Zeitschrift Russland unter Putin Alltag in Russland |
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Impressionen und Erklärungen Von Roland Haug. Der Alltag in Russland offenbart Verhaltensgewohnheiten, die tief in der russischen Agrar- und Feudalgesellschaft früherer Zeiten verwurzelt sind. So werden beispielsweise Leistung und Leistungsbereitschaft nicht belohnt, Sozialneid drückt in Richtung auf Gleichmacherei. Der Sozialismus sowjetischer Spielart hat solche Verhaltensdispositionen noch verstärkt. Desgleichen wird die Hoffnung vielfach auf den starken Vater gesetzt, der hart, aber gütig ist und für einen sorgt. Die Folgen sind sichtbar. Angesichts der Verschlechterung der sozialen Lage breiter Bevölkerungsschichten kommt SowjetNostalgie auf, namentlich bei den älteren Menschen. Red.Das Hantieren mit Klischees Die Völker-Psychologie ist eine seltsame Wissenschaft. Kaum einer hat sie gelernt. Doch fast ein jeder betreibt sie. Nur ganz wenige haben verinnerlicht, dass gerade auf dem Gebiet der Mentalitätsgeschichte das Richtige und das Flasche vertrackt eng beieinander liegen. In unserem Moskauer ARD-Büro hatten wir zur allgemeinen Erheiterung eine "Völkertafel" aufgehängt. Sie war im 19. Jahrhundert in Wien entworfen. Ihr Titel: "Kurze Beschreibung der in Europa befindlichen Völkern. Und Ihren Eigenschaften". So kurios wie der Titel waren die Aussagen über Natur und Wesen bestimmter Völker. Da hieß es zum Beispiel von den Spaniern, sie seien "wunderbarlich". Der Franzose gilt als "holdselig und gesprächig". Der Welsche (gemeint war der Italiener) sei hingegen eifersüchtig. Bei den Untugenden kam es dann zu einem spannenden Endspurt. Ein "Verräter" sei der Ungar, hieß es. Noch verräterischer sei der Türke und Grieche. Wir Heutigen, angeblich so Aufgeklärten, lachen gerne über das Apodiktische dieser früheren " Erkenntnisse". Doch Hand aufs Herz: In unseren Stammtisch-Urteilen sind wir kaum differenzierter. Nur dass wir, wenn wir etwa dem Schweizer das Etikett "Highlife-Spießer" anheften, die salvatorische Klausel hinterherschieben: Es gibt natürlich solche und solche. Wenn es aber um die Beurteilung der Russen geht, hantieren wir nur allzugern mit Klischess. Doch wie sind die Ostslawen wirklich? Gibt es sie überhaupt: "Die Russen"? Was sind ihre Alltagssorgen, ihre Interessen? Die folgenden Impressionen und Beispiele können darauf keine verbindliche Antwort geben. Möglich sind lediglich Annäherungen an eine widersprüchliche Wirklichkeit. Sicher gibt es keine genetisch bedingte Mentalität, der man nicht entrinnen kann, weil sie angeblich Ewigkeitswert hat. Ein Wirtschaftswissenschaftler wird ohnehin die Nase rümpfen, wenn man ihm mit dem Begriff "Mentalität" kommt. Bei ihm müssen ganz einfach die ökonomischen, sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen stimmen. Dann ergibt sich der Rest schon fast von alleine. Ein warmherziges und gefühlvolles Volk sind die Russen Die Russen sind (wenn man ausnahmsweise einmal diesen Kollektiv-Begriff benutzen darf) ein warmherziges und sehr gefühlbetontes Volk. Sie schließen Freundschaft mit Menschen, mit denen sie sich auf derselben Wellenlänge unterhalten können. Ich bekenne mich offen dazu: Auch mir geht die russische Geselligkeit ans Herz. Sie ist nicht so oberflächlich wie bei uns in Mitteleuropa. Weniger wahrgenommen wird aber, dass dieser Hang zur Geselligkeit, die Mentalität der einfachen Menschen, für die Politik der Reformen ein schier unüberwindliches Hindernis darstellt. Sicher gibt es auch heute in russischen Büros Streß. Die Umstellung auf das westlich-effiziente Zeit-Management hat mancherorts das allzu gemächliche Leben von einst, den alten Schlendrian, beseitigt. Russische Geschäftspraktiken lassen häufig an Effizienz zu wünschen übrig. Das mag damit zusammenhängen, dass man in Russland noch immer keine Dringlichkeit kennt. Das fängt schon an nach der Landung auf dem Moskauer Flughafen Seremet'evo II. Da hat man zum ersten Mal Gelegenheit, sich an eine russische Bedächtigkeit zu gewöhnen. Vor den Schaltern der Paßkontrolle wachsen die Menschenschlangen. Die murrende Ungeduld der Wartenden ist nicht zu überhören. Doch die überwiegend weiblichen Grenzbeamten lassen sich sehr viel Zeit, um ihre Existenzberechtigung eindrucksvoll zu demonstrieren. Auch sonst im russischen Alltag verhält man sich eher nach dem Grundgesetz: "Renne niemals einem Bus hinterher. Es kommt immer wieder ein anderer". Die Flucht vor den Anforderungen des Lebens Gerade dann, wenn man (wie
die Angehörigen der Intelligenzia) ein so genanntes geistiges Leben führt, ist mitunter ein Hang zum Eskapismus feststellbar. Viele intellektuelle
Russen befinden sich in einer permanenten Schaffens und Lebenskrise. Da ist gar mancher, der an seinem Weltgebäude baut. Sterben wird er vor
Weltschmerz, ohne das Richtfest gefeiert zu haben. Extensiv setzt er sich seinen Gefühlen aus. Er philosophiert, sinniert und wehklagt. Es fehlt ihm
aber der Mut, in den Lauf der Dinge einzugreifen und etwas zu gestalten. Noch immer gilt der Vorrang des passiven Leidens an der Wirklichkeit
vor dem Drang, diese zu verändern. Der weitverbreitete Sozialneid Die Sonne hat Flecken. Wer länger in Russland lebt, der lernt dieses aufregende Land auch sehr bald von einer recht unangenehmen Seite kennen. Wichtig wäre zum Beispiel die praktische Erfahrung, dass sich Leistung lohnt. Nur so ließe sich die Mentalität eines Volkes verändern, das mehr als 70 Jahre Kommandowirtschaft hinter sich hat. Doch derartige Gedankengänge sind nicht immer schwer zu vermitteln. Besonders negativ wirkt sich der weitverbreitete Sozialneid auf die Wirtschaft aus. In keinem Land der Welt ist diese Untugend so ausgeprägt wie in Russland. Dieser Neid richtet sich aber keinesfalls nur gegen die Mafia und gegen die Neureichen, die häufig recht unsympathische Figuren sind. Er richtet dich gegen jeden, der sich über das Mittelmaß erhebt, gegen jeden, der härter, erfolgreicher arbeitet als der russische Normalbürger. Sogar Wohltäter können Opfer einer grassierenden Missgunst werden. Als zum Beispiel in Tomilino, in der Nähe einer ehemaligen Moskauer Müllkippe, ein SOS-Kinderdorf errichtet wurde, da zog die Stadt Moskau durchaus mit. Das Kinderdorf kostete Russland keinen Rubel; es wurde finanziert aus dem deutschem Hermann-Gmeiner-Fonds. Die Moskauer Stadtverwaltung ließ neue Wasser, Gas- und Stromanschlüsse legen. Sogar eine Zufahrtsstraße wurde gebaut. Doch die Einwohner von Tomilino nahmen dennoch Anstoß. Sie protestierten. Das ganze Projekt kam ihnen einfach übertrieben vor. Obwohl das SOS-Kinderdorf von Russen geleitet wurde, glaubte man den Gräuelmärchen der Kommunisten: Die Deutschen - so hatten ihnen diese erzählt - würden in dem Heim "russische Kinder versklaven".
Der Sozialismus paßte ganz gut dazu Ansätze einer Zivilgesellschaft und eines
Bürgertums haben sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Russland durchaus entwickelt. Sie sind aber durch die Oktoberrevolution des Jahres
1917, durch den Sieg der Bolschewiki, zunichte gemacht worden. Für die unter Stalin massiv einsetzende Industrialisierung und die sich
entwickelnde Bürokratie musste man weitgehend auf die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit zugreifen. In Verwaltung, Armee und Wirtschaft
verbreitete sich die traditionelle Mentalität des Bauerntums. Der kommunistische Egalitarismus kam diesem Denken durchaus entgegen. Der Schlüsselbegriff des "sovok" Es gibt im Russischen
ein hässliches, ein abschätziges Wort für diese Haltung: Man spricht von einem "sovok". Dieses Wort ist von dem Wort "Sowjet" abzuleiten.
Nach einem in den frühen Neunzigern herausgekommenen Wörterbuch des russischen Slangs hat man unter dieser Bezeichnung einen typischen
Vertreter der alten sowjetischen Lebensform und der sowjetischen Denkweise zu verstehen. Es handelt sich also beileibe nicht um einen
kommunistischen Revolutionär, der hoffnungsvoll in die Zukunft blickt. Dieser Typus sei längst ausgestorben, heißt es. Es handle sich vielmehr um
den üblichen stumpfsinnigen Vertreter der sowjetischen Stagnationszeit. In diesem Begriff seien die Ergebnisse von 70 Jahren proletarischer
Gleichmacherei, aufgezwungener und falscher Kameraderie, das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit und Ohnmacht und die verhinderte, die
unterdrückte Eigeninitiative vereint. Meine Moskauer Sekretärin verband mit der Bezeichnung sovok nicht einen bestimmten Menschen, sondern "
Zustände in der russischen Gesellschaft". Es seien darunter "Mängel der Kultur im alltäglichen Leben" zu verstehen, aber auch die "mangelnde
Fähigkeit zur produktiven Arbeit". Es gehören dazu aber auch die Verachtung der menschlichen Persönlichkeit, die Geringschätzung der Gesetze
und die "Verherrlichung unehrlicher Geschäfte und des Faustrechts". Nach Ansicht von Lena, ihrer Freundin, ist der Begriff sovok unter
Jugendlichen und unter Studenten entstanden. Man bezeichnet damit (in einem verächtlichen Sinne) einen primitiven, rückwärtsgewandten
Spießbürger, einen Menschen, der sich aus der grauen Masse nicht heraushebe. Der sovok sei unfähig, etwas Originelles zu bewerkstelligen, ein
Synonym für das Wort sovok sei der Begriff des homo sovieticus. Der einfache Mann stellt sich die Regierung als Superpatriarchen vor Der einfache Mann in Russland stellt sich die Regierung als einen Super-Patriarchen vor, der wie ein starker, gütiger und weiser Vater für ihn sorgt. Es gibt noch immer ein naives Vertrauen in "Väterchen Zar" oder "Väterchen Stalin". Eine Einzelherrschaft ist für eine Mehrheit der Russen nicht von vorneherein von Übel. Nur stark muss er sein, der Zar, und dazu noch gütig und weise. Dieser Wunsch nach dem starken Herrscher ist Ausdruck einer wenig entwickelten Initiative und der Unfähigkeit, sein Leben selbst zu organisieren. Dazu gehört aber auch der Vorrang der Gleichheit vor der persönlichen Tüchtigkeit. Es ist die über Jahrhunderte gewachsene Mentalität einer patriarchalischen Bauerngesellschaft, die sich nicht so schnell verändern lässt. Dazu muss man wissen, das in Russland die Leibeigenschaft erst 1861 abgeschafft worden ist und dass die russischen Bauern im allgemeinen kein Privateigentum an Grund und Boden, sondern nur eine zeitlich befristete individuelle Nutzung kannten. Von wegen "freier Marktwirtschaft". Ein weiteres Beispiel: Der Kunde ist in Russland noch immer der Dumme. Da wollte doch im Juni des Jahres 1997 die russische Fluggesellschaft AEROFLOT mit einem Top-Angebot ihr schwer lädiertes Image aufbessern. Am Ende der Aktion hatte die Fluggesellschaft dann aber mehr verärgerte Kunden als zuvor. Ihr Ansehen war noch mieser. Was war bloß passiert? AEROFLOT hatte in Zeitung und im Fernsehen ein Lockangebot platziert. Es lautete: "200 Dollar (damals 300 DM) für jeden Hin und Rückflug, egal an welchen Ort". Doch der Versuch, an eines dieser Tickets zu gelangen, scheiterte am "Sovokismus". Denn: Verteilt wurde in alter Sowjet-Manier. "Sie werden doch nicht im Ernst annehmen, dass gerade Sie an eines dieser Billig-Billetts kommen", schnauzte die Chefin der Zentralkasse der AEROFLOT am Moskauer Puschkin-Ufer eine Kundin an. "Wir haben die Tickets doch noch gar nicht im Computer. Und wenn sie dann endlich dran sind, dann haben wir so viele Freunde und Verwandte zu versorgen. Die wollen auch einmal billig fliegen." Und so kam es denn auch: Die billigen Plätze wurden an Kinder und Freunde von Mitarbeitern verramscht - wie "Bückware" zu Zeiten des Spätsozialismus. Die Pflicht, den Bürger zu versorgen, wird beim Staat gesehen In Russland ist die Sehnsucht des darbenden Volkes, einmal frei von Not, Mangel und Unterdrückung zu leben, übermächtig. Doch in der Vorstellungswelt der älteren Leute liegt die Pflicht, die Bürger zu versorgen, eben nach wie vor beim Staat. An ihn stellt man hohe Erwartungen. Angesichts der anarchischen Verhältnisse, die der Rückzug des sowjetischen Staates aus vielen lebenswichtigen Bereichen hinterlassen hat, ist der Wunsch nach einer ordnenden Hand natürlich verständlich. Die einfachen Leute sind zu Recht erschrocken über die negativen Auswirkungen des russischen Raubtier-Kapitalismus. Sie schwärmen von den alten Zeiten, damals in Moskau, als das Geld noch nicht funktionierte. Die Arbeitszeit war zum "Kräfteschonen" da. Man dachte an die "Zeit danach", an das Leben auf der Datscha. Die alten Leute verklären heute jene Zeit, in der der Betrug an den Staatskassen zum Volkssport geworden war und in machen Kreisen Dissidenten Märtyrer-Status hatten. Der Alltag war obrigkeitlich geregelt, klar durchorganisiert. Die Spielregeln waren so eindeutig bestimmt, dass zumindest im zeitlichen Abstand das Leben damals als "leicht" erscheint. Es ist dies ein Lebensgefühl, längst eingemottet und verstaubt, an das man sich in den Zeiten des "wilden" Kapitalismus nur zu gerne erinnert. Viele dieser Zeitgenossen wollen sich von den oft unsympathischen Neureichen nicht das Fell über die Ohren ziehen lassen. Eigentlich wünscht man sich ja nur, dass man seinen Lohn, dass man seine Ration bekommt, auch wenn man (gemessen an westlichen Maßstäben) nur wenig leistet. Zahlt es sich denn aus, auf Eigeninitiative zu setzen? Der Russe brauche eine starke Hand. Er neige zum Kollektivismus. Der westliche Individualismus sei ihm fremd. So und ähnlich lautet eine weit verbreitete, geradezu stereotyp anmutende Auffassung über Russland. In einer Repräsentativ-Erhebung über Werte, gesellschaftliche Vorstellungen und politische Identifikationen ist diese Ansicht im Wesentlichen bestätigt worden.1 Fast die Hälfte der Befragten vertat die Auffassung, dass Liberalismus und westliche Demokratie Werte seien, die nicht zu ihnen passten. Wichtig in Russland seien: Gemeinschaftsgefühl, Kollektivismus und ein straff geführter Staat. Mehr als die Hälfte zieht es vor, in einer Gesellschaft mit sozialer Gleichheit zu leben, während nur jeder Vierte individuelle Freiheit für wichtiger hält. Nur etwa jedem Fünften der Befragten erscheinen Privateigentum, Reisefreiheit und Glaubensfreiheit als unverzichtbare Elemente einer echten Demokratie. Mehr als zwei Drittel wollen staatliche Eigentum an einem Großteil der industriellen Produktion. (Ausgenommen ist lediglich die Nahrungsmittelindustrie.) Jeweils weniger als fünf Prozent bevorzugen Privateigentum. Der Rest tritt für gemischte Eigentumsformen ein. Es liegt freilich der Schluss nahe, dass es sich hier nicht um unveränderliche Meinungen handelt, sondern um einen Teil des durch den Sowjet-Kommunismus geprägten Wertesystems. Die jüngere Generation (16 bis 24 Jahre) legt nämlich den Schwerpunkt auf die individuellen Freiheiten und nicht auf die Präferenz der sozialen Gleichheit.
Die niedrige Lebensqualität Eigentlich müsste der größte Flächenstaat der Welt unermesslich reich sein, verfügt er doch über enorme Vorkommen an Bodenschätzen. Russland besitzt insgesamt mehr als ein Drittel der Erdgasreserven dieser Welt, knapp die Hälfte der Kohle und etwa ein Fünftel aller Goldreserven. Trotzdem ist die Russische Föderation nach Jahrzehnten kommunistischer Misswirtschaft und schmerzvoller, letztlich gescheiterter Wirtschaftsreformen in den Neunzigerjahren kein reicher Staat. Das Brutto-Inland-Produkt betrug 1999 je Einwohner umgerechnet lediglich 2.400 D-Mark (Deutschland liegt bei etwa 56.000). Über fünfzig Millionen Russen von etwa 145 Millionen Einwohnern lebten 1999 unter dem Existenzminimum von 980 Rubeln (72 D-Mark). Das durchschnittliche Realeinkommen der Bevölkerung sank im Jahre 1999 um 15 Prozent. Der Jahresbericht 1999 des russischen Amtes für Statistik wartet mit weiteren erschreckenden Zahlen auf: Nirgendwo in Europa ist die Kindersterblichkeit so hoch wie in Russland. Aber auch in den mittleren Altersgruppen ist die Sterblichkeit mit Abstand die höchste in Europa. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass die Selbstmordrate beunruhigend hoch geworden ist. Die politische Instabilität und der wirtschaftliche Niedergang sorgen dafür, dass Ehepaare sich immer seltener für Kinder entscheiden. Seit 1999 ging die Bevölkerung der Russischen Föderation um etwa fünf Millionen auf 145,4 Millionen zurück. Unter dem Gesichtspunkt der Lebensqualität belegt Russland mittlerweile in der Welt nur noch den 72. Platz. Die Russen können ihre ehemaligen Verbündeten im ehemaligen Ostblock - Ungarn, die Tschechische Republik und die Slowakei - nur beneiden. Diese Länder liegen bei diesem Kriterium 30 Plätze weiter vorne. Die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede sind immer größer geworden Die Finanzkrise vom 17. August 1998 hat den sich
gerade herausbildenden "Mittelstand", eine Stütze der neuen Ordnung und ein besonders aktiver Bevölkerungsteil, schwer getroffen. In ihrer großen Mehrheit gehören diese "white
collars" freilich zum oligarchischen Dienstpersonal. Damals war er der beste Teil der Generation der 25 bis 30-Jährigen: Sie waren Makler,
Manager, Immobilienhändler, Werbefachleute, Selbstständige, Angestellte von Banken, Versicherungs- und Investment-Gesellschaften. Sie alle
hatten irgendwie begriffen, dass einem Geld auch ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit vermitteln kann. Nachdem der Rubel in freiem Fall
in den Abgrund gestürzt war und sich der Dollar extrem verteuert hatte, verloren diese Menschen auch ihren Optimismus. Sie fühlten sich
überflüssig, denn die Gesellschaft brauchte sie nicht mehr.
Man schätzt, dass die Moskauer Arbeitgeber nach der Finanzkrise bis zu siebzig Prozent ihrer Angestellten entlassen mussten.2 Es hat vor allem
jene getroffen, die (für russische Verhältnisse) ganz gut verdient hatten. Seitdem ist die Kaufkraft in Moskau um mehr als ein Drittel
zurückgegangen. Im Zuge dieser großen Finanzkrise sind nicht nur zwei Drittel aller Ersparnisse der Russen vernichtet worden. Das Land hatte
praktisch sein Bankensystem verloren. Die Zentralbank hatte keine Devisen mehr, die Unternehmen keine Umlaufmittel und die Beschäftigten
keine Löhne. Noch schlimmer war, dass auch die letzten Reste des Vertrauens in die Staatsmacht in wenigen Tagen zerstört worden sind. Es
setzte sich die Überzeugung durch, dass es sich in diesem Staat nicht auszahlt, auf Eigeninitiative zu setzen. Ein potemkinsches Dorf von unvorstellbaren Ausmaßen Das Leben in der boomenden Metropole Moskau mit ihren glitzernden Einkaufspassagen ist sündhaft teuer geworden.
Rentner, die nicht von ihren Kindern versorgt werden, bleibt oft nichts übrig als ihre letzte Habe zu verhökern. Eine karge Monatsrente von
umgerechnet 100 D-Mark zwingt viele Pensionäre zum Nebenverdienst. Die Jobs der Garderobenfrauen in Museen oder der
Rolltreppenaufseherin in der Moskauer Metro sind fest in der Hand alter Menschen. Viele können sich nur die einfachsten Lebensmittel kaufen:
Graupen, Gries, Brot, Salz und Tee. Wen wundert's, dass die über 50 und 60-Jährigen heute noch von den "guten alten Zeiten" schwärmen.
Damals habe man in Russland einfach besser und auch unbeschwerter gelebt, meinen sie. Ein Großteil der älteren Bevölkerung verknüpft mit der
Breschnjew-Zeit Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, aber auch von Lebensfreude und zwischenmenschlichem Vertrauen. Das gegenwärtige
Russland wird hingegen als wirtschaftlich schwierig, kriminell, korrupt und krisenhaft empfunden. Man assoziiert damit auch geistige Kälte,
Ellbogen-Mentalität und Unsicherheit im Hinblick auf die Zukunft.3 Der Widerspruch zu dieser positiven Sicht der Vergangenheit besteht nun
darin, dass bis Ende 1991 achtzig Prozent der Sowjetbürger die Segnungen der westlichen Konsumgesellschaft überhaupt nicht kannten.
Westfernsehen war allenfalls in Estland und unmittelbar an der dünn besiedelten Grenze zu Finnland und Norwegen zu empfangen. Viele erlitten
nach dem Zusammenbruch der UdSSR einen Kulturschock, von dem sie sich bis heute noch nicht erholt haben.
Auch die Katastrophen haben durchaus reale Ursachen Es war wie eine Verschwörung finsterer Schicksalsmächte.
Ausgerechnet in der Urlaubszeit des Jahres 2000 wurde Russland von schweren Schicksalsschlägen heimgesucht. Das Imperium im Osten
schlingerte von einer Katastrophe in die nächste. Kaum hatte sich die politische Führung in die Ferien verabschiedet, da detonierte in einer
Unterführung des Moskauer Puschkin-Platzes jede Menge Sprengstoff. Es folgte bald darauf der Untergang des U-Boot-Riesen "Kursk" in der
Barents-See. Und schließlich brach im zweitgrößten Fernsehturm der Welt Feuer aus. Nun war eine beispiellose technische Meisterleistung, eben
der Fernsehturm, in eine Schieflage geraten. Dies passte genau zur allgemeinen .Katastrophen-Stimmung. Es war wie der Walhalla-Brand in der
Götterdämmerung. Eindrucksvoller hätte die Oper des Bolschoj Theaters den Untergang eines Imperiums auch nicht inszenieren können. Ein marodes Land Es wäre unfair, Präsident Putin für diese Fehlleitung verantwortlich zu machen. An der
Bewältigung der genannten Ursachen wird er sich aber zumindest mittelfristig messen lassen müssen. Die Katastrophen der jüngsten Zeit belegen
nämlich eines mit
aller Deutlichkeit: Die vermeintliche Stabilität, der sich angeblich mit Putin abzeichnende Aufschwung, lässt noch auf sich warten. Es wird sogar alles
noch viel schlimmer kommen, bevor es besser wird. Die Restsubstanz eines untergegangenen und an seiner eigenen Unfähigkeit gescheiterten
Imperiums ist nun endgültig aufgezehrt. Russland ist ein marodes Land. Die Wirtschaft liegt am Boden. Der Maschinenpark in den Fabriken ist
museumsreif. Einige wenige, die Reichen und Mächtigen, plündern das Land aus. Die Mehrheit muss ohnmächtig mit ansehen, wie die Grundlagen
ihrer bescheidenen Existenz wegbrechen. Schlimmer noch: Der Militär und Sicherheitsapparat träumt vom Glanz vergangener Größe, von der
Weltmacht Russland. Doch diese Träume sind weltfremd. Sie passen nicht mehr in das neue Jahrtausend. Es ist nicht die Größe einer
Kriegsmarine und auch nicht die Zahl der Atomwaffen, die einem Staat zu Ansehen und Stärke verhelfen. Es kommt auf die industrielle
Leistungsfähigkeit, auf die wissenschaftliche Dynamik, die Qualität seines Bildungswesens und auf kulturelle Leistung an. Viel zu einflussreich ist die Macht schlecht ausgebildeter und neidischer Bürokraten Die Frage, warum in Russland so vieles schief läuft und sich keine militärische oder politische Elite herausbildet, ist kulturhistorisch zu erklären. Ein russischer Bürger, der sich vorgenommen hat, rechtschaffen, intelligent und verantwortungsbewusst zu handeln, wird es schwer haben. Er stößt bald an seine Grenzen. Er muss nämlich in Konkurrenz treten zum landesüblichen, beschränkten und korrupten Mittelmaß. Viel zu einflussreich ist nämlich die geballte Macht schlecht ausgebildeter und neidischer Bürokraten. Für sie ist Erfolgs- und Qualitätsdenken schon fast eine Zumutung. Der Erfolg der anderen, der Fleißigen und Tüchtigen, ist ihnen zutiefst verhasst. So kommt es denn, dass zum Beispiel viele talentierte und gewissenhafte Offiziere der russischen Armee und Marine längst den Rücken gekehrt haben. Zurückgeblieben ist ein eher mieser Durchschnitt, eine Negativ-Auslese von besonders Angepassten. Anlass zur Sorge geben die langen Warteschlangen vor den Moskauer Konsulaten der klassischen Einwanderungsländer Kanada und Australien. Allein 1999 packten 390.000 Russen für immer ihre Koffer. Die meisten dieser Auswanderer waren hochqualifiziert und im besten Alter. Anmerkungen 1 Das geht aus einer Studie hervor, die die Friedrich-Ebert Stiftung in Zusammenarbeit mit einem russischen Forschungsinstitut durchgeführt hat. (Vergleich FAZ vom 9.1.98) 2 Vladimir Miljutenko. In: Vostok 1, 1999, S. 17 3 FAZ vom 9.1.98 4 Nach Auskunft von Alexander Sinelnikov, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Demographie und Umwelt, sank die durchschnittliche Lebenserwartung bei Männern zwischen 1990 und 1998 von 65 auf 60 Jahre, bei Frauen von 73,3 auf 72,8 Jahre.
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