Zeitschrift

Russland unter Putin

Ein "Flickenteppich" sich neu herausbildender Verhaltensmuster

Russland zwischen Vergangenheit und Globalisierung

Heft 2/3 /2001

Hrsg: LpB



 

Inhaltsverzeichnis

 

Wandlungsprozesse - Zukunftsperspektiven

Von Klaus Segbers 

Prof. Dr. Klaus Segbers ist Direktor des Instituts für Osteuropaforschung an der Freien Universität Berlin.

Nach wie vor ist die sowjetische Vergangenheit in Russland lebendig, mit ihren Wertmustern, Einstellungen und Verhaltensweisen. Gleichzeitig jedoch steht das Land vor den Herausforderungen, die die Einbeziehung in den Globalisierungsprozess mit sich bringt. Die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen reagieren in unterschiedlicher Weise auf beide Gegebenheiten, versuchen sich neu zu positionieren. Das alles geschieht angesichts eines schwachen Staates und sich wandelnder Institutionen weitgehend im Selbstlauf. Wohin wird dieser Wandlungsprozess führen? Die vorliegenden Umfragen geben Raum für vorsichtigen Optimismus. Red.

Skepsis gegenüber unserem "klassischen" Russlandbild ist angebracht

Die meisten Aussagen, die Einschätzungen über Entwicklungen in der Russländischen Föderation (RF) enthalten, gehen davon aus, dass dies umstandslos möglich sei; dass sich über den Großraum Russland in statements etwas Sinnvolles aussagen lässt. Und tatsächlich - Akteure in Russland teilen diese Annahme. Wie praktisch wäre es doch, wenn das ginge. Jedoch - genau das ist kaum noch möglich. Der Raum Russland entzieht sich zunehmend allgemeinen Beurteilungen. Den daraus folgenden Problemen der Konzeption, der Analyse und der Darstellung müssen wir uns stellen. Dann sind auch sinnvolle Aussagen möglich.
Neben der Heteregonität des Raumes kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu. Westliche und, vor allem, deutsche Diskurse über Russland sind stark mit Stereotypen durchsetzt. Diese durchziehen Schulbücher und Filme, Medien und auch zahlreiche wissenschaftliche Darlegungen. Für die meisten von uns ist "Russland" etwas sehr Besonderes, gar Einzigartiges. Womöglich kann man sich rational gar nicht annähern, weil das Phänomen so irrational ist - man muss es dann "erspüren". Russland ist immer gefährlich und ineffektiv - diese Dichotomie bleibt erhalten, unabhängig davon, ob vom Zarismus, von der UdSSR oder dem nachsowjetischen Russland die Rede ist.
Zugleich unterstellen viele, dass in Russland eine mehr oder minder funktionierende staatliche Verwaltung agiert, die beeinflussbar ist. Demzufolge agieren die Regierungsstellen dort zielgerichtet und verfügen über Steuerungspotentiale.
Hinzu kommt der offensichtliche Bedarf nach apokalyptischen Meldungen aus und über Russland, den eine unausgewogene Berichterstattung produziert. Ferner werden wir ständig zur "Hilfe" aufgerufen, und hier wird Deutschland oft eine besondere Rolle und Zuständigkeit zugeschrieben.
All diese Annahmen sind bei genauerer Betrachtung zweifelhaft. Sie werden im folgenden nicht gemacht. Die hiermit angezeigte Skepsis gegenüber unserem klassischen Russland-Bild soll im folgenden wenigstens teilweise belegt werden.

Unterschiedliche Akteure reagieren unterschiedlich auf sowjetisches Erbe und auf Globalisierung

In einem jüngst abgeschlossenen Projekt über "Transformation und Globalisierung"1 zeigte sich, dass "Russland" eher eine Idee als ein konsistentes Gebilde ist. Es gibt viele Akteure mit Interessen und Strategien - sie fügen sich nicht in die Vorstellung, Russland sei auch nur annähernd ein einheitlicher Akteur. Und es gibt zu viele Institutionen (Spielregeln)2 in verschiedenen Zuständen der Wirksamkeit und Verdichtung, als dass wir von einem zielstrebig arbeitsfähigen Staatsgefüge ausgehen können.
Welche wichtigen Akteursgruppen gibt es nun? Was prägt und was treibt sie? Und welche Institutionen, wenn nicht mehr nur und primär die klassischpolitischen und formalen, regulieren Interaktionen in Russland?
Es ist sinnvoll, von der Annahme auszugehen, dass die laufenden Prozesse des seit den achtziger Jahren beschleunigt verlaufenden Wandels vor allem von zwei Faktorenbündeln geprägt werden: einerseits von den Strukturen und Spielregeln aus sowjetischen Zeiten; und andererseits von Einflüssen, die dem internationalen Umfeld und dem Globalisierungskontext entstammen.
Diese beiden Faktorenbündel haben einen entscheidenden Einfluss auf Akteure und Institutionen in den postsowjetischen Räumen. Sie produzieren Anreize und Handlungsschranken, Gelegenheiten und Risiken.
Unterschiedliche Akteure (Individuen und Gruppen) reagieren verschieden auf das Erbe der Vergangenheit und auf die Impulse des gegenwärtigen transnationalen Kontexts. Folglich verlaufen die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandlungsprozesses auch so uneinheitlich und widersprüchlich.
Sowohl zur sowjetischen Vergangenheit wie zur Globalisierung gibt es umfangreiche Literatur. Für unseren Zweck geht es jedoch darum, die Einflüsse beider Faktorengruppen auf den aktuellen Wandel zu diskutieren. Sehen wir uns also legacies und den globalen Kontext an unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für nachsowjetische Entwicklungen.

Das sowjetische Erbe: Kontinuitäten und Brüche

Zu allen denkbaren Aspekten und Formen des nachsowjetischen Wandels in den neunziger Jahren gibt es eine umfangreiche Literatur. Das betrifft die Ursachen des sowjetischen Kollapses ebenso wie den Verlauf des Wandels, Konzepte ebenso wie reale Veränderungsrichtungen.3
Wenn wir die nachsowjetischen Prozesse betrachten, ist es ebenso sinnvoll, nach Kontinuitäten zu suchen wie nach Brüchen.4 Die großen Brüche sind populär und attraktiv, weil sie weithin sichtbar scheinen und weil sie leicht darstellbar - auch visualisierbar - sind. Aber die Ereignisse, die dafür oft herangezogen werden, deuten nicht unbedingt auf raschen und substantiellen Wandel hin. Vor allem im Bereich des scheinbar Unpolitischen - der sozialen Beziehungen, Interaktionsformen, kulturellen Kodierungen, dem Verhalten der ökonomischen Agenten - ist oft eine Koexistenz sowjetischer und nachsowjetischer Regeln zu konstatieren. Im Ergebnis ergibt sich das Bild eines Flickenteppichs - eines patchworks, eines komplexen Gewebes oder Netzes von Aktionen und Beziehungen, eine Textur, die sich einfachen und plakativen Annäherungen entzieht. Um diese Mischungen adäquat zu deuten, bedarf es erheblicher Anstrengungen der Politikwissenschaft - insbesondere unter Rückgriff auf Angebote der Sozial, Wirtschafts- und Kulturwissenschaften.

Die spezifischen Integrationsmechanismen sowjetischer Institutionen

Die laufenden Wandlungsprozesse sind nicht denk und deutbar ohne Basiskenntnisse über die spezifischen Integrationsmechanismen sowjetischer Institutionen (Spielregeln), die das Verhalten der Akteure prägen und einschränken. Die wichtigsten dieser Spielregeln5 sind:

  • weiche Budgetschranken: nicht konkurrenzfähige, verlustbringende Wirtschaftsakteure (vor allem Betriebe) verschwinden zumeist nicht vom Markt;

  • die durch Horten und informelle Tauschbeziehungen erzeugte notorische Defizit oder Mangelwirtschaft;

  • der administrative Markt, ein allumfassendes, nach Rollen und Status ausdifferenziertes System, das auf horizontalen und vertikalen Aushandlungs- und Tauschprozessen beruht;

  • die "Lebensform der Pendler", die das Horten, Lagern und Verbringen von selbst produzierten oder abgezweigten Gütern umschreibt;

  • das System der administrativ-territorialen Gliederung und Aufteilung des gesamten sowjetischen Raumes;

  • die Institutionalisierung und Politisierung von Ethnizität;

  • die Unterscheidung zwischen offiziellem oder offiziösem Diskursen und Kommunikation in privaten Nischen.

All diese Institutionen waren sehr wirkmächtig - viel mehr als die Bausteine der offiziellen sowjetischen Mechanismen.

Der selbst produzierte Untergang

Zweifellos wurde die finale Krise des sowjetischen Systems durch endogene Faktoren produziert. Die Last einer unorganischen, überdehnten Weltmacht, deren interne Mechanismen nicht mehr innovationsfähig waren, konnte nur zu einem Kollaps führen. Die Frage war - schon seit den frühen achtziger Jahren - nicht ob, sondern in welcher Form der Zusammenbruch des sowjetischen Modells geschehen würde und ob der Zusammenbruch einigermaßen steuerbar sein würde.6 Konsistenz und Stabilität der politischen Steuerung beruhten auf der Fähigkeit des politischen Zentrums (Politbüro etc.), Ressourcen zu generieren und zu verteilen. Jene Interessengruppen und Lobbies, die besser positioniert waren, konnten Vorzugsbehandlungen und Subventionen heraushandeln. Zugleich waren die sowjetische Führung und die Lobbies in endlose Aushandlungsprozesse um immer rarere Ressourcen verwoben. Dieses Modell war bei schwindenden Ressourcen und steigenden Anforderung nicht mehr lebensfähig. Schon gar nicht konnte es die Innovationsdynamik unterstützen, die in anderen Weltregionen durch die einsetzende Globalisierung freigesetzt wurde. In der späten Sowjetzeit, während der perestrojka, ging die strenge, formale politische Kontrolle teils verloren, teils wurde sie gelockert - zugunsten taktischer Überlegungen und Koalitionsbildungen. Mehr noch - Absetzbewegungen von wirtschaftlichen Akteuren (Kooperative, Betriebe), politischwirtschaftlichen Gruppen (Komsomol) und Unionsrepubliken (im Baltikum und im Transkaukasus) wurden teils legalisiert, teils ignoriert und eher unentschieden bekämpft. Zugunsten kurzfristiger politischer Kalküle wurden ohnehin schwankende, aber tragende Elemente der Konstruktion des sowjetischen politischen Gefüges demontiert - mit den bekannten Wirkungen.
Der Verlust an Ressourcen und an Steuerungsinstrumenten führte zu der zunehmenden Absetzbewegung von administrativen, regionalen und sektoralen Eliten. Sie spürten die Schwäche des Zentrums und nutzten sie. Typische Effekte von instabil werdenden principalagent-Beziehungen setzten ein: defection und bank run. Die alten Integrationsmechanismen griffen nicht mehr. Und heute sind sie natürlich erst recht nicht mehr herstellbar. Aber: Die Regelsysteme, einige formalen und vor allem informelle Institutionen, Spielregeln - sie wirken noch immer. Und die Akteure sind teilweise noch in die Strategien und Netzwerke der Sowjetzeit eingeübt.

Der Globalisierungs-Kontext

Der Globalisierungs-Kontext stellt die zweite wesentliche Faktorengruppe zur Erklärung des (nach)sowjetischen Wandels dar. Die Literatur zu Globalisierung wächst immer weiter an. Dies ist nicht der Ort, sie zu sichten oder zu kommentieren.7 Globalisierung ist ein Konzept mit vielen Konnotationen und Bedeutungen. Für unseren Zweck, das Nachdenken über seine Auswirkungen auf die frühere Sowjetunion, fassen wir Globalisierung als globale Beweglichkeit und Interaktion von Kapitel und Kommunikationsflüssen, ermöglicht durch neue Technologien der Datenübermittlung. Diese Daten-, Deutungs-, Waren- und Güterströme verbinden Länder, Gesellschaften, Wirtschaftsakteure und Individuen.
Die Bereitschaft dieser Gruppen und ihrer Teile, mit den Strömen umzugehen, und die Fähigkeit, sie zu absorbieren, sind sehr verschieden ausgeprägt. Allerdings wird es immer schwieriger, sich von diesen Bewegungen fernzuhalten und nicht erfassen zu lassen. Exit-Optionen, autozentrierte Entwicklungen sind kaum noch vorstellbar - und noch weniger realisierbar.
Die folgenden sind relevante, auch für die frühere Sowjetunion abprüfbare Indikatoren für Globalisierung:

  • zunehmend unkontrollierte, und anscheinend auch schwierig kontrollierbare Kapitalströme;

  • neue Möglichkeiten des Transports und der Übermittlung von Gütern, Dienstleistungen, Menschen, Informationen und Inhalten jeder Art;

  • Digitalisierung von Informationen und Kommunikation, teilweise auch von Steuerungsprozessen;

  • unterschiedliche Reaktionsformen auf den permanenten Zustrom von parallelen Stimuli, die sich auf Arbeit, Freizeit und Information beziehen;

  • die Bildung von "neuen Zentren" und Regelsysteme wie - megacities und city regions, Hauptquartiere von transnationalen Unternehmen (TNCs), Internet Anbietern, transnationale Institutionen;

  • die sich wandelnde Bedeutung von Raum 9 und Zeit.

Globalisierung ist also der zweite wesentliche Faktor, der auf die Prozesse in den nachsowjetischen Räumen einwirkt.

Neue Akteursgruppen wirken am Regierungshandeln vorbei

Die relative Regulierungsfähigkeit der Nationalstaaten geht zurück. Die politikwissenschaftlichen Instrumente, Konzepte und Ansätze müssen das nachvollziehen. Traditionelle Konzepte wie Souveränität, Territorialität, Grenzen, Innen/Aussen, verlieren angesichts der heutigen Phänomene an Erklärungskraft.10
Während Staaten gewiss noch eine wesentliche Rolle spielen, auch bei der Gestaltung von Rahmenbedingungen und der Regulierung von Strömen, zeigen sich zunehmend andere Akteursgruppen, die "mitspielen". Diese neuen Akteursgruppen sind auch - und mitunter in besonderem Maße - in der früheren Sowjetunion aktiv. Die Schwäche des alten Zentrums hat dies ermöglicht.
Solche Akteure - Individuen, soziale Schichten, Generationskohorten, regionale und sektorale Interessengruppen - haben prinzipiell Optionen hinsichtlich ihrer Haltung zum Globalisierungskontext: sie können die neuen Optionen annehmen und zu nutzen suchen; sie können auch versuchen, sich zu widersetzen oder zu entziehen; oder sie können Ignoranz simulieren. Jedenfalls gibt es sehr verschiedene Ausstattungen, Potentiale, Haltungen und Strategien, um auf Globalisierung zu reagieren. Und es gibt "Gewinner" und "Verlierer". Entsprechend ähnliche Optionen des Umgangs gibt es auch hinsichtlich des sowjetischen Erbes. Um diese Haltungen und Strategien zu begreifen, werden neue Instrumente der politischen und sozialen Kartographie benötigt. Die alten Formen des mapping von Staaten als Kerneinheiten müssen modifiziert und ergänzt werden - durch neue Formen der Repräsentation politischer Einheiten und Akteure.
Zwar gibt es schon seit Jahren Steuerungsmodelle, die akzeptieren und abzubilden suchen, dass neue Akteure und Institutionen an traditionellem Regierungshandeln vorbei wirken, es erodieren und ihm entgegenwirken. Das hat viel zu tun mit der europäischen Integration und den Regelungsformen, die damit verbunden waren - bis hin zu Aushandlungssystemen und Mehrebenenspielen11
Dennoch - mit dem sich globalisierenden Umfeld sind weitere Modifikationen unseres politikwissenschaflichen Werkzeugkastens erforderlich. Die Vielfalt wirkungsvoller Akteure und die Verschiedenartigkeit von Interaktionen, zwischen formalen und informellen, erfordert diese Anpassungen.
Für unseren Zweck der Deutung nachsowjetischer Politik schlage ich dafür ein Flickenteppich oder patchwork-Modell vor (siehe Schaubild).
Dieses Modell ist anschaulich, und es ist realistisch. Leider erfüllt es nicht eine andere Erwartung an Theorien: sparsam und einfach zu sein. Dennoch - es ist ein adäquates Instrument, um von den notorischen Annahmen über Konsistenz und einheitliche Akteure wegzukommen. Die reale Lage ist viel komplexer.

"Russland" zwischen Vergangenheit und globalisierter Gegenwart

Wie oben beschrieben, lautet die Leitfrage dieses Essays, wie nachsowjetische Akteure und Institutionen sich zwischen den beiden Faktengruppen Vergangenheit und globalisierter Gegenwart positionieren, d.h. wie diese beiden Einflüsse Akteursstrategien und Spielregeln prägen.12 Gewiss spielt beides eine Rolle. Es gibt sichtbare Spuren sowjetischer Institutionen. Aber die frühere Sowjetunion ist auch zunehmend dem Globalisierungskontext ausgesetzt.
Die Einwerbung von Kapital, von Investitionen, der Zustrom von Dienstleistungen und Informationen ist erforderlich, um die weitere Entwicklung der Russländischen Föderation, auch ihre angemessene Eingliederung in die Weltwirtschaft sicherzustellen. Ebenso muss Russland Mitglied internationaler Organisationen und Institutionen werden, soweit das noch aussteht: vor allem in der Welthandelsorganisation (WTO).
Die Auswirkungen des globalen Kontexts auf gesellschaftliche Gruppen sind erheblich: Lebensstile, Konsummuster, Kommunikations- und Unterhaltungsformen, all das ist nicht mehr "draußen". Diese Einflüsse können nicht wirksam abgehalten und an der RF vorbeigeleitet werden. Die meisten Menschen sind sich ihrer globalen Umgebung bewusst. Bei vielen verändert das die Bezugspunkte für Vergleiche und für die Entwicklung von (Un)Zufriedenheit. Lebensstrategien werden oft auf Erfahrungen und Wahrnehmungen bezogen, die nicht nur mit Russland zu tun haben.
Es ist also offensichtlich, dass der globale Kontext die RF auf verschiedene Weise beeinflusst. Das bedeutet jedoch nicht ohne weiteres, dass nur Homogenisierungseffekte stattfinden. Die betroffenen Akteure und Gruppen regionale und sektorale, Generationen und Ethnien - perzipieren und konvertieren diese Umfeldeinflüsse auf je spezifische Weise, entsprechend ihren Erfahrungen, Interessen und den verfügbaren Ressourcen. Globale Einflüsse werden, wie auch in anderen Ländern, angenommen und dabei verarbeitet und teilweise umgeformt. Externe Muster und Ströme werden so anverwandelt; und dies ist es, was vergleichende Studien sinnvoll macht.

Die Einstellungen wichtiger Arbeitsgruppen

Zu drei Fragenkomplexen liegen derweil genauere Aufschlüsse vor:

  • Welche Einstellungen haben relevante russländische Akteure zur Globalisierung?

  • Welche Interessen haben sie an öffentlichen Gütern?

  • Welche Zeithorizonte haben wichtige Akteursgruppen?

Dabei gehen wir von der Beobachtung aus, dass nachsowjetische Räume, in denen diese Akteure agieren, von schwachen formalen Institutionen gekennzeichnet sind. Das bedingt spezifische Präferenzen und Formen der Nutzenmehrung:

  • das Streben nach Zugang zu und der Kontrolle und Mobilisierung von Ressourcen aller Art;

  • das Ausnützen von Positionen auf dem administrativen Markt der UdSSR von Staatsnestern, alten Netzwerken und von Preisdifferentialen;

  • rent seeking als Aneignungsstrategie, so lange es möglich und profitabler ist als Wettbewerb;

  • Legalisierung von auf welche Weise auch immer akkumulierten Ressourcen.

Die meisten dieser Akteure waren in (alte) Netzwerke eingebettet. In den 90er Jahren wurden diese ressourcenbezogenen Strategien in einer Umgebung verfolgt, in der es keinen Schiedsrichter in Form eines durchsetzungsfähigen Staates gab. Der russische Staat war schwach, und er beteiligte sich über bürokratische Gruppen an den skizzierten Aneignungs- und Aushandlungs Strategien. Erst gegen Ende der neunziger Jahren waren Tendenzen zu verzeichnen, die erwarten ließen, dass sich ein neues Äquilibrium herausbildet, das von wachsendem Interesse zahlreicher Akteure an Konsolidierung und Stabilisierung charakterisiert war.13
Schauen wir uns nun einige Ergebnisse der Umfragen und Studien 14 an, die uns noch sowjetische patchworks erklären sollen.
Ein wesentlicher Fragenkomplex galt, wie erwähnt, den Einstellungen relevanter Akteursgruppen zur Globalisierung, genauer: zu den Möglichkeiten und Begrenzungen, die sie bietet. Hier interessiert vor allem, ob die Gruppen eine aktive, akkomodierende Einstellung haben, oder ob sie sich zurückhaltend oder resistent verhalten und protektionistische Optionen verfolgen.
Es zeigt sich, dass - nach den inter und transnationalen Akteuren mit Interessen in Russland - vor allem die Energieexporteure (Öl und Gasgesellschaften) sowie die konkurrenzfähigen Anbieter von Waffen und Metallen, ferner die leistungsfähigen Regionaladministrationen eine eher offene, positive Grundeinstellung zum globalen Umfeld haben. Die Umfragen für die Bezugsjahre 1999 und 2004 (Prognose) zeigen ansonsten leichte Differenzen, vor allem hinsichtlich der Erwartung an die Offenheit der wirtschaftsbezogenen Blöcke der Regierung.

Globalisierungsnutzer und Globalisierungszauderer

Wer sind nun die herausragenden Globalisierungzauderer? Hier wurden vor allem die Oligarchen und die kommerziellen Banken genannt, zudem auch die Automobilhersteller, der Landwirtschaftssektor.
Diese Gruppen werden für westliche Kontaktstrategien wenig in Betracht kommen.

Die Einstellungen zu öffentlichen und privaten Gütern

Die zweite Fragengruppe betrifft die Einstellungen relevanter Akteursgruppen zu öffentlichen und privaten Gütern. Dies ist wichtig, da in diesen Bereichen in den neunziger Jahren eine starke Verschiebung weg von der Bereitstellung öffentlicher Güter stattgefunden hat. Dies ging einher mit der generell endemischen Regellosigkeit, zumindest im Bereich formaler Institutionen. Harte Budgetschranken gab es auch in der UdSSR nicht - und weiche Schranken waren in den neunziger Jahren ebenfalls vorherrschend.
Eigentumsrechte waren in der Sowjetunion zumindest informell geregelt; mit der perestrojka und den dann einsetzenden wilden Zugriffsversuchen und den verschiedenen Privatisierungs- und Aneignungsstrategien wurden Eigentumsrechte zu einem der zentralen Konfliktfelder. Sicherheit wurde in sowjetischen Zeiten teils vom Staat, teils von anderen, aber weitgehend bekannten Instanzen zu bestimmten Konditionen angeboten. Nach 1987 war Sicherheit ein Objekt der Aushandlung zwischen den je beteiligten Gruppen und musste von den Interessenten im wesentlichen als "Versicherungssystem" finanziert werden. Kurzum: Auf Staatsfunktionen war kein Verlass mehr.


Sozialismus schützt vor Umweltzerstörung nicht
Ganz im Gegenteil, zumal wenn die Industrialisierung so forciert wurde wie in der ehemaligen Sowjetunion. Das Bild zeigt eine Kupferfabrik in Karabash, sie besitzt keinerlei Kläranlagen oder Abwasserfilter. Die Kosten hat die Bevölkerung zu tragen: Sterbealter im Durchschnitt 45 Jahre!   Foto: dpa Fotoreport 

Vor dem Hintergrund der Frage, ob relevante Akteursgruppen zunehmend wieder Interesse an stabilen Regelungssystemen entwickeln - ob also, mit Mancur Olson, herumziehende Banditen allmählich in fest stationierte Banditen konvertiert werden15 - ist die Frage nach dem Interesse an öffentlichen bzw. privaten Gütern von erheblichem Interesse.
Bei der Auswertung der Expertenumfragen zeigte sich, dass in der ersten Hälfte der neunziger Jahre die Bereitschaft, harte Budgetschranken zu akzeptieren - und damit auch das Verschwinden ineffektiver Betriebe vom Markt - sehr gering war. Für 1999 und - prospektiv - 2004 stieg jedoch die Neigung, diese Marktregel hinzunehmen.
Eine ähnliche Entwicklung ist bei der Akzeptanz von klar fixierten Eigentumsrechten zu registrieren. Das durchschnittliche Interesse der relevanten Akteursgruppen (aggregierte Daten) an klar definierten und durchsetzbaren Eigentumsrechten steigt in den neunziger Jahren deutlich an - von 1999 auf 2004 um 0.7 Punkte (bei Budgetschranken - um 0.3 Punkte).

Die Zeithorizonte ändern sich

Schließlich bleibt die äußerst wichtige Frage nach den Zeithorizonten. Die Zeitkalküle und -erwartungen von Akteuren sagen einiges über die Chancen, stabile Institutionen zu entwickeln. Zeithorizonte reflektieren und definieren Akteursstrategien. Üblicherweise wird eine positive Korrelation zwischen kurzen Zeithorizonten und roving bandit - Verhalten angenommen. Das heißt auch: Je länger die Zeithorizonte, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese Akteure kooperationsbereit und fähig sind, und dass sie Stabilitätsperspektiven innerhalb eines gegebene Kontexts entwickeln.16
Die im Rahmen des erwähnten Projekts durchgeführten Umfragen legen deutlich nahe, dass Zeithorizonte in Russland länger wurden und werden. Die Resultate der beiden in 1999 und 2000 organisierten Umfragen sind darin überraschend ähnlich. Kurze, auch extrem kurze Zeithorizonte waren charakteristisch für die frühen neunziger Jahre. Sie spiegelten die hohe Unsicherheit, die mit politischen und sozialen Konflikten der Jahre 1991 und 1993 verbunden waren. Erst 1999 war eine Verringerung sehr kurzer Horizonte erkennbar - und dies dürfte sich fortsetzen. Entsprechend wächst die mittelfristige Zeitperspektive (zwischen einem und vier Jahren) an. Dieser Zeithorizont entspricht den üblichen Wahlzyklen in vielen Ländern und bestimmt deshalb den Handlungsrahmen der meisten Politiker, die von diesen Wahlzyklen abhängen.
Lange Zeitkalküle über vier Jahre hinaus - bei Politikern eher selten anzutreffen - werden bei den russischen Akteursgruppen ebenfalls deutlich sichtbarer. Bis 2004 sollen sie, so die Schätzungen, die Kurzfristkalküle überholen. Diese Tendenz zeigt an, dass die Voraussetzungen für einen verlässlicheren institutionellen Rahmen besser werden.

Vorsichtiger Optmismus ist angebracht

Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse der Expertenbefragungen zwei Tendenzen. Zum einen: die Einstellungen relevanter Gruppierungen gegenüber ihrem Potential, Spielregeln zu beeinflussen, gegenüber Globalisierung und gegenüber öffentlichen Gütern unterscheiden sich - teilweise erheblich. Das gilt auch für staatliche Akteursgruppen, womit die Ausgangs-Skepsis gegenüber Konsistenzannahmen über "russische Politik" bekräftigt wurde. Der Befund reflektiert die unterschiedlichen Anpassungspotentiale und Ressourcenausstattungen der Gruppen.
Zum zweiten gibt es einige wichtige, vielen Gruppen gemeinsame Trends. Generell ist der Einfluss sowjetische Institutionen rückläufig, teilweise erheblich. Die befragten Experten erwarten, dass sich diese Tendenz weiter fortsetzt und verstärkt.
Der Befund, dass weiche Budgetschranken vorherrschen und Eigentumsrechte ungewiss seien, schwächt sich ab. Dies korreliert mit der zunehmenden Offenheit des Landes gegenüber dem globalen Kontext. Und es entspricht vor allem dem Längerwerden der Zeithorizonte. Das sind gute Nachrichten für alle, die an einem stabileren Raum Russland interessiert sind. Und es zeigt eine wachsende Fähigkeit zur Kooperation nach außen.
Insofern ist es misslich, dass das Interesse an den Entwicklungen in Russland und der Kooperationswille in westlichen Ländern eher abnehmen. Die seit 1999 vor allem, aber nicht nur in den USA mit einiger Leidenschaft geführte Debatte über eine angeblich völlig verfehlte westliche Russlandpolitik zeigt das an.17 Die am sogenannten "Washington Konsens" ausgerichtete westliche Politik wurde für völlig fehlerhaft und illusionär erklärt. Seilschaften zwischen Harvard und Moskau wurden ausgemacht. Diese Vorhalte reflektieren jedoch eher illusionäre Annahmen über die "Machbarkeit" von Reformen als eine wirklich irregegangene Politik, für die große Alternativen kaum gegeben waren. Angesichts der Ausgangslage und der doppelten Aufgabe, Wandel vor dem Hintergrund der Vergangenheit und der gegenwärtigen Globalisierung zu erleben, sollten sich eifrige Kritiker in Bescheidenheit üben.

Eine wachsende Gruppe von russischen "Globalisierern"

Ein weiterer Befund besteht darin, dass es eine wachsende Gruppe von russischen "Globalisierern" gibt. Nach Leslie Sklair sind es vor allem vier Gruppen, die als Akteure Globalisierung voranbringen:
Manager Transnationaler Konzerne als korporatistische Fraktion; global orientierte Bürokraten und Politiker als staatliche Fraktion; global orientierte Berufsgruppen als technische Fraktion; Kaufleute und Massenmedien als Verbraucher Fraktion.18
Alle diese Gruppen sind in Russland auf dem Vormarsch. Dies lässt sich nicht genau quantifizieren. Aber es lässt sich feststellen, dass a) all diese Gruppen in Russland existieren, und b) wachsen. Es versteht sich, dass es andere Gruppen gibt, die keine "Globalisierer" sind und es auf absehbare Zeit auch nicht werden. Beide Lager existieren und koexistieren in Russland.
Was immer Vorbehalte und Einwände im Detail sein mögen - russische Akteure sind zunehmend - positiv wie negativ - in weltweite Trends integriert - oder von ihnen ausgeschlossen. Und die Spielregeln zwischen diesen Gruppen werden noch deutlich, aber immer weniger von der sowjetischen Vergangenheit geprägt.
Ein dritter Befund entspricht diesem Ergebnis: Es ist charakteristisch für nachsowjetischen Wandel, dass signifikante Veränderungen stattfinden, die nur zum Teil organisiert und "von oben" gesteuert sind. Dies zeigt, dass der dort laufende Wandel, der ja keineswegs nur Nebenaspekte betrifft, vereinbar ist mit schwachen Institutionen sowie mit schwachen oder gar scheiternden Staaten.

Wandel trotz schwachen Institutionen

Aus den oben beschrieben Gründen - schwierige und komplexe Entwicklungen bei Staatsetablierungen und nation building, allgemeine Schwäche vor allem formaler Institutionen, anhaltende Schatten der Vergangenheit und mitunter gegensätzliche Signale und Anreize aus der externen Umgebung - können die politisch scheinbar führenden Eliten den Wandel nicht wirklich und wirksam steuern und kontrollieren. Es gibt keinen Wandel by design.19 Und an diesem Punkt ist die in jüngerer Zeit in der Politikwissenschaft entfachte Debatte über Steuerungsverfahren (governance) fruchtbar auch für nachsowjetische Räume.

Literaturhinweise

Grande, Edgar/Risse, Thomas (2000), "Bridging the Gap. Konzeptionelle Anforderungen an die politikwissenschaftliche Analyse von Globalisierungsprozessen", in Zeitschrift für Interantionale Beziehungen, vol. 7, No. 2, 235-266.

Mau, Vladimir (2000), "Russian Economic Reforms as Seen by Western Critics", in Stanford Journal of International Relations, vol. 1, No. 3, 4-21.

Olson, Mancur (2000): Power and Prosperity. New York: Basic Books.

Segbers, Klaus (2001): Explaining postSvie Patchworks. Aldershot: Ahgate, 2001 (3 volumes).

Sklair, Leslie (2001), "The Transnational Capitalist Class, Blackwell, Oxford.

Solnick, Stephen (1999): Russia's "Transition": Is Democracy Delayed Democracy Denied?, in: Social Research, 66.3, also at http://www.columbia.edu/~sls27/Content/ CV/SLSSREbsco.htm.

Stark, David and Bruszt, Lászlo (1998), Postsocialist Pathways, Cambridge University Press, New York.

Stiglitz, Joseph E. (1999), Whither Reform? Ten Years of Transition, paper prepared for the Annual World Bank Conference on Development Economics, Washington D.C., 28-30 April, 1999, http://www.worldbank.org/ research/abcde/pdfs/stiglitz.pdf.

Wedel, Janine R. (1998), Collision an Collusion. The Strange Case of Western Aid to Eastern Europe 1989- 1998, St. Martin's Press, New York.

Anmerkungen

1 Klaus Segbers: Explaining PostSoviet Patchworks. 3 Bände., Aldershot: Ashgate, 2001

2 S. zum Begriff der Institutionen mit zahlreichen Verweisen Holger Schulze, NeoInstitutionalismus: ein analytisches Instrumentarium zur Erklärung gesellschaftli cher Transformationsprozesse. Arbeitspapiere des OEI der FUB, Arbeitsbereich Politik und Gesell schaft, verfügbar unter http://userpage.fuberlin.de/ segbers/wp/wp.htm

3 Für einen Überblick s die Literaturangaben im Arbeitspapier Nr. 1 des OsteuropaInstituts der FUB (Arbeitsschwerpunkt Politik und Gesellschaft); die elektronische Version findet sich unter http://userpage. fu berlin.de/~segbers/index4.html: s. auch die Diskussionen und Materialien in Johnson's Russia List http:// www.cdi.org/russia/johnson, die Analysen des PONARS Projekts unter http://www.fas.harvard.edu/@ponars; sowie die Zeitschriften EuropeAsia Studies, PostSoviet Affairs, PostCommunist Studies, Russian Review, Slavic Review.

4 Es versteht sich, daß es hier nicht um mythische Konstrukte geht.

5 Zur Bedeutung dieser Konzepte s. Segbers 2001, Band 2, Kapitel 1

6 Segbers 1989, Kapitel 4.

7 Für einen Überblick s. die Literatur auf meiner Homepage unter http://userpage.fuberlin.de/segbers/, dort bei "courses/ws 2000/01/ world politics".

8 Für weitere Details s. meine Einleitung zu Band 2 in Segbers 2001.

9 S. Band 3 desselben Buches.

10 S. dazu http://userpage.fbe lin.de/segbers/, dort bei "courses/ss 2000/millennium".

11 S. Grande, Risse 2000, 245, 253-254.

12 Für Details des Projektdesigns s. meine Einleitung (Kapitel 1) zu Band 2 von Segbers 2001.

13 Vgl. Solnick 1999

14 Im Rahmen des Projektes wurden Akteurs und Institutionenanalysen in Auftrag gegeben. Ausserdem wurde eine Expertenumfrage in zwei Umläufen durchgeführt. Für Details der Umfrage s. Kapitel 1 in Band 1 von Segbers 2001. Die Antworten der Experten rangieren auf einer Skala von 0 (wenig ausgeprägt) bis 5 (stark ausgeprägt).

15 S. Olson 2000

16 S. z. B. Olson 2000, Kap. 2.

17 Vgl. Wedel 1998; Stiglitz 2000; und am überzeugendsten Mau 2000.

18 Sklair 2001, 17, 22, passim: TNC executives as the corporate fraction; globalizing bureaucrats and politicians (the state fraction); globalizing professionals (the technical fraction); and merchants and the media (the consumerist fraction).

19 S. Stark, Bruszt 1998, 80-83 

 

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Die größten Handelspartner der Industrieländer sind die Industrieländer selber. Insgesamt exportierten sie im Jahr 1999 Waren im Wert von 3,7 Billionen (3697 Milliarden) Dollar; fast drei Viertel dieser Exporte (2730 Milliarden Dollar) wickelten sie untereinander ab. Der Exportstrom von den Industrieländern in die Entwicklungsländer hatte einen Wert von 841 Milliarden Dollar. Dem standen Käufe - also Exporte der Entwicklungsländer in die Industrieländer - von 55 Milliarden Dollar gegenüber. Der West-Ost-Handel ist im Vergleich dazu noch recht schwach ausgeprägt. Die Lieferungen der westlichen Industrieländer in die östlichen Reformländer erreichen lediglich eine Höhe von 126 Milliarden Dollar. Umgekehrt flossen von Ost nach West Waren im Wert von 122 Dollar.  Globus.

 

 


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