Zeitschrift

Der Rhein

 

 

Christoph Bernhardt
Die Rheinkorrektion


Inhaltsverzeichnis    


Ein Natureingriff ungewöhnlichen Ausmaßes

Die Umgestaltung einer Kulturlandschaft im Übergang zum Industriezeitalter

Dr. Christoph Bernhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner bei Berlin und Lehrbeauftragter an der TU Berlin.

Die Begradigung des Oberrheins durch den badischen Ingenieur Tulla war ein folgenreiches Unternehmen in mehrfacher Hinsicht: Sie verkürzte den Schifffahrtsweg, schützte die betroffenen Landstriche besser vor Hochwasser, führte zu erheblichem Landgewinn und schuf einen dauerhaften Grenzverlauf zu Frankreich und zur Pfalz. Von Anfang an aber wurde auch über die nachteiligen Folgen gestritten: die Verlagerung (und Verschärfung) des Hochwassers rheinabwärts, die Beeinträchtigung wirtschaftlicher Interessen ganzer Dörfer und Städte, die Beeinträchtigung der Artenvielfalt bei Pflanzen und Tieren. Ein Markstein war die Rheinkorrektion aber auch für den Weg Badens in die Moderne: Hier wurde das Know-how gewonnen für das spätere Großunternehmen Eisenbahnbau, zukunftsweisende Ausbildungsgänge (TH Karlsruhe!) und Institutionen wurden geschaffen, zudem ein modernes Enteignungsrecht, das ebenfalls dem Eisenbahnbau zugute kam. 
Red.


Für den Modernisierungsprozess in Baden war es ein Meilenstein

Die Begradigung des Oberrheins im 19. Jahrhundert, mit der der Fluss zwischen Basel und Worms um 81 km verkürzt wurde, war bereits in den Augen der Zeitgenossen ein Natureingriff ungewöhnlich großen Ausmaßes. Gerade in jüngerer Zeit findet er unter Wissenschaftlern und Praktikern weit über den Wasserbau hinaus wieder vermehrt Interesse. Inzwischen sollen mit dem von der baden-württembergischen Landesregierung 1988 verabschiedeten Integrierten Rheinprogramm unter anderem die damals begonnene Trockenlegung der Auen und die Hochwasserschutzmaßnahmen teilweise wieder rückgängig gemacht werden. Dies deutet auf eine kritische Neubewertung der Oberrheinbegradigung hin.

Unabhängig davon lassen sich an diesem Wasserbaugroßprojekt aber auch wichtige Stationen auf dem Weg Badens vom absolutistisch regierten Agrarstaat des späten 18. Jahrhunderts zum konstitutionell verfassten Industriestaat des frühen 20. Jahrhunderts im Spiegel der Landschafts- und Umweltgeschichte anschaulich nachvollziehen. Die erste Vermessung des zwischen 1803 und 1815 neu gebildeten Großherzogtums Baden, die dauerhafte Festlegung der Landesgrenze mit Frankreich, die vergleichsweise frühe Abschaffung der feudalen Flussbaufron schon 1816 und das noch vor dem Beginn des Eisenbahnbaus 1835 verabschiedete badische Enteignungsgesetz bildeten nur einige dieser Stationen. Sie gehörten, ebenso wie der Aufbau einer staatlichen Tiefbauverwaltung, die Eröffnung der Polytechnischen Schule (der späteren TH Karlsruhe) 1825 und die Ermöglichung der Großschifffahrt auf dem Oberrhein durch die sogenannte Niederwasserregulierung nach 1876 zu den wichtigen Marksteinen eines grundlegenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses in Baden. Die Begradigung des Rheins trieb diesen Modernisierungsprozess mit voran, wie sie umgekehrt von ihm gefördert wurde. Die zahlreichen Widerstände und Hindernisse, mit denen der unermüdliche Motor des Vorhabens, der bis heute als "Bändiger des Rheins" in Baden weithin bekannte Oberstleutnant Johann Gottfried Tulla (1770-1828) und seine Mitstreiter zu kämpfen hatten, weisen manche Parallele zu den Kontroversen in späteren gesellschaftlichen Modernisierungsschüben auf.

Hochwasserschutz, Landgewinnung, aber auch feste Grenzen als Ziel

Die Vorgeschichte der Begradigung des Rheins reicht zurück ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts. Die Markgrafschaft Baden, im staatsrechtlich zersplitterten "Flickenteppich" des deutschen Südwestens gelegen, und Frankreich als die beiden größten Anliegerstaaten am Oberrhein sahen seit dieser Zeit vor allem aus zwei Gründen dringenden Handlungsbedarf für umfassende "Flussbauarbeiten". Zum einen verschärften sich die Hochwasserprobleme im Verlauf des 18. Jahrhunderts insbesondere im mittleren Teil des Oberrheins zwischen Kehl und Speyer, wo eine Reihe von Dörfern in den 1750er Jahren von schweren Überschwemmungen heimgesucht wurde und 1778 ein weiteres Hochwasser große Verwüstungen anrichtete.1 Zum anderen rief die ständige Verlagerung des Flussbettes permanente Streitigkeiten sowohl zwischen badischen und französischen Gemeinden um das Eigentum an Ufergrundstücken und um die - zu dieser Zeit über 2000! - Rheininseln hervor. Zugleich erwuchsen daraus Konflikte zwischen den beiden Staaten um den Verlauf der Rheingrenze. Da als Grenze der "Thalweg", das heißt die Hauptabflussrinne galt, diese sich aber laufend änderte, waren regelmäßige "Flussbefahrungen" von "gemischten Kommissionen" nötig, um den Grenzverlauf neu festzulegen.

Grundlegende Rahmenbedingungen für die Planung und praktische Durchführung der Begradigung setzten die unterschiedlichen naturräumlichen Gegebenheiten am südlichen und am nördlichen Teil des Oberrheins: Während die südliche "Furkationszone" von Basel bis nördlich von Straßburg ein etwa zwei bis drei Kilometer breites Abflussgebiet mit zahlreichen Armen und Inseln aufwies, durchfloss der Rhein in der nördlichen "Mäanderzone" zwischen Karlsruhe und Mannheim in einem geschlossenen Bett, aber in weit ausholenden Schlingen die Rheinniederung.

In der Übergangszone zwischen diesen unterschiedlichen naturräumlichen Gebieten, in der Gegend nördlich von Kehl und Straßburg, unternahmen die beiden Staaten nach dem Hochwasser von 1778 einen gemeinsamen Anlauf, um wenigstens an den hauptsächlich gefährdeten Stellen Flussbaumaßnahmen durchzuführen. Damit sollte ein besserer Hochwasserschutz erreicht, aber auch die Landgewinnung gefördert und die Staatsgrenze fixiert werden. Diese Initiative wurde jedoch bald, unter anderem durch unterschiedliche Auffassungen über die Finanzierung und Organisation der Arbeiten, gebremst. Umstritten blieb unter anderem, ob sie unter Heranziehung von Fronarbeitern aus den Gemeinden oder durch staatlich bezahlte Lohnarbeit erfolgen sollten. Die Auswirkungen der Französischen Revolution brachten die Pläne dann ganz zum Stillstand. Der ausgehende Absolutismus gab dem Rheinbau aber auch zukunftsweisende Impulse: Auf französischer Seite wurde die für jeden größeren Eingriff unabdingbare Vermessung des Flussgebietes nach der modernen Methode der Triangulation unter Leitung des Ingenieurs Noblat vorangetrieben, auf badischer Seite begann der aufgeklärte Markgraf Karl Friedrich (1718-1811) mit dem Ausbau einer Straßen- und Wasserbauverwaltung. Diese sollte unter Ihrem späteren Leiter Tulla zum Träger und Promotor der Rheinbegradigung im 19. Jahrhundert werden. Und noch in einer anderen Hinsicht wurzelte die spätere Begradigung im wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Ideengut des 18. Jahrhunderts: Handelte es sich doch dabei ganz wesentlich um ein großes Landgewinnungsvorhaben, eines der umfangreichsten unter den vielen zeitgenössischen "Meliorationsprojekten", die der den physiokratischen Lehren anhängende Markgraf Karl Friedrich als wichtiges "Förderprogramm" für den Ackerbau und das Staatswesen insgesamt betrachtete.

Abb. 1: Der Verlauf des Rheins zwischen Basel und Mainz um 1800

Unter dem Einfluss des napoleonischen Frankreich

Die politisch so bewegte Zeit zwischen 1800 und 1815 kann in der Rückschau als die Vorbereitungsphase für das Unternehmen gelten, in der die wesentlichen politisch-institutionellen Bedingungen für die schließlich 1817 begonnene Durchsetzung gelegt wurden. Alle grundlegenden Entwicklungen standen, im Positiven wie im Negativen, unter dem Diktat oder zumindest dem beherrschenden Einfluss des napoleonischen Frankreichs. So bestimmte der Frieden von Lunéville (1801), dass der Rhein künftig sowohl Staats- wie auch Eigentumsgrenze sein sollte. Diese Regelung führte dazu, dass die betroffenen Gemeinden sich gegen die geplanten Rheindurchstiche vehement und letztlich auch erfolgreich wehrten, da ihnen das infolge der Durchstiche auf die andere Flussseite fallende Gelände ersatzlos verloren gegangen wäre.

Sehr förderlich hingegen wirkten für den Rheinbau die von Frankreich dekretierten bzw. inspirierten Staatsgebiets- und Verwaltungsreformen, aber auch der Wissenstransfer im Wasserbau von den Pariser Elitehochschulen nach Baden. Die Verwaltungsreformen auf französischer Seite, wo ab 1808 der Magistrat du Rhin die Alleinzuständigkeit für alle Rheinbauarbeiten besaß, waren dabei weniger umfangreich und bedeutsam als die in Baden durchgeführten. Dort ging zwischen 1803 und 1815 unter dem Einfluss Napoleons aus der alten Markgrafschaft, die um zahlreiche kleinere, früher selbständige Territorien ergänzt wurde, das Großherzogtum Baden als neuer Mittelstaat im deutschen Südwesten mit einem geschlossenen Staatsgebiet entlang des Rheins hervor. Zu den zahlreichen für die Förderung der Staatsintegration notwendigen Maßnahmen gehörte - neben der höchst bedeutsamen Rechtsvereinheitlichung - auch die maßgeblich von dem Oberst Tulla durchgeführte triangulatorische Vermessung des Staatsgebietes. Diese Entwicklungen schufen erst die Voraussetzungen für Rheinbauarbeiten in großem Stil.

Mit dem parallel dazu vorangetriebenen Auf- bzw. Ausbau der ab 1823 direkt dem Finanzministerium unterstellten, zentralisierten "Tiefbau-"Verwaltung, wurde ein effektiver Apparat wie auch eine einflussreiche Lobby zur Überwindung der zahlreichen Widerstände gegen die Rheinbegradigung geschaffen. Die 1807 von Tulla gegründete Ingenieursschule in Karlsruhe lieferte als erste Ausbildungsstätte für den Ingenieurnachwuchs qualifiziertes Personal.

Das Grundkonzept einer einheitlich durchgeplanten Begradigung im großem Stil wurde in dieser Zeit in Kreisen französischer Wasserbauingenieure diskutiert. Tulla, der für längere Zeit zu Fortbildungsaufenthalten an der Pariser Ecole polytechnique gewesen war, propagierte die Idee 1809 erstmals öffentlich. Damit waren konzeptionell und institutionell die entscheidenden Schritte über die früheren kleinräumigen Einzelmaßnahmen hinaus getan, die immer mit negativen Nebenfolgen für Nachbargemeinden verbunden gewesen waren. Noch allerdings konnte der "erste Spatenstich", der 1812 in der Gemeinde Knielingen - heute ein Stadtteil von Karlsruhe - geplant war, nicht ausgeführt werden. Zunächst blockierten die Einwohner der Gemeinde aus den oben genannten Gründen den Beginn der Arbeiten, ehe in der Folgezeit die kriegerischen Auseinandersetzungen ihre Realisierung verhinderten.

Unter den Bedingungen der konstitutionellen Monarchie musste das Parlament gewonnen werden

Die territorialen Veränderungen am Ende der napoleonischen Zeit führten dazu, dass das französische Staatsgebiet nur noch zwischen Lauterburg, südlich von Karlsruhe, und Basel den Rhein berührte. Trotz mancher Bemühungen um eine Fortsetzung der gemeinsamen Arbeiten an diesem Teil des Flusses stagnierte die Kooperation mit Frankreich auf längere Zeit. Die früheren, nicht realisierten Vorhaben für die Korrektionen nördlich von Karlsruhe wurden dagegen in Zusammenarbeit zwischen Baden und den Behörden Bayerns, zu dem das dortige linksrheinische Gebiet jetzt gehörte, seit 1817 zügig realisiert. Die Überschwemmungen und die europaweite Hungerkatastrophe im gleichen Jahr verschärften den akuten Handlungsbedarf, und so wurden auch die anhaltenden Widerstände der Knielinger Bauern gebrochen, wozu es allerdings eines Militäreinsatzes bedurfte.

Die Rahmenbedingungen für die Begradigung hatten sich inzwischen nicht nur in außenpolitischer Hinsicht grundlegend geändert. Die Abschaffung der Flussbaufron und die Einführung einer Flussbausteuer für die Anliegergemeinden 1816 brachte die Auflösung der feudalen Arbeitsverfassung beim Rheinbau, der fortan in Tagelöhnerarbeit durchgeführt wurde. Noch weit bedeutsamer war, dass die Wasserbaubehörden bzw. das ihnen vorgesetzte Ministerium seit der Einführung der konstitutionellen Monarchie in Baden 1818 die geplanten Arbeiten und die anfallenden erheblichen Kosten fortan nicht mehr nur verwaltungsintern rechtfertigen mussten, sondern auch in den Haushaltsberatungen der Zweiten Kammer der Landstände. Unter diesen Umständen musste in ganz anderem Maße als bis dahin um öffentliche Akzeptanz für die Rheinbegradigung geworben und ihr volkswirtschaftlicher Nutzen nachgewiesen werden. Tulla stellte sich dieser Herausforderung, hydrologisches Expertenwissen mit detaillierten Finanzkalkulationen zu verbinden, in seiner bekannten Schrift Über die Retification des Rheins von 1825; und mehrere seiner Nachfolger, insbesondere der spätere badische Finanzminister Max Honsell, sollten es ihm nachtun.

1817 erfolgte der erste Durchstich

Ab 1817 wurden innerhalb weniger Jahre die ersten sechs Durchstiche im Gebiet nördlich von Karlsruhe ausgeführt. Entscheidend für die zunehmende Akzeptanz gegenüber der Korrektion und ausschlaggebend für deren Fortsetzung wurde es, dass beim nächsten großen Hochwasser von 1824 die Gemeinden im Gebiet der Durchstiche von Überschwemmungen weitgehend verschont blieben. Damit verwandelten sich die früheren Widerstände vor Ort in vorbehaltlose Zustimmung. Ja, mehr noch: Die Behörden erhielten zahlreiche Bittschriften oder sogar Forderungen anderer Gemeinden, die ebenfalls entsprechende Durchstiche in ihrem Gebiet durchgeführt wissen wollten. Zum Teil allerdings mischten sich in diese Forderungen auch Vorwürfe, dass die bis dahin ausgeführten Durchstiche vermehrt Erdreich abgeschwemmt und so die 1824 aufgetretenen Überschwemmungen flussabwärts eher noch verschärft hätten. In der Tat förderte die Entscheidung, zunächst im südlichen Teil des badischen-pfälzischen Oberrheins mit den Arbeiten zu beginnen und nicht, wie es die zeitgenössische Wasserbaulehre empfahl "von unten her" in der Gegend zwischen Speyer und Mannheim mit ihrem zudem geringeren Gefälle, dort zunächst die Überschwemmungsgefahr.4

Um einen Durchstich auszuführen und eine Flussschlinge abzuschneiden, wurde das betreffende Gebiet vermessen, der geplante neue Flusslauf abgesteckt und ein Leitgraben ausgehoben, in den man den Fluss umleitete. Aus diesem Leitgraben schwemmte er dann mit eigener Kraft so lange weiteres Erdreich ab, bis das neue Flussbett ausgebildet war und befestigt werden konnte. Der für den neuen Flusslauf im Gebiet eines Durchschnittes benötigte Geländestreifen, der zuvor vielfach als Ackerland genutzt worden war, konnte ohne weiteres eine Größe von 3 km mal 300 m besitzen.

Der genaue Ablauf der Arbeiten auf den Großbaustellen an den Durchstichen, wo zeitweise bis zu 3000 Tagelöhner in Handarbeit gleichzeitig tätig waren, ist noch kaum erforscht. Die einzelnen Teilabschnitte wurden in einem Versteigerungsverfahren an private Unternehmer vergeben und von diesen unter Aufsicht der Behörden ausgeführt. Von den Rahmenbedingungen der Durchführung und der Arbeitsorganisation her erscheint die Rheinbegradigung rückblickend betrachtet als Probelauf für die Herausforderungen des Eisenbahnbaus gut zwanzig Jahre später.

Tulla, der "Bändiger des wilden Rheins"

Johann Gottfried Tulla (20. 3. 1770 bis 27. 3. 1828) wurde nach einer vielseitigen ingenieurwissenschaftlichen Ausbildung und ausgedehnten Studienreisen, die ihn u. a. zur Bergakademie Freiberg und nach Paris führten, 1797 als Ingenieur in den Dienst des badischen Markgrafen Karl-Friedrich übernommen. 1807 gründete er die Ingenieurschule in Karlsruhe, die 1825 in der Polytechnischen Schule aufging, dem Vorgänger der TH Karlsruhe. 1817 wurde Tulla zum Ober-Wasser- und Straßenbaudirektor ernannt, 1823 wurde ihm die gesamte badische Wasser- und Straßenbauverwaltung unterstellt. Neben seinen Arbeiten für die topographische Vermessung Badens, für die Einrichtung eines Pegelsystems am Rhein und seinen Nebenflüssen sowie für den Straßenbau widmete er sich ganz der Begradigung des Oberrheins. Mit zwei Denkschriften von 1812 und 1822 sowie der 1825 publizierten Abhandlung Über die Rectification des RheinsÉ2 begründete, berechnete und rechtfertigte er das Vorhaben. Dem bald nach seinem Tod schon legendären "Bändiger des wilden Rheins" wurden bereits im 19. Jahrhundert zwei Denkmäler errichtet, noch heute tragen zahlreiche Straßen und öffentliche Gebäude in Baden seinen Namen.3

Die wirtschaftlichen Interessen ganzer Dörfer und Städte waren betroffen

Nachdem die ersten Unruhen um die Korrektion nach einigen Jahren abgeklungen wären, kam es in den Jahren ab 1825 zu neuen, heftigen Kontroversen um die von Baden und Bayern in einer Konvention vom 14. 11. 1825 vereinbarte Fortsetzung der Korrektion. Vorgesehen war die Ausführung von 16 weiteren Durchschnitten. Dass auch jetzt wieder Konflikte um die Pläne aufbrachen, war insofern nicht verwunderlich, als ein Natureingriff von derartiger Dimension die Standorteigenschaften zahlreicher Privatgrundstücke, aber auch ganzer Dörfer und Städte tiefgreifend veränderte. Damit waren handfeste wirtschaftliche Interessen berührt, aber auch Grundsatzfragen der Stadt- und Regionalentwicklung und natürlich nicht zuletzt die Hochwasserproblematik. Während, wie schon angedeutet, die Dörfer am Rhein nach anfänglichen Protesten die Fortsetzung der Korrektion forderten, lehnten Mannheim und Speyer sie für das Gebiet des nördlichen Oberrheins rundweg ab. Insbesondere für Speyer hätte der geplante Durchschnitt eine Verlagerung des Rheins von der Stadt weg bedeutet und damit der Kommune den Status als Hafenstadt sowie die Vorteile aus der Schifffahrt und dem Handel genommen. Dass beide Städte letztlich - im Gegensatz zu den opponierenden Dorfgemeinden - ihre Interessen durchsetzen und die Ausführung der Korrektion in ihrem Umkreis verhindern konnten, kennzeichnet die unterschiedliche Durchsetzungsfähigkeit von Städten und Landgemeinden bzw. von Bauern und Bürgertum gegenüber den Plänen der Wasserbaubehörden. Wirtschaftliche Interessen der Städte konnten die Pläne der Wasserbaubehörden für Flussbegradigungen im 19. Jahrhundert entscheidend beeinflussen, wie auch spätere Beispiele weiter flussabwärts zeigen. So hat z.B. Preußen ähnliche Konzepte für den Niederrhein, die um 1850 unter den Wasserbauexperten der Rheinanliegerstaaten diskutiert wurden, auch mit Blick auf die Interessen seiner Städte kategorisch abgelehnt.

Ein Enteignungsgesetz zur Konfliktregulierung wurde notwendig

Ein weiteres Motiv für die Widerstände der Speyrer und Mannheimer Bürger war, dass sie erhebliche Wertverluste ihrer Grundstücke befürchteten, was wiederum auch den beiden Staaten nicht gleichgültig sein konnte. Baden musste schon mit den Dorfgemeinden im Gebiet der zuerst ausgeführten Durchschnitte einen langen, zähen Kampf um Entschädigungszahlungen für solche Werteinbußen von Grundstücken führen. Die gezahlten Summen waren zunächst relativ großzügig bemessen, unter anderem um die Gemeinden zur Aufgabe ihres Widerstandes zu bewegen. Ab 1826 wurden sie jedoch aus Kostengründen erheblich heruntergesetzt. Diese Sparmaßnahme blieb natürlich nicht unwidersprochen, zumal das Staatsministerium die Höhe der Entschädigungen weitgehend nach eigenem Ermessen festsetzen konnte. Die anhaltenden, geharnischten Proteste der Gemeinden gegen die als willkürlich kritisierten Festsetzungen führten schließlich zum Erlass des badischen Enteignungsgesetzes von 1835, das im Falle der Nichteinigung der Parteien eine gerichtliche Entscheidung vorsah.5

Das verstärkte Hochwasserrisiko flussabwärts führte zu außenpolitischen Verwicklungen mit Preußen

Die stärksten Widerstände gegen die Fortsetzung der Korrektion nach 1825 resultierten jedoch aus der "Risikodebatte" um die befürchtete Verschärfung der Hochwassergefahr flussabwärts, die sich über das ganze 19. Jahrhundert hinzog. Diese Debatte konzentrierte sich im Wesentlichen auf Befürchtungen über eine steigende Hochwassergefahr für das Gebiet zwischen Mannheim und Köln. Ihre besondere Brisanz erhielten diese Befürchtungen dadurch, dass sie vor allem von Preußen, aber auch von den Nie-derlanden geteilt wurden, die seit 1826 nachdrücklich ein Ende der Korrektion verlangten. Damit drohten Baden nun auch unangenehme außenpolitische Verwicklungen. Vor allem, so das Hauptargument Preußens, würden sich die Hochwasserspitzen des Rheins durch ihren schnelleren Abfluss zeitlich denen der Nebenflüsse annähern, sich damit quasi addieren und jedenfalls "Engpassgebiete" flussabwärts, wie vor allem vor dem Binger Loch, regelmäßig überfluten. Tulla und seine Mitarbeiter bestritten zwar offiziell diese - von Tulla selbst im internen Schriftverkehr als teilweise zutreffend bezeichneten - Prognosen.

Die Widerstände der Bürger vor Ort und von Seiten Preußens enfalteten jedoch, so unterschiedlich motiviert sie auch waren, zusammen genügend politischen Druck, um noch zu Tullas Lebzeiten 1827 einen vorläufigen Baustop herbeizuführen.

Nach langen, zähen Verhandlungen der Rheinanliegerstaaten einigte man sich schließlich 1832 auf einen Kompromiss. Dieser entsprach den Wünschen Mannheims und Speyers und wurde nach anfänglichem Widerstand auch von Preußen und Hessen stillschweigend akzeptiert: Die Flussschlingen im Gebiet dieser beiden Städte wurden nicht durchschnitten und damit eine Schädigung der Grundbesitzer wie auch der Schifffahrts- bzw. Handelsinteressen der Städte vermieden. Preußen seinerseits erwartete vom Erhalt des alten Flussverlaufs, dass die gestiegene Hochwassergefahr, von der man weiterhin ausging, im Wesentlichen bereits in diesem Gebiet vor dem "Engpass" bei Mannheim zu Überschwemmungen führen würden, so dass die Gefahr für die preußischen Gegenden flussabwärts entschärft wäre. Baden und Bayern beurteilten diese Zusammenhänge als weniger brisant. Sie waren im Übrigen gezwungen, eine einvernehmliche Lösung anzustreben. Die noch zwischen 1825 und 1827 verfolgte Strategie, Korrektionen auch gegen den erklärten Willen der anderen Uferstaaten durchzuführen, war nämlich seit Inkrafttreten der Mannheimer Schifffahrtsakte von 1831 kaum mehr gangbar. Der Artikel 18 der Schifffahrtsakte verlangte explizit die Zustimmung der anderen Rheinanliegerstaaten zu Korrektionsmaßnahmen.6

Landgewinne am südlichen Oberrhein förderten dort die Akzeptanz

Die zweite Phase der Rheinbegradigung auf dem südlichen, dem badisch-französischen Abschnitt begann 1840, gut zwei Jahrzehnte nach Ausführung der ersten Durchschnitte. Den Startschuss setzte der Vertrag zwischen Baden und Frankreich vom 5. April 1840, der die über 20 Jahre lang diskutierten und ausgemessenen Grenzlinien festlegte. Die Staatsgrenze blieb der Thalweg, der jährlich durch eine gemischte Kommission festzulegen war, die Eigentumsgrenzen wurden in einem ausführlichen Protokoll festgehalten.7 Erstmals verpflichteten sich nun beide Staaten vertraglich, nur noch Rheinbauarbeiten defensiver Natur durchzuführen. Vor allem aber wurde ein gemeinsames Regulierungsprogramm beschlossen. Entscheidend für die Einigung war wohl, dass nun auch die französische Regierung die Möglichkeit enormer Landgewinne gerade am südlichen Oberrhein sah. Seit diesem Jahr trat jährlich eine gemischte Kommission von Ingenieuren zusammen, um über die Ausführung der einzelnen Bauabschnitte zu beraten.

Im Gegensatz zur nördlichen "Mäanderzone" mussten in der südlichen "Furkationszone" wegen des gänzlich anderen Flussprofils kaum Durchstiche angelegt werden. Zwar kam es dort infolge der Einengung des Flussbetts zur Abschwemmung einer Reihe kleinerer Inseln zwischen den zahlreichen Stromarmen, für die die Anliegergemeinden als Eigentümer jedoch aus dem Verlandungsgebiet entschädigt werden konnten. Diese Aussicht auf nicht unerhebliche Landgewinne hat größere Proteste von Dorfgemeinden am südlichen Teil des Oberrheins gar nicht erst aufkommen lassen. Nicht nur, dass hier kaum Durchschnitte durch wertvolles Ackerland erfolgen mussten, sondern auch, dass der Vertrag von 1840 das neu gewonnene Land grundsätzlich den Uferanliegern, das hieß vor allem den Gemeinden zusprach, förderte die Akzeptanz nachhaltig. So gewann zum Beispiel die südbadische Gemeinde Istein, gelegen an einer der Schifffahrt höchst gefährlichen Stelle des Rheins, schon zwischen 1852 und 1861 8,7 ha Land, bis 1890 konnten weitere 36 ha früheres Wiesen- und Waldland für den Ackerbau in Nutzung genommen werden. Die elsässischen Gemeinden, die über einigen Grundbesitz auch am rechten Rheinufer verfügten, gewannen bis 1883 dort insgesamt über 450 ha Verlandungsfläche aus dem ehemaligen Flussgebiet.8

Negative Folgen für Artenvielfalt und Fischerei

Im Gegensatz zu den Landgewinnen, die im Mittelpunkt des Interesses aller Beteiligten standen, wurde der Rückgang und Wandel in der Artenvielfalt von den Zeitgenossen zwar registriert, aber kaum diskutiert. Dass sich mit der Trockenlegung der Auenlandschaft, bis dahin eines der artenreichsten Ökosysteme Mitteleuropas, die Wasser- und Röhrichtvegetation tiefgreifend veränderte und zahlreiche Tierarten wie z.B. Biber, Schwarzstörche und Fischadler verschwanden, erregte noch weniger Aufmerksamkeit als die Auswirkungen auf die Fischerei. Hier reduzierten natürlich die mit der Korrektion bewirkten Trockenlegungen die Zahl und die räumliche Ausdehnung der Laichplätze ganz einschneidend, und die höhere Abflussgeschwindigkeit beeinträchtigte die Wanderungs- und Lebensbedingungen der Fische. Vor allem die Bestände

an strömungsliebenden Arten wie Stör, Meerforelle, Barbe und der begehrte Lachs gingen in der Folgezeit zurück. Allerdings war die badische Regierung recht erfolgreich in Ihren Bemühungen zum Erhalt des Lachses für die Fischer am Oberrhein. Seit 1841 schloss sie verschiedene Verträge mit den anderen Anliegerstaaten zum Schutz der Lachse ab und förderte die Zucht unter anderem in einer staatlichen Zuchtanstalt. Dass die Berufsfischer zum Teil an den Altrheinarmen sehr ertragreiche neue Standorte fanden und andererseits zeitweise Fischerdörfer in großem Umfang Lohnarbeiter für die Korrektionsarbeiten am Rhein abstellten und entsprechende Einnahmen erzielten, hat die ökonomischen Folgelasten des Landschaftswandels sozusagen sozialverträglich abgefedert.9

In anderer Hinsicht haben die Dörfer am Rhein noch stärker von den Korrektionen profitiert. So konnten z.B. einige der als erste von Durchschnitten betroffenen Gemeinden nach langjährigen Auseinandersetzungen schließlich im Umfeld der Revolution von 1848 die Zahlung erheblicher Entschädigungssummen durchsetzen. Ein ausgeprägtes Gewinnstreben verrät auch die Strategie mancher Ufergemeinden am südlichen Oberrhein, für ihr durch den staatlichen Flussbau neu gewonnenes Land eine besondere Entschädigung zu verlangen, sobald der Staat es vorübergehend für weitere Flussbauten, z.B. zur Lagerung von Baumaterialien, nutzen wollte. Um solchen den Flussbau zusätzlich verteuernden Forderungen einen Riegel vorzuschieben, hat Baden mit einem Gesetz von 1856 von allen durch Flussbauten erzielten Landgewinnen einen Uferstreifen von 300 Fuß, d.h 100 m Breite grundsätzlich für sich in Anspruch genommen.10

Das zähe - und aus Sicht der Rheinanwohner recht erfolgreiche - Ringen um das neugewonnene Land zeigt nur einen von mehreren Teilaspekten des "Landhungers" mit dem die Wasserbau-Ingenieure im Verlauf des 19. Jahrhunderts erhebliche Probleme bekamen. Die Behörden waren zunehmend konfrontiert mit "Einschnürungen der Fluthprofile, wie sie sich durch Zufahrten zu den Rheinbrücken, durch Festungswerke und Hafenanlagen ergeben haben" sowie mit zahllosen "Wünschen und Anträgen auf Hinausrücken der Deiche gegen den Rhein, (...) auf Überbauung der Vorländer u. dglÉ".11 Hatte man früher das Überschwemmungsgebiet des Rheins mit erheblichen Mitteln einzugrenzen versucht, sahen sich die badischen Behörden nach dem Hochwasser von 1882 wieder zu dessen Ausweitung veranlasst und legten im Gebiet südlich von Straßburg die Uferbauten wieder niedriger.

Den Oberrhein schiffbar gemacht:
Max Honsell
(10. 11. 1843-1. 7. 1910) war
als Wasserbauingenieur, Direktor der badischen Wasser- und Straßenbaudirektion (ab 1899) und Planer der "Regulierung" des Oberrheins zwischen Straßburg und Sondernheim für die Schifffahrt (ausgeführt ab 1907) ein kongenialer Nachfolger Tullas. 1906 wurde er zum badischen Finanzminister ernannt. Honsell war in den 1860er Jahren noch als junger Ingenieur bei den abschließenden Korrektionsarbeiten im Mannheimer Raum tätig und verteidigte das Werk Tullas in mehreren Veröffentlichungen gegen die heftige zeitgenössische Kritik. Er war maßgeblich an der Einrichtung des badischen Zentralbureaus für Meteorologie und Hydrologie (1883) beteiligt, der Pionierinstitution der wissenschaftlichen Gewässerkunde in Deutschland. Die von Honsell entworfene Niederwasserregulierung verbesserte die Schiffbarkeit des Oberrheins bis Straßburg entscheidend und machte die Realisierung von Plänen zum Bau eines Kanals parallel zum Rhein zwischen Straßburg und Speyer überflüssig. In seine Amtszeit als Finanzminister fallen eine Reform der Beamtenbesoldung und Sparmaßnahmen zur Sanierung des Staatshaushaltes.

Die Neuordnung der Flussverläufe bescherte Mannheim den Industriehafen

In den 1860er und 1870er Jahren wurde die Korrektion mit einer Reihe bedeutender Teilprojekte zum Abschluss gebracht, die wegen der früheren Kontroversen teilweise jahrzehntelang aufgeschoben worden waren. Dazu gehörten vor allem der Altriper und der Friesenheimer Durchschnitt südlich und nördlich von Mannheim. Letzterer war Teil einer umfassenden Neuordnung der Flussverläufe rund um Mannheim, bei der auch die Einmündung des Neckars in den Rhein verlegt wurde. Die mit dem Friesenheimer Durchschnitt abgeschnittene Altrheinschlinge wurde in der Folgezeit zum Industriehafen Mannheims ausgebaut, der den steilen wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt ganz wesentlich beförderte. Etwa zur gleichen Zeit wie am Rhein kamen auch die umfangreichen Korrektionsarbeiten an den Nebenflüssen zum Abschluss.

Die Hochwasserdiskussion flammte nach Ende der Oberrheinkorrektion heftig auf

Exakt im Jahr 1876, als die Oberrheinkorrektion nach insgesamt fast sechzigjähriger Bauzeit mit der Durchführung der Arbeiten am letzten Teilabschnitt bei Istein erfolgreich abgeschlossen wurden, flammten die Diskussionen über ihre nachteiligen Folgewirkungen erneut auf. Auslöser war das in diesem Jahr eintretende Hochwasser, dem 1882/83 ein noch weit verheerenderes "Jahrhunderthochwasser" am Rhein folgte. Die erregten öffentlichen Debatten, in denen vor allem die Überschwemmungen am hessischen Rhein vielfach als eine Folge der Korrektion flussaufwärts bezeichnet wurden, gipfelten in kontroversen Reichstagsdebatten und 1883 in der Einsetzung einer Kommission des Reichstages, die die "Stromverhältnisse" untersuchen und die Vorwürfe klären sollte. Die führenden Wasserbauexperten in der Nachfolge Tullas inner- und außerhalb Badens, unter ihnen der spätere Direktor der Wasser- und Straßenbaudirektion und badische Finanzminister Max Honsell, sahen sich mit einer weitverbreiteten, grundsätzlichen Kritik an der Korrektion und am herrschenden System im Wasserbau insgesamt konfrontiert. Diese Kritik ging so weit, dass die Kompetenz der Fachleute grundsätzlich in Zweifel gezogen und die systematische Einbeziehung von Laien vor Ort in die Entscheidungen über einzelne Vorhaben gefordert wurde. Zeitweilig war viel die Rede vom notwendigen Übergang zu einem neuen, "modernen Wasserbau", der unter anderem den Verzicht auf weitere Flussbegradigungen, die Anlage von Rückhaltereservoirs in den Bergen und einen Stopp der Abholzung der Berghänge umfassen und an die Stelle der "alten Lehre" treten solle.12

Die badischen Wasserbaubehörden und ihre Kollegen in den anderen Rheinanliegerstaaten reagierten auf die Hochwassererscheinungen und die geballte Kritik mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen, die sich mittel- und langfristig als recht erfolgreich auch bei der Besänftigung der öffentlichen Meinung erweisen sollten. Dazu gehörten zunächst die unmittelbar der Hochwasserprävention dienenden Maßnahmen eines verstärkten Dammbaus, einer Ausweitung der Überflutungsräume und die Einrichtung eines telegraphischen Hochwassernachrichtendienstes. Dabei bewährte sich eine kurz vor Eintritt der wiederholten Hochwasser im Jahr 1875 durchgeführte Reorganisation der Wasserbaubehörden, die den Flussbau von den kleinräumigen Wasser- und Straßeninspektionen abtrennte und drei große Rheinbauinspektionen einrichtete. Eine ausgesprochen positive Resonanz in der Öffentlichkeit fanden die Publikationen über Verlauf und Ursachen der Hochwasser von Max Honsell, der auch als Mitglied der oben genannten Reichstagskommission deren Urteile wesentlich beeinflusste und die Redaktion des Schlussberichts übernahm.

Die bedeutsamste Initiative, die als Reaktion auf die Hochwasser und den Streit um ihre Ursachen eingeleitet wurde, bildete die Einrichtung des 1883 gegründeten badischen Zentralbureaus für Meteorologie und Hydrographie. Das Büro war die erste wissenschaftliche Zentralbehörde für Gewässerkunde im Deutschen Reich. Sie untersuchte in der Folgezeit grundlegende hydrographische Fragen und Probleme weit über Baden hinaus und publizierte eine lange Reihe von Büchern dazu. Daneben initiierte das Büro unter anderem eine Reform des Pegelwesens am Rhein, gab die sehr populären täglichen Wetterberichte heraus und wurde zum Vorbild ähnlicher Institutionen unter anderem in Preußen und Österreich.

Von der Korrektion zu Regulierung: um die Schiffbarkeit des Oberrheins

Bereits bald nach den letzten Arbeiten an der von Tulla entworfenen Begradigung begannen die ersten Planungen für eine "Regulierung" des Oberrheins, die manche Parallele zu dem Korrektionsvorhaben aufwies und diese in gewisser Hinsicht vollendete. Die von Max Honsell und dem elsässischen Wasserbaudirektor Willgerodt projektierte Regulierung setzte an einem zentralen Problem an, das das Tullasche Projekt nicht gelöst, ja zum Teil sogar noch verschärft hatte: die mangelnde Schiffbarkeit des Oberrheins für die Großschifffahrt. Diese blieb oberhalb von Mannheim aufgrund der zahlreichen, infolge starker Strömung ständig "wandernden" Kiesbänke einerseits und einer ungenügenden Tiefe der Fahrrinne bei Niedrigwasser andererseits sehr gefährlich, ja praktisch unmöglich. Es gab zwar Vorschläge, eine Vertiefung und Sicherung der Fahrrinne mit Bauten im Fluss, den sogenannten Buhnen und Grundschwellen, zu erreichen, die allerdings den wirtschaftspolitischen Zielen der badischen Regierung entgegenliefen. Diese wollte die beherrschende und gewinnträchtige Stellung von Mannheim als Hauptumschlagplatz vom Schiff auf die Eisenbahn erhalten.

Erst als Alternativpläne zum Bau eines Kanals zwischen Straßburg und Speyer bzw. Ludwigshafen, die insbesondere von Straßburg und einem Speyrer Kanalkomitee propagiert wurden, schon recht weit gediehen waren, änderte die badische Regierung ihre Haltung. Nicht zuletzt wegen seiner deutlich geringeren Kosten und kürzeren Bauzeit wurde die Regulierung der Kanallösung vorgezogen und schließlich ab 1907 durchgeführt. Sie erwies sich als voller Erfolg: In der nunmehr tieferen Fahrrinne verkehrten schon 1913 Schleppzüge nach Straßburg, das vorübergehend zum neuen Endpunkt der Großschifffahrt wurde, bevor diese in den folgenden Jahrzehnten weiter flussaufwärts bis Basel vordrang. "Mit der Oberrheinregulierung hat Honsell für den Wasserverkehr das geleistet, was Tulla durch seine Rheinkorrektion für die Landeskultur getan", hob der Biograph Honsells die beiden großen im 19. Jahrhundert entworfenen Flussbauunternehmen am Rhein und ihre Schöpfer auf eine Stufe.13

Eine Bilanz

Einige Zahlen, die von Tullas Nachfolgern nach dem Abschluss der Arbeiten am Ende des 19. Jahrhunderts zusammengestellt wurden, können die Größenordnung des Vorhabens noch einmal summarisch veranschaulichen: Danach betraf die Korrektion von der Schweizer bis zur hessischen Grenze insgesamt eine Überschwemmungsfläche von über 66000ha, von denen bis 1883 knapp 19000ha höherwertig genutzt werden konnten als zuvor (also z.B. als Ackerland statt als Wald). Von den etwa 10000 ha früherer Überflutungsfläche, die trockengelegt werden sollten, waren bis zu diesem Zeitpunkt bereits über zwei Drittel verlandet. Die Wertverbesserung des Bodens wurde auf 34 bis 39 Mio. M. geschätzt. Die Investitionen in den Flussbau am Oberrhein waren kaum präzise zu erfassen, lagen jedoch mit Sicherheit deutlich höher als diese Summe. Sie umfassten allerdings auch langfristig wirksame Maßnahmen wie etwa die Steindeckung der Ufer. Ein weiterer, noch weniger zu quantifizierender Effekt war die unbezweifelbare Verbesserung der Gesundheitsverhältnisse in den Uferregionen, wo Malaria und Typhus deutlich zurückgingen.14

Diese Zahlen wurden von den Zeitgenossen - sicher zu Recht - als Erfolgsbilanz des Unternehmens interpretiert. Sie stehen in einem gewissen Kontrast zu Stimmen aus neuerer Zeit, die andere Aspekte wie etwa den Rückgang der Artenvielfalt und die Hochwassergefahr stärker betonen. Wenn heute mit der Hochwasser-, aber auch der Grundwasserfrage und dem Problem der Überschwemmungsflächen Kernpunkte des Tullaschen Korrektionskonzeptes politisch wieder brisant geworden sind und in manchem eine Umkehr und Revision seiner Grundintentionen eingeleitet ist, so lässt sich daraus dennoch nicht automatisch eine uneingeschränkte Negativbilanz des Vorhabens ableiten. Schon weil, um nur zwei Aspekte zu benennen, das Projekt in den von Hungerkrisen und Hochwasserkatastrophen geschüttelten Regionen zweifellos sozialpolitisch erfolgreich wirkte und dabei dem Fluss noch erheblich größere Überschwemmungsflächen gelassen wurden als bei den späteren Ausbaumaßnahmen am Oberrhein - insbesondere beim Bau des Rheinseitenkanals im 20. Jahrhundert -, scheint die Diskussion um die Bewertung der Oberrheinbegradigung noch nicht entschieden.

Literaturhinweise

1) Heinz Musall: Die Entwicklung der Kulturlandschaft der Rheinniederung zwischen Karlsruhe und Speyer vom Ende des 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 1969, S. 151ff.

2) J. G. Tulla: Über die Rektifikation des Rheins, von seinem Austritt aus der Schweiz bis zu seinem Eintritt in das Großherzogtum Hessen. Karlsruhe 1825.

3) Vgl. zur Biographie Tullas Hans Georg Zier: Johann Gottfried Tulla. Ein Lebensbild, in: Badische Heimat 50, 1970, S. 379-465; Arthur Valdenaire: Das Leben und Wirken des Johann Gottfried Tulla, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N.F. Bd. 42 (1929), S. 337-364 u. 588-616.

4) Vgl. Christoph Bernhardt: Zeitgenössische Kontroversen über die Umweltfolgen der Oberrheinkorrektion im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 146. Bd. 1998, S. 293-320, hier S. 305f.

5) Henrik Froriep: Rechtsprobleme der Oberrheinkorrektion im Großherzogtum Baden (Diss. Jur. Mainz 1953, masch.), S.109ff.

6) Vgl. Bernhardt: Zeitgenössische Kontroversen, S. 306ff.

7) Max Honsell: Die Korrektion des Oberrheines von der Schweizer Grenze unterhalb Basel bis zur Großh. Hessischen Grenze unterhalb Mannheim, insbesondere der badische Anteil an dem Unternehmen, Karlsruhe 1885, S. 17.

8) Erich Unterseher: Istein - vom Fischerdorf zum Rebbau- und Bergbaudorf, in: Werner A. Gallusser/André Schenker (Hgg.): Die Auen am Oberrhein. Ausmaß und Perspektiven des Landschaftswandels am südlichen und mittleren Oberrhein seit 1800. Eine umweltdidaktische Aufarbeitung, Basel/Boston/Berlin 1992, S. 92-102, hier S. 92; Honsell: Die Korrektion, S. 68.

9) Götz Kuhn: Die Fischerei am Oberrhein. Geschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Stand, Stuttgart 1976, S. 72ff.

10) Froriep: Rechtsprobleme, S. 125ff.

11) Der Rheinstrom und seine wichtigsten Nebenflüsse von den Quellen bis zum Austritt des Stromes aus dem Deutschen Reich, hg. von dem Centralbureau für Meteorologie und Hydrographie im Großherzogtum Baden. Berlin 1892, S. 239.

12) Vgl. dazu R. Fuchs: Dr. ing. Max Honsell. Groß. Bad. Baudirektor und Finanzminister, Karlsruhe 1912; Bernhardt: Zeitgenössische Kontroversen, S. 313ff.

13) Fuchs: Dr. ing. Max Honsell, S. 66; vgl. auch ebd., S. 59ff.

14) Das Vorstehende nach Honsell: Die Korrektion, S. 68ff.

Wasser

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