischig macht, die Kongreßpartei als "nationale" Partei zu ersetzen, hat ihre Hochburgen in nur fünf Bundesländern und stützt sich vor allem auf das größte Bundesland Uttar Pradesh. Diesen beiden Parteien steht eine Gruppe regionaler Parteien gegenüber, die zusammen über so viele Sitze verfügen, daß sie als mächtige dritte Kraft auftreten können, wenn sie einig sind. Die Tatsache, daß zur Zeit regionale Parteien die indische Zentralregierung beherrschen, sollte dazu genutzt werden, dem indischen Föderalismus eine bessere Grundlage zu geben. Er hat seinen Ursprung in der letzten britisch-indischen Verfassungsreform von 1935, die dazu dienen sollte, die zentrale Kontrolle der Kolonialherren zu stärken und nur entbehrliche Aspekte staatlicher Macht an die Provinzialregierungen zu delegieren. Bei der Stärkung des Föderalismus sollte auch dafür gesorgt wer den, daß die lokale Selbstverwaltung aus gebaut und mit eigenen Ressourcen aus gestattet wird. Das bedeutet freilich eine Korrektur von Verhältnissen, die vom Militärfeudalismus des späten Mittelalters über die britisch-indische Bürokratie bis heute das politische System entscheidend geprägt haben.

Mahatma Gandhi hatte stets den Aufbau des politischen Systems von unten gefordert und vor den Elitepolitikern gewarnt, die das koloniale Erbe übernehmen und die Machtpositionen der Kolonialherren besetzen wollten. Doch Gandhis Erbe wurde ausgeschlagen, während die Struktur des kolonialen Systems bewahrt wurde. So gesehen ist der indische Freiheitskampf nach fünfzig Jahren Unabhängigkeit immer noch unvollendet. Die Anpassungsfähigkeit des indischen politischen Systems läßt jedoch hoffen, daß Re formen möglich sind. Es handelt sich schließlich nicht um ein verkrustetes autoritäres System, das brechen muß, weil es sich nicht biegen kann.

Der Hindu-Chauvinismus als Gefahr

Das politische System kann nicht nur im formalen Sinne betrachtet werden, es braucht auch eine inhaltliche Bestimmung. Die Kongreßpartei, die als Partei Mahatma Gandhis und Jawaharlal Nehrus das Erbe des Freiheitskampfes wahrte, sorgte lange Zeit für diese inhaltliche Bestimmung. Ein gemäßigter, säkularer Nationalismus mit sozialistischer Tendenz blieb als Staatsideologie lange unangefochten. Mit dem Machtverlust der Kongreßpartei wurde auch die Allgemeinverbindlichkeit dieser Ideologie infrage gestellt, und es kam eine neue Tendenz auf, die von ihren Gegnern als Hindu-Chauvinismus bezeichnet wird.

Hinduismus und Nationalismus sind bereits im 19. Jahrhundert eine Verbindung eingegangen, die in vieler Hinsicht problematisch war. Schon damals stellte sich die Frage nach der inhaltlichen Begründung eines nationalen Kampfes gegen die britische Fremdherrschaft. Die von den Briten bestrittene Behauptung, Indien sei eine Nation, mußte von indischer Seite durch die Suche nach einer brauchbaren Vergangenheit bewiesen werden. Es bot sich an, eine nationale Solidarität auf der Grundlage des Hinduismus zu konstruieren, doch die Vielfalt der Traditionen, die westliche Gelehrte auf den gemeinsamen Nenner "Hinduismus" gebracht hatten, stand diesen Bemühungen entgegen. Das Kastenwesen schließlich war mit der Idee der nationalen Solidarität überhaupt nicht zu vereinbaren. Die modernen indischen Solidaritätstraditionalisten waren denn auch Gegner des Kastenwesens, fanden es aber schwer, ihre Landsleute, die ja alle noch in den Schranken des Kastenwesens lebten, von ihrer Meinung zu überzeugen. Oft handelten sie auch selbst gegen ihre öffentlich vorgetragenen Überzeugungen, wenn es darum ging, die eigenen Kinder zu verheiraten etc. Sie gingen diesem Problem aus dem Wege, in dem sie die große Tradition der Sanskritliteratur, der indischen Philosophie und andere Errungenschaften der alten indischen Kultur hervorhoben. Dabei fanden sie in den Werken deutscher Indologen eine hoch willkommene Unterstützung ihrer Bemühungen. Die indischen Muslims, die ja immerhin im ungeteilten Indien ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, fühl ten sich freilich von solchen Konstruktionen nicht angesprochen, ja im wachsen den Maße ausgegrenzt.

Hindus und Moslems: das Problem der Existenz zweier großer Religionsgemeinschaften

Der 1885 gegründete indische Nationalkongreß, der auch die Muslims repräsentieren wollte, konnte sich nicht mit der Konstruktion einer Hindusolidarität identifizieren und fühlte sich von vornherein dazu verpflichtet, den Säkularismus zu fördern. Dennoch mußte auch der Kongreß die Existenz zweier großer Religionsgemeinschaften zur Kenntnis nehmen und verabschiedete daher eine Resolution, die besagte, daß Probleme, die von der einen oder der anderen Religionsgemeinschaft für kontrovers gehalten werden, nicht zum Gegenstand von Diskussionen im Kongreß gemacht werden dürfen. Diese Grundhaltung bestimmt auch heute noch die Ideologie der Kongreßpartei. Nur ist es etwas ganz anderes, solche Konflikte in einem Freiheitskampf gegen die Fremdherrschaft auszuklammern, als dies auch in einem freien Staats wesen zu praktizieren, wie es Jawaharla! Nehru tat, als er zwar das Hindurecht reformierte, aber das Muslimrecht unangetastet ließ, was man ihm heute zum Vorwurf macht.

Gewisse Kreise der politischen Elite der indischen Muslims ließen sich nicht von der religiösen Neutralität des Nationalkongresses überzeugen, sondern forderten schon 1906 die Einrichtung von separaten Wählerschaften für Muslims, um einer Majorisierung durch die Hindus entgegenzuwirken. Dieses wurde ihnen von den Briten gewährt, die darin ein Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft sahen und noch nicht bedachten, daß diese schicksalhafte Maßnahme später zur Teilung Indiens führen sollte. Der Führer der Muslimliga, M. A. Jinnah, verkündete 1940, daß es in Indien zwei Nationen gebe, Hindus und Muslims, und verlangte die Gründung separater Staaten für die Muslim-Nation. Er sagte jedoch nicht, was mit der großen Muslim-Diaspora geschehen solle, die bei einer Teilung in Indien verbleiben mußte. Das war eine besondere Ironie des Schicksals, denn Jinnah war bis zu diesem Zeitpunkt der Führer der Muslim-Diaspora gewesen und hatte wenig Einfluß auf die Muslimmehrheitsprovinzen gehabt, den er sich nun durch seine "Zwei-Nationen-Theorie" sichern wollte.

Die Muslim-Diaspora

Die nach der Teilung in Indien verbliebenen Muslims der Diaspora, die immerhin ca. 11 Prozent der Bevölkerung Indiens ausmachten, konnten sich ausrechnen, daß sie im Rahmen des Mehrheitswahl rechts nie eine Chance hätten, mit einer eigenen Partei irgendwelchen politischen Einfluß zu gewinnen. Sie zogen es vor, die Kongreßpartei zu unterstützen, und Jawaharlal Nehru tat alles, um ihnen dort eine politische Heimat zu bieten. Deshalb ließ er auch das Muslimrecht unange tastet und unreformiert, obwohl es an sich seinen Überzeugungen entsprochen hätte, ein einheitliches Recht für alle Staatsbürger einzuführen. Hier setzt denn auch die Kritik der modernen Hindu-Nationalisten der Bharatiya Janata Partei (BJP) an, die behaupten, der Säkularismus der Kongreßpartei sei nur politischer Opportunismus und müsse durch einen echten Säkularismus ersetzt werden.

Die Ideologie der BJP wurde von dem radikalen Solidaritätstraditionalisten V. D. Savarkar begründet, der das Neuwort Hindutva (Hindutum) schuf, und damit keinen religiösen, sondern einen politischen Begriff meinte, der alle Staatsbürger Indiens einschließen sollte. Die Muslims konn ten sich aber dadurch nur ausgegrenzt fühlen. Jinnah schätzte übrigens Savarkar, weil dessen Ideologie Jinnahs "Zwei-Nationen-Theorie" bestätigte. Zu seinen Lebzeiten blieb Savarkar eine marginale Figur in der indischen Politik, in der Gegenwart spielt der von ihm geprägte Begriff Hindutva jedoch eine zentrale Rolle. Radikale Anhänger der BJP halten die Majorisierung der Muslims für kein Problem und scheuen sich nicht davor, ihnen nahezulegen, nach Pakistan zu gehen, wenn es ihnen in Indien nicht gefiele. Angesichts der Tatsache, daß der heutige Staat Pakistan eine Bevölkerung hat, die der Muslimminderheit in Indien in etwa gleich kommt, ist das natürlich keine Alternative. Doch als politisches Argument ist es zugkräftig, zumal Pakistan nichts dagegen vorbringen könnte, wollte es nicht seine eigene Existenzberechtigung in Zweifel ziehen. Die Macht der Geschichte als bedrohliche Belastung wird an diesem Bei spiel besonders deutlich.

Individuelle Grundrechte versus Selbstbestimmungsrecht

Das Problem, das diesen Kontroversen zugrundeliegt, ist das der Grundrechte und des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Die Wahrung der Grundrechte wird in den meisten modernen Verfassungen zugesichert, dabei sind diese Rechte so definiert, daß sie sich auf die Freiheit des einzelnen Staatsbürgers, nicht aber auf religiöse, ethnische oder in irgendeiner anderen Weise abgegrenzte Gruppen beziehen. Dieser Rechtsschutz bewahrt den einzelnen Bürger zugleich davor, daß er seiner Grundrechte im Namen irgendeiner Gruppensolidarität beraubt werden könnte. So hat zwar jeder Bürger das Recht auf freie Religionsausübung, aber seine religiöse Gruppe kann ihm keinen Zwang antun. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist dagegen der Natur der Sache nach ein Gruppenrecht. Bereits während des Freiheitskampfes versuchte der Nationalkongreß, Minderheitsrechte durch Betonung der Grundrechte zu sichern, während Jinnah mit seiner "Zwei-Nationen-Theorie" das Selbstbestimmungsrecht der Völker hervorhob. Als er schließlich Indien verließ, um nach Pakistan überzusiedeln, ermahnte er die Vertreter der Muslim Diaspora, die in Indien verblieben, sie soll ten nun gute Staatsbürger Indiens wer den. Doch den Konflikt, den er selbst verschärft hatte, löste er damit nicht.

Nun ist dieser Konflikt aber zugleich zu einer wichtigen Stütze des modernen Hindu-Nationalismus geworden. Wer eigentlich ein Hindu ist, bleibt aufgrund der Umstände, die bereits zuvor genannt wurden, weiterhin unbestimmt, aber eins ist klar: er ist kein Muslim. Daher wirkt die Muslim-Konfrontation für die Hindus solidaritätsstiftend. Die Abstraktion Hindutva wird durch die Kontrastfigur des Muslim lebendig und erfahrbar. Die Ideologen des Hindu-Nationalismus lassen es freilich nicht damit bewenden, sondern knüpfen auch an die Ideen ihrer Vorläufer im 19. Jahrhundert an. Sie nehmen die Suche nach einer brauchbaren Vergangenheit wieder auf und scheuen sich nicht, in diesem Sinne die Geschichte umzuschreiben. Doch bleiben sie dabei nicht stehen, sondern wollen auch die Zukunft Indiens so gestalten, daß in ihr die Macht und Größe der Nation zur Geltung kommt. Dazu gehört ihrer Ansicht nach, daß Indien zur Atommacht wird. Es bleibt nur zu hoffen, daß dagegen die Meinungen Mahatma Gandhis wieder Gehör finden, der ein entschiedener Gegner der Atombombe war und Indiens Bedeutung in der Welt nicht durch Machtpolitik zur Geltung bringen wollte. Immerhin gehört Gandhis Wirken ebenfalls zur Geschichte Indiens, und wenn auch sein Erbe zunächst ausgeschlagen wurde, bleibt es doch eine Potenz, auf die zurückgegriffen werden kann.