Zeitschrift

Russland unter Putin

Ein Bruch mit russischen Traditionen

Die Zukunft der kommunalen Selstverwaltung



 

Inhaltsverzeichnis

 

Zum Verhältnis von Zentralstaat, regionaen Einheiten und Gemeinden

Von Sergeij Mitrochin

Dr. Sergej Mitrochin ist Direktor des Instituts für regionale und kommunale Forschungen. Er ist Mitglied der Duma und stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Regionalpolitik und kommunale Selbstverwaltung.
 

Zügig wurde nach dem Zerfall der Sowjetunion der Aufbau einer kommunalen Selbstverwaltung vorangetrieben. Die Rahmenbedingungen wurden vom Zentralstaat (gemäß russischer Terminologie: vom Föderalstaat) gesetzt, der - im Gegensatz zu Deutschland - auch für die kommunale Selbstverwaltung zuständig blieb. Die Kontrollmöglichkeiten der Gemeinden durch die regionalen Einheiten (Länder, Regionen usf.) sind demgegenüber schwach ausgebildet - was nicht unproblematisch ist: Allzu leicht schleichen sich Misswirtschaft und Korruption ein. Unbefriedigend geblieben ist die Ausgestaltung der Finanzverfassung Russlands. So verfügen die Gemeinden nicht über ausreichende Finanzquellen. Diese sind gegenwärtig sogar noch zusätzlich durch die Zentralregierung gefährdet, die durch Kürzungen unten ihre eigenen Finanzprobleme im Gefolge der allgemeinen wirtschaftlichen Lage zu lösen versucht. Dadurch gerät die kommunale Selbstverwaltung in Russland als Ganze in Gefahr.      Red.

Zwei Etappen

Die Institution der kommunalen Selbstverwaltung besteht im heutigen Russland schon seit über 12 Jahren und blickt auf eine recht komplizierte und widersprüchliche Geschichte zurück. Die Herausbildung dieser Institution lässt sich in zwei Hauptetappen einteilen: Der Zeitraum 1987-1993 ist durch die Versuche der Zentralgewalt (zunächst der sowjetischen und später der russischen) gekennzeichnet, die unterste Ebene des Sowjetsystems zu dezentralisieren. Die sowjetische Entwicklungsetappe der kommunalen Selbstverwaltung fand im Oktober 1993 ihr Ende, als das System der Sowjets (Räte) durch den Präsidenten Russlands abgeschafft wurde.
Die zweite Etappe, die mit der Verabschiedung der Verfassung im Dezember 1993 begann beinhaltete einen radikalen Bruch mit der Sowjettradition und die Erarbeitung eines absolut neuen Konzepts der kommunalen Selbstverwaltung.

Mit der Perestroika begann die Dezentralisierung

Die ersten Maßnahmen zur Dezentralisierung des politischen Sowjetsystems fielen in die Zeit der so genannten Perestroika. Den politischen Kontext dieser Periode bildete der Prozess der Demokratisierung des gesamten Sowjetsystems von oben bis unten und seine Befreiung von der Kontrolle der KPdSU.
Einen wesentlichen Impuls zur Dezentralisierung auf kommunaler Ebene gab das Gesetz der UdSSR Über die allgemeinen Grundsätze der kommunalen Selbstverwaltung und der Kommunalwirtschaft in der UdSSR vom 9. April 1990.1
Die Verabschiedung und nachfolgende Durchführung dieses Gesetzes stellten das erste reale Projekt einer Kommunalisierung der unteren Verwaltungsebene, die mit der untersten Ebene des Sowjetsystems übereinstimmte, nach 1917 dar. Es war auch das erste umfassende und systematische Projekt einer Dezentralisierung der Verwaltung in der Sowjetunion im allgemeinen und in Russland im besonderen. Das erste russländische Gesetz über die kommunale Selbstverwaltung wurde im Juli 1991 angenommen; im Oktober 1992 wurden Abänderungen und Ergänzungen dazu verabschiedet. In seinen Grundzügen teilte dieses Gesetz die Ideologie seines Vorläufers, des sowjetischen Kommunalgesetzes.
Obgleich die kommunale Selbstverwaltung in einigen Artikeln des Gesetzes als Institution definiert wurde, die von der staatlichen Macht und Verwaltung getrennt sei, konnte man nicht behaupten, dass die örtlichen Räte durch seine Annahme aus dem System der Staatsbehörden herausgelöst worden seien beziehungsweise darin eine ganz besondere Stellung bekommen hätten. Das Gesetz führte keine konsequente Teilung der Gewalten von oben nach unten durch. Obwohl von einer strengen hierarchischen Unterordnung der Räte schon keine Rede mehr sein konnte, ließ sich zum Beispiel lediglich eine weichere Hierarchievariante darin sehen, dass die übergeordneten Räte und Verwaltungen das Recht behielten, die der Gesetzgebung widersprechenden Beschlüsse untergeordneter Organe ohne Einschaltung eines Gerichts aufzuheben (wenn diese auch das Recht hatten, diese Aufhebung später anzufechten).

Unter Jelzin gab es eine "Kommunale Revolution"

Als Folge des von Boris Jelzin im Oktober 1993 vollbrachten Staatsstreichs wurde die bisherige Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung unterbrochen. Der Bruch mit der vorhergehenden Tradition war derart tief und radikal, dass man allen Grund hat, die Ereignisse 1993 bis 1997 als "kommunale Revolution" einzustufen.
Der Hauptunterschied zwischen dem "revolutionären" (postsowjetischen) und dem "reformistischen" (sowjetischen) Projekt besteht darin, dass das zweite eine allmähliche Transformation schon vorhandener politischrechtlicher Beziehungen vorsah, während die Urheber des ersten gleichsam "auf grüner Wiese" eine neue politische und rechtliche Realität aufbauen wollten. Deshalb wirkt das postsowjetische Projekt theoretischer und abstrakter als sein Vorgänger, man hat den Eindruck, dass es eher auf ideologischen und wertmäßigen Ansätzen beruht, als dass es unmittelbar mit dem realen Leben verbunden ist.
Ideologen der "kommunalen Revolution" waren Fachleute und Politiker, die ungefähr gleiche Ansichten ("revolutionäre Ideologie") hatten und eine Lobby in verschiedenen Strukturen des Bundes bildeten. Die praktische Umsetzung übernahmen kommunale Politiker, hauptsächlich Bürgermeister großer Städte.

Kern war die Herauslösung aus der Staatsverwaltung

Die erste und bedeutendste Leistung der "Revolutionäre" waren die der kommunalen Selbstverwaltung gewidmeten Artikel der Verfassung. Der Eckstein des postsowjetischen Kommunalisierungsprojekts war Artikel 12, der die kommunale Selbstverwaltung aus dem System der staatlichen Verwaltungsorgane herauslöste. Es wäre keine Übertreibung zu sagen, dass die gesamte nachfolgende föderale Kommunalisierungspolitik sich an der Umsetzung dieses Grundsatzes orientierte.
Diese Bestimmung der russischen Verfassung hat in der Gesetzgebung der meisten Länder mit entwickelter kommunaler Selbstverwaltung keine Parallelen. In Deutschland zum Beispiel gilt die kommunale Selbstverwaltung als Bestandteil der staatlichen Exekutivgewalt, obgleich sie anders organisiert ist als die staatlichen Strukturen. In den USA werden die Kommunen nicht exakt aus dem Gesamtsystem der Staatsmacht der Bundesstaaten herausgehoben. Dies bedeutet gewiss nicht, dass der Unterschied zwischen der kommunalen und der staatlichen Verwaltung nicht gesehen wird. Er hat jedoch einen ausgesprochen analytischen Charakter und zieht keine konkreten juristischen Folgen nach sich.  

Widerstände von Seiten der regionalen Behörden

Die Verfassung 1993 brachte einen grundsätzlich neuen Typus der Anordnung der verschiedenen Verwaltungsebenen mit sich. Der Typus der administrativen Unterordnung (die kommunalen Organe sind den regionalen und diese den föderalen Behörden untergeordnet) wurde durch das rechtlich-regulative Prinzip der Beziehungen zwischen ihnen abgelöst. Im Verhältnis zwischen den Regionen und Kommunen wurde die direkte administrative Kontrolle durch die politische und rechtliche Kontrolle ersetzt. An Stelle der Subordination, die auf dem Modell Weisung - Erfüllung beruht hatte, traten die Beziehungen der rechtlichen Abhängigkeit, bei denen der Einfluss der regionalen Administration auf die Selbstverwaltungseinheiten ausschließlich durch den Rahmen des Gesetzes begrenzt war. Die regionalen Behörden, die sich sehr schnell von den Elementen der Unterordnungsmentalität gegenüber den Zentralbehörden befreit hatten, waren oft nicht in der Lage, auf das administrative Denken gegenüber den untergeordneten Verwaltungseinheiten zu verzichten. Gerade damit ist zum Teil der starke Widerstand zu erklären, der in einigen Regionen gegenüber der Idee der kommunalen Selbstverwaltung geleistet wurde und der auf die Unfähigkeit der regionalen Eliten zurückzuführen war, die neuen Instrumente der Regionalverwaltung einzusetzen, und zwar die gesetzgebende Inititative in ihren Händen zu konzentrieren und auf dem Rechtswege die strikte Erfüllung der für sie vorteilhaften Gesetze durchzusetzen. Die "revolutionäre" Umstrukturierung des gewohnten Systems der Machtbeziehungen provozierte in einigen Regionen eine Art "Konterrevolution", die im Versuch der Gouverneure, die Amtspersonen der Selbstverwaltungen ihrer Befugnisse zu berauben, zum Ausdruck kam.
In der Verfassung Russlands dagegen wurde diese Abgrenzung von vornherein als strenges juristisches Postulat formuliert, das in krassem Gegensatz zu den Traditionen der russischen Verwaltungskultur stand. Durch ihren Versuch also, Garantien gegen eine willkürliche Einmischung in die kommunalen Angelegenheiten zu geben, haben die Autoren der Verfassungsartikel, die die kommunale Selbstverwaltung betreffen, eine Grundlage für einen systematischen Konflikt zwischen der kommunalen und der regionalen Verwaltungsebene geschaffen.

Die Föderalisierung Russlands insgesamt ist keine Erfolgsstory

Artikel 12 der Verfassung bestimmte eine der Hauptrichtungen in der Kommunalpolitik des föderalen Gesetzgebers: Garantien für die kommunale Selbstverwaltung. Der konkrete Inhalt dieser Garantien kommt hauptsächlich darin zum Ausdruck, dass die willkürliche Einmischung in die kommunalen Angelegenheiten seitens der russischen Bundesländer unterbunden wird. Diese Bemühungen sind besonders aktuell, weil die Föderalisierung Russlands, das Föderationsprojekt, das in einigen anderen Artikeln der Verfassung konzipiert worden ist, ein Fiasko erlitten hat. Der Konfliktgeist von Artikel 12 wäre zu verurteilen, wäre die regionale Staatsebene nach allen Regeln des Aufbaus einer Föderation gebildet worden. In der Situation aber, wo diese Regeln nicht erfüllt worden sind, während die Kontrolllosigkeit der regionalen Behörden immer größere Gefahren für die ganze Gesellschaft heraufbeschwört, tragen die harten Normen des Artikels 12 dazu bei, dass die Institution der kommunalen Selbstverwaltung gegen die zerstörerischen Angriffe der regionalen Eliten - wenigstens teilweise - geschützt wird. Diese Normen lassen diese Institution außerdem auch als Bestandteil eines Systems von Schranken und Gegengewichten betrachten.

Keine wirksame Aufsicht gegenüber den Kommunen

Eine weitere Folge dieser Verfassungsnorm besteht darin, dass es in Russland nicht möglich ist, eine Institution der professionellen Aufsicht über die Aktivitäten der kommunalen Verwaltungen zu schaffen. Die Möglichkeiten des Staates, auf die Organe der Selbstverwaltung in Russland einzuwirken, gehen nicht über den Rahmen der rein rechtlichen (staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen) Kontrolle hinaus. Bei Fehlen einer professionellen Aufsicht als Instrument, mit dessen Hilfe der Staat die Ursachen eventueller Verstöße hätte beseitigen können, kann die rechtliche Kontrolle jedoch nicht effektiv sein, besonders wenn man berücksichtigt, dass die Anzahl der Gemeinden riesengroß ist und dass die Staatsanwaltschaft und die Gerichte keine Erfahrung des Zusammenwirkens mit dieser Institution haben.

Das kann zu Gesetzesverstößen und Korruption verleiten

Diese Tendenz zu einem Übermaß an kommunaler Freiheit stellt einen Faktor dar, der die Entstehung eines günstigen Klimas für Korruption in den kommunalen Verwaltungsorganen fördert und letztendlich die eigentliche Idee der kommunalen Selbstverwaltung in Misskredit bringen kann. Eine Vorstellung über die Ausmaße der Ordnungswidrigkeiten auf kommunaler Ebene vermittelt das Schreiben des Generalstaatsanwalts an den Vorsitzenden der Staatsduma vom 25. Februar 1997, wo es heißt, dass man allein in den letzten eineinhalb Jahren im Verlaufe von staatsanwaltschaftlichen Prüfungen in den Vertretungsorganen und Verwaltungen von Städten, Kreisen und Dorfgemeinden über 70 000 Rechtsverletzungen festgestellt habe.2 Die wichtigsten Arten der Rechtsverletzungen sind folgende:

  • Amtsanmaßung (insbesondere bei der Vergabe von Lizenzen und der Besteuerung), . Gesetzwidrige Einführung von Geldbußen,
  • Einmischung ins Wirtschaftsleben von Unternehmen,
  • Verstöße gegen die Normen der Bodengesetzgebung.

Die negativen Folgen einer fehlenden Finanzaufsicht

In letzter Zeit wird den kommunalen Behörden auch immer häufiger Zweckentfremdung von Finanzmitteln vorgeworfen, was angesichts der chronischen Verschuldung des Staatshaushalts gegenüber den Ärzten und Lehrern besondere Aktualität erlangt. Der Teil der Verantwortung für die Nichtzahlung von Löhnen und Gehältern, den die kommunalen Haushalte zu tragen haben, wird in Artikel 12 der Verfassung direkt bestimmt. Der föderale Gesetzgeber hat jedoch keinen entsprechenden Mechanismus für eine direkte Einmischung des Staates in die Finanzangelegenheiten der kommunalen Verwaltungen erarbeiten können. Als dessen Folge entstand eine Situation, in der die einzige Instanz (außer den Wählern), die einige finanzielle Entscheidungen der kommunalen Verwaltungen kontrolliert, ihr eigenes Gewissen ist. Insbesondere ist keine staatliche Stelle imstande, folgenden Praktiken entgegenzuwirken:

  • Übermäßige und unbegründete Erhöhung der Ausgaben für die Verwaltungsfunktionen der kommunalen Organe (einschließlich der Gehälter der Leiter und ihres Apparats), wobei die Gehälter der Lehrer und Ärzte nicht entsprechend erhöht, mitunter aber auch nicht rechtzeitig ausgezahlt werden;
  • Erfüllung und Übererfüllung der Pläne zur Finanzierung nicht lebenswichtiger Posten der kommunalen Haushalte, wobei geschützte (d. h. gerade lebenswichtige) Posten derselben Haushalte nicht erfüllt werden;
  • Aktive Förderung der Praxis gegenseitiger Schuldenverrechnung mit Wirtschaftssubjekten, die Waren und Dienstleistungen für kommunalen Bedarf liefern.

Da die staatlichen Finanzbehörden keine Möglichkeit haben, die kommunalen Haushalte zu kontrollieren, haben es die Rechtsschutzorgane besonders schwer, Fakten zweckfremder Verwendung von Finanzmitteln und andere finanzielle Verstöße festzustellen.
Somit wurde die durchaus begründete Politik zur Festigung der Garantien für die kommunale Selbstverwaltung, die sich aus Artikel 12 der Verfassung Russlands ergibt, nicht durch Maßnahmen ausgeglichen, die die Verantwortung der kommunalen Verwaltungen festigen und rechtliche Mechanismen schaffen würden, die einem rechts beziehungsweise vernunftswidrigen Vorgehen der kommunalen Verwaltungen im Finanzbereich entgegenwirken würden. Gerechtigkeitshalber sei jedoch gesagt, dass das Vorhandensein dieses Artikels an und für sich schon die Durchführung solcher Maßnahmen wesentlich erschwert. 

In Russland fällt die Kommunale Selbstverwaltung in die Zuständigkeit des Bundes

Die zweite grundlegende Bestimmung der Verfassung, die die Besonderheit des postsowjetischen Kommunalprojekts bedingt at, ist die Zuordnung der Fragen der kommunalen Selbstverwaltung in die gemeinsame Zuständigkeit der Russischen Föderation und ihrer Subjekte. Dabei verpflichtet die Verfassung (Artikel 72, Punkt 1) die Föderation, die gemeinsamen Regulierungsgrundsätze festzulegen, wobei die konkreten Normen in die Zuständigkeit der Bundesländer fallen. Die Kontinuität des postsowjetischen Kommunalprojekts gegenüber dem sowjetischen kommt in der Erhaltung seiner föderalen Provenienz zum Ausdruck. Der oben genannte Punkt der Verfassung von 1993 bestätigte, dass die kommunale Selbstverwaltung in Russland Angelegenheit des Zentralstaates ist, welcher laut Verfassung die Grundprinzipien auszuarbeiten hat. Dies unterscheidet Russland von den anderen föderativen Staaten der Welt. So kann man in den Verordnungen des Obersten Gerichts der USA die Maxime finden, die Kommunen seien "Kreaturen der Einzelstaaten". Aus diesem Grunde wird die Tätigkeit der Gemeinden ausschießlich durch die Gesetze der Staaten reguliert. Im Grundgesetz Deutschlands gibt es nur allgemeine Bestimmungen über die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung. Die Hauptgesetze, die ihre Tätigkeit regulieren, werden jedoch auf der Ebene der Bundesländer erarbeitet. Von diesen Bundesstaaten unterscheidet sich Russland dadurch, dass die kommunale Selbstverwaltung hier eine Kreatur des Bundes ist. Die Bundesländer haben hier faktisch nur die Pflicht, die föderalen Gesetze auf dem Gebiet der kommunalen Selbstverwaltung zu konkretisieren und zu präzisieren.
Der Unterschied des postsowjetischen Projekts liegt darin, dass es in Übereinstimmung mit den in der neuen Verfassung deklarierten Grundsätzen des Föderalismus den Regionen eine viel größere Rolle bei der Regulierung der kommunalen Angelegenheiten beimisst als vorher. Dies lässt uns von einer Dezentralisierung bzw. Regionalisierung der Kommunalpolitik im postsowjetischen Projekt sprechen.

Ein Legitimationsvorsprung der Kommunalen Selbstverwaltung gegenüber dem Föderalismus

Neben dem Kommunalprojekt enthielt die Verfassung 1993 auch noch ein föderales Projekt, das die Staatsverwaltung auf regionaler Ebene zu organisieren hatte. Über die Ergebnisse der Umsetzung des föderalen Projekts kann man an Hand folgender Fakten urteilen:
Einerseits:

  • Die rechtliche Basis des russischen Föderalismus beschränkt sich bis jetzt auf die recht spärlichen Bestimmungen der Verfassung; es gibt keine zusätzliche Regulierung in Form föderaler Gesetze;
  • die Wahlen der Gouverneure verliefen ohne das von der Verfassung vorgeschriebene (Artikel 77, Punkt 1) Rahmengesetz über die allgemeinen Organisationsgrundsätze der Staatsmacht in den Bundesländern der Russischen Föderation;

andererseits:

  • die kommunale Gesetzgebung hat in Russland eine recht solide rechtliche Basis, die außer der Verfassung noch vier föderale Rahmengesetze bilden;
  • die Wahlen der kommunalen Selbstverwaltungen wurden (mit wenigen Ausnahmen) überall erst nach dem Inkrafttreten (im September 1995) des Gesetzes Über die allgemeinen Grundsätze der Organisation der kommunalen Selbstverwaltung in der Russischen Föderation durchgeführt, wie dies auch Artikel 72 Punkt "n" der Verfassung vorsieht.

Aus diesem Vergleich folgt, dass

  • die Institution der kommunalen Selbstverwaltung einen höheren Grad an Legitimität besitzt als die Institution des Föderalismus;
  • das Vermögen der föderalen Behörden, den Prozess der Kommunalisierung zu lenken, d. h. die Kommunalpolitik durch die Korrektur der Gesetzgebung durchzuführen, in krassem Gegensatz zu deren Unfähigkeit (auf Grund fehlender Gesetze) steht, zielgerichtet die Beziehungen im Bund zu beeinflussen, d. h. irgendeine föderative Politik durchzuführen.

Das konstitutionelle Projekt der Kommunalisierung unterscheidet sich also positiv vom Projekt der Föderalisierung, und zwar dadurch, dass die aus dem Geist der Verfassung resultierende Reihenfolge bei seiner Umsetzung nicht verletzt wurde. Somit wurde die Voraussetzung dafür geschaffen, dass

  • die Institution der kommunalen Selbstverwaltung in Russland einen hohen Grad an Legitimität erlang hat,
  • sich die Möglichkeit bot, die rechtliche Basis der kommunalen Selbstverwaltung auszubauen, . die föderalen Strukturen die Möglichkeit bekamen, den Prozess der Kommunalisierung zu kontrollieren und zu regulieren,
  • die föderalen Behörden einen absolut legitimen Verbündeten erhielten, welcher potentiell in der Lage ist, einer spontanen Dezentralisierung auf regionaler Ebene entgegenzuwirken.

Ein Basisgesetz regelt die Grundsätze

Das föderale Gesetz Über die allgemeinen Grundsätze der Organisation der kommunalen Selbstverwaltung in der Russischen Föderation, das am 1. September 1995 in Kraft getreten ist, ist ein Basisgesetz, in welchem die Quintessenz des postsowjetischen Kommunalprojekts formuliert worden ist. Seine Hauptmerkmale, die die Bestimmungen der Verfassung konkretisieren und ergänzen, sind folgende:

  • die Festlegung der allgemeinen Prinzipien zur Organisation der Organe der kommunalen Selbstverwaltung, nicht jedoch eines Systems der Organe der kommunalen Selbstverwaltung, wie dies in dem sowjetischen Kommunalprojekt der Fall gewesen ist;
  • die Vielfalt von Organisationsmodellen der kommunalen Selbstverwaltung, die sich aus Artikel 131 der Verfassung ergibt;
  • ein einheitliches Herangehen an alle Subjekte der kommunalen Selbstverwaltung (Gemeinden) im Unterschied zu der differenzierten Einstellung der Sowjetzeit, als der rechtliche Status der Stadt, Kreis und Dorfsowjets ungleich war;
  • exakte Festlegung der Kompetenz der Staatsmachtorgane in den Bundesländern der Russischen Föderation im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung;
  • Konkretisierung der ökonomischen Rechte der kommunalen Selbstverwaltungsorgane wie das Recht auf kommunale Aufträge, Außenwirtschaftstätigkeit, selbstständiges Verfügen über die Gewinne usw.
  • Verzeichnis der Haupteinnahmen der kommunalen Haushalte.

Die institutionellen Regelungen wurden weitgehend realisiert

Die Hauptaufgaben der Politik des Zentralstaates waren

1. die russischen Bundesländer dazu zu bewegen, durch einschlägige regionale Gesetze und die Durchführung von Kommunalwahlen ein System von Selbstverwaltungsorganen zu bilden;
2. die notwendige finanzökonomische Selbstständigkeit der Selbstverwaltungsorgane zu gewährleisten.
Es war nicht realistisch, die erste Aufgabe in dem Zeitraum zu bewältigen, der dafür im Gesetz (bis zum 1. März 1996) vorgesehen war. Deshalb wurde die Frist bis Ende 1996 verlängert. Um einer Sabotage dieses Gesetzes von Seiten einzelner russischer Bundesländer vorzubeugen, fasste der föderale Gesetzgeber einen recht ungewöhnlichen Beschluss, der die Form des föderalen Gesetzes Über die Gewährleistung der konstitutionellen Rechte der Bürger der Russischen Föderation, zu den kommunalen Selbstverwaltungsorganen zu wählen und gewählt zu werden, welches im November 1996 in Kraft trat, annahm.
Dieses Gesetz stellt an und für sich einen Präzedenzfall der föderalen Einmischung in die Kompetenz der Regionen dar, die die Anforderungen der föderalen Gesetzgebung nicht erfüllen. Für solche Fälle wurden die Gerichte mit dem Recht ausgestattet, die Wahlen anzusetzen, die Regeln ihrer Durchführung aber wurden in einer Sonderanlage zum Gesetz "Über die Gewährleistung der konstitutionellen Rechte ." festgelegt.
Somit könnte man die föderale Politik in der ersten, organisatorischen Etappe der Durchführung des Gesetzes "Über die allgemeinen Grundsätze ." als recht erfolgreich einstufen, wenn man natürlich von den "souveränen Gebieten" absieht. Bis zum 1. Februar 1997 wurden in 76 Subjekten (Bundesländern) der Russischen Föderation die Gesetze über die kommunale Selbstverwaltung angenommen, in den meisten von ihnen wurden auch die Kommunalwahlen durchgeführt.

Unerledigt blieb jedoch das Problem der Finanzausstattung der Gemeinden

Die zweite Aufgabe, und zwar die Gewährleistung der finanziellen Unabhängigkeit der kommunalen Selbstverwaltung, ist indessen faktisch bis heute nicht bewältigt worden.
Die wichtigsten Ursachen dafür, dass diese Aufgabe ungelöst bleibt, sind folgende:

  • die allgemeine Wirtschafts- und Finanzkrise;
  • die aus der Sowjetzeit stammende Ungleichmäßigkeit der Wirtschaftsentwicklung;
  • die Unvollkommenheit des Steuer und Haushaltssystems Russlands;
  • die impulsiven und nicht koordinierten Aktionen der Bundesbehörden zur Transformation dieses Systems.

In den meisten Ländern mit entwickelter kommunaler Selbstverwaltung sind das Vermögen und die Einkommen der Bürger die Hauptquelle, aus welcher sich die Gemeinde versorgt. Im gegenwärtigen Russland können diese Quellen höchstens 20 bis 25 % der minimalen Finanzbedürfnisse der Gemeinden decken, wenn man die Ausgaben berücksichtigt, die sie laut Verordnungen des Staates zu übernehmen haben. Unter diesen Verhältnissen bilden die föderalen Steuern, unter denen neben der Einkommenssteuer die Betriebsgewinnsteuer, die Mehrwertsteuer und die Verbrauchssteuern die entscheidende Rolle spielen, die wichtigste Existenzgrundlage für die überwiegende Mehrheit der Kommunen. Ein besonderes Problem besteht darin, dass die Kommunen selbst diese Quelle nicht unter ihrer Kontrolle haben, denn hier hat die Verwaltung des Bundeslandes das Sagen. Gerade sie bestimmt, wie groß der Teil des gesamtstaatlichen Steueraufkommens ist, den die Städte und Landkreise bekommen, sie kann diese Quoten auch willkürlich von Jahr zu Jahr ändern.
Das Ende 1997 in Kraft getretene Gesetz Über die Finanzgrundlagen der kommunalen Selbstverwaltung sollte diese Willkür einschränken. Danach sollten die kommunalen Haushalte einen fixen Anteil an den föderalen Steuern zugewiesen bekommen. Laut Gesetz muss jedes Subjekt (Bundesland) der Russischen Föderation den Kommunen mindestens

  • 50% des Aufkommens an Einkommenssteuer der natürlichen Personen,
  • 5 % der Gewinnsteuer,
  • 10% der Mehrwertsteuer
  • und 10% der Verbrauchssteuern zuweisen.

Der föderale Gesetzgeber rechnete damit, dass diese Maßnahme erlauben würde, die kommunalen Finanzen etwas zu stabilisieren und die Möglichkeiten für Manipulationen von Seiten der regionalen Administrationen einzuschränken. Heute muss man jedoch feststellen, dass dieses Gesetz noch keine lebensfähige Regelung der kommunalen Finanzen hat hervorbringen können.
Vor allen Dingen ist der Hauptzweck des Gesetzes nicht erreicht worden, und zwar eine gerechte Verteilung der Finanzressourcen unter den Kommunen auf dem Territorium eines Bundeslandes der Russischen Föderation zu gewährleisten. Die wichtigste Fehlkalkulation des Gesetzgebers bestand darin, dass die Formel der Ressourcenverteilung ("im Bundeslandesdurchschnitt") einen Hinweis auf die sogenannten "sozialen Mindeststandards" enthielt, die vom Gesetz " Über die allgemeinen Grundsätze ." ins Kommunalrecht eingeführt worden waren. Diese Normative sind auf der föderalen Ebene - trotz der wiederholten Versprechungen der Regierung - immer noch nicht erarbeitet worden, ein neues Modell der Finanzressourcenverteilung hat man ebenfalls noch nicht erfunden. Dies erlaubt den Subjekten der Russischen Föderation, die Transfers und die Anteile der föderalen Steuern genauso willkürlich zu verteilen, wie sie es auch vor der Verabschiedung des Gesetzes getan haben. Hier haben wir es mit einer offensichtlichen Lücke in der auf der föderalen Ebene durchgeführten Kommunalpolitik zu tun, wobei es keinerlei Aussichten gibt, dass sie in absehbarer Zeit beseitigt wird.
Gerechtigkeitshalber muss man aber feststellen, dass das Gesetz "Über die Finanzgrundlagen ." einen wichtigen Markstein auf dem Wege zum Aufbau einer vollwertigen Institution der Kommunalfinanzen darstellt.

Die Steuerinitiativen der Regierung als Gefahr

Nachdem die Aufgabe, die finanzökonomische Selbstständigkeit der kommunalen Selbstverwaltungsorgane zu gewährleisten, einen Rückschlag erlitten hat, sahen sich die Initiatoren im Sommer 1998 einer neuen Gefahr gegenüber, die sie nicht abwenden konnten. Die steuerlichen Initiativen der Regierung Kirijenko versetzten der Einnahmenbasis der kommunalen Haushalte einen schmerzlichen Schlag. Als Folge ihrer Durchführung

  • ging das Aufkommen an kommunalen Steuern zurück,
  • wurde die Steuerinitiative der Kommunalverwaltungen praktisch abgeschafft,
  • verstärkte sich die Abhängigkeit der kommunalen Selbstverwaltungen von den Finanzentscheidungen der regionalen Behörden bedeutend
  • und verringerte sich die Stabilität der Einnahmenbasis der kommunalen Haushalte.

Besonders gefährlich wirken unter diesem Aspekt die Abänderungen des Gesetzes Über die Grundlagen des Steuersystems, die die Einführung einer Verkaufssteuer und die Abschaffung der meisten Kommunalsteuern, unter denen sich solche wichtigen Abgaben befanden wie zum Beispiel die Marktgebühr, vorsehen.
Andererseits fließt das Aufkommen der Verkaufssteuer laut diesem Gesetz zu 40 % dem regionalen und zu 60 % dem kommunalen Haushalt zu. Experten haben bereits berechnet, dass der Abbau der Kommunalsteuern bei weitem nicht überall durch die Einführung der Verkaufssteuer ausgeglichen wird. In vielen Gebieten, besonders in ländlichen Räumen, wird viel auf Märkten, also ohne Kassenbelege, verkauft. Auf diese Art und Weise verlieren die kommunalen Haushalte, die die Hauptlast der sozialen Infrastruktur (Instandhaltung der Schulen, Gehälter der Lehrer, Ärzte usw.) zu tragen haben, einen Großteil ihrer üblichen Einnahmen.
Eine andere gefährliche Folge der Novellierung der Verkaufssteuer ist, dass damit den Kommunalverwaltungen die Steuerinitiative entzogen wird, denn sowohl die Sätze dieser Steuer als auch das Verzeichnis der Waren, die mit dieser Steuer nicht belegt werden, werden vom Bundesland festgelegt. Somit geht die Steuerpolitik fast gänzlich in die Kompetenz der Regionen über.
Das gleiche lässt sich auch über die Initiative der Regierung sagen, eine einheitliche Ertragssteuer für die Kleinunternehmer einzuführen, deren Hauptparameter, insbesondere die Einnahmenschätzung und die Bestimmung der Zahlergruppen, in die Kompetenz der Subjekte (Bundesländer) der Russischen Föderation fallen sollen. Dies bedeutet, dass die kommunalen Selbstverwaltungsorgane keine Möglichkeit mehr haben, eine eigene Politik zur Entwicklung kleiner Unternehmen auf ihrem Territorium durchzuführen.
Die Hauptgefahr, die das Steuergesetzbuch in sich birgt, besteht darin, dass es die Liste der Kommunalsteuern rigoros kürzt. Ihre Zahl verringert sich faktisch auf fünf, dabei geht man aber davon aus, dass drei Kommunalabgaben zu einer einheitlichen Objektsteuer vereinigt werden, welche im Steuergesetzbuch als Regionalsteuer qualifiziert wird. Somit verwandelt sich die Objektsteuer in eine neue regulierende Steuer, über die nicht die kommunalen, sondern die regionalen Behörden verfügen. Obwohl diese Steuer den kommunalen Selbstverwaltungsorganen zufließen wird, werden sie nicht imstande sein, sie zu verwalten und auf ihrer Grundlage irgendeine Steuerpolitik zu gestalten. Sollten diese Artikel des Steuergesetzbuches in Kraft treten, kann dies einfach zu einer Vernichtung der kommunalen Selbstverwaltung in Russland führen.
Gerade diese Perspektive, die noch vor einem Jahr unwahrscheinlich schien, wird heute immer realer. Unter den Bedingungen, da die Schlüsselentscheidungen der Regierung eindeutig den Interessen der kommunalen Selbstverwaltung widersprechen, geht es schon nicht um eine Weiterentwicklung, sondern lediglich um das Überleben dieser Institution. In diesem Kontext klingen die Äußerungen von Mitgliedern der Regierung über die Wiederherstellung der vertikalen Verwaltungsstrangs geradezu unheilvoll, denn dies kommt einem totalen Verzicht auf die Kernideen des postsowjetischen Kommunalprojekts gleich. Dies alles zeugt davon, dass dieses Projekt gegenwärtig eine tiefe Krise durchmacht und dass die Überwindung dieser Krise vom Vermögen der föderalen Politiker abhängen wird, neue Ideen, Ansätze und Lösungen anzubieten.

Anmerkungen

1 Vedomosti Soveta Narodnych Deputatov i Verchovnogo Soveta SSSR, 16/1990, S. 267.

2 "Über die negativen Prozesse in der Anwendungspraxis der Gesetzgebung über die kommunale Selbstverwaltung", Schreiben des Generalstaatsanwalts Ju. I. Skuratow an den Vorsitzenden der Staatsduma G.N.Selesnjow vom 25. 2. 1997, Nr. IGP2497, S. 1.

 

 


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