Zeitschrift 

Islam und 
Globalisierung


 

Heft 2/3/ 2003


Hrsg.: LpB



 

Inhaltsverzeichnis

  Jenseits globaler Trends
 

Zur Bedeutung der israelisch-amerikanischen Allianz für das palästinensische Herrschaftssystem

Von Martin Beck

 

Dr. Martin Beck ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard-Karls- Universität Tübingen. Von 1990 bis 2000 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Vorderer Orient, wo er 1993 promovierte und 2001 habilitierte. Seit zweieinhalb Jahren hat er eine außerordentliche Gastprofessur an der Universität von Birzeit (Palästina) inne. 

Zugleich ist Martin Beck Repräsentant des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Ostjerusalem. 

 

Seit dem Sechstagekrieg (1967) ist die Herrschaft in den palästinensischen Gebieten durch die israelische Besatzung bestimmt. Dieses Herrschaftssystem zeichnet sich durch autoritäre, nicht aber demokratische Strukturen aus. Und es ist jenseits aller globalen Trends resistent gegenüber der Selbstbestimmung der Palästinenser und der Demokratisierung von Herrschaft. Eine zentrale Erklärung für diese abweichende Entwicklung von globalen Trends besteht darin, dass die amerikanische Diplomatie verhindert hat, dass Israel unter internationalen Druck geriet, die Besatzungsherrschaft zu beenden. Mehr noch: Die amerikanische Politik blockierte alle Versuche der Vereinten Nationen und der Europäischen Union, dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung in den palästinensischen Gebieten zum Durchbruch zu verhelfen. Martin Beck untersucht die Sonderentwicklung der palästinensischen Gebiete im Lichte der fünf wichtigsten Denkschulen der Internationalen Beziehungen. Sorgsam und nüchtern abwägend kommt er zu dem Schluss, dass die betont illusionslose Denkschule des Realismus wohl am besten Erklärungen für die Bedeutung der israelisch-amerikanische Allianz und deren Auswirkungen anzubieten vermag. 

Red.

Geringe Teilhabe des Vorderen Orients an globalen Trends  

Von wenigen Ausnahmen abgesehen findet im Vorderen Orient1 im Unterschied zu anderen Weltregionen Globalisierung primär auf der Ebene des Diskurses, kaum aber in den Kernbereichen Ökonomie und Kommunikation statt (Beck 2001a; Hegasy 2001).2 Auch die Teilhabe des Vorderen Orients an “globalen Trends”, die die Grenzen der Globalisierungsforschung im engeren Sinne überschreiten, ist gering. So ist der Vordere Orient die einzige Weltregion, die von der “Dritten Welle der Demokratisierung” (Huntington 1991), die 1974 mit der so genannten Nelkenrevolution in Portugal ihren Ausgang nahm und sich in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts weltweit ausbreitete, nicht erfasst wurde und mit Israel überhaupt nur eine Demokratie hervorgebracht hat. Die Herrschaft in den palästinensischen Gebieten stellt für die Resistenz des Vorderen Orients von globalen Trends zwar kein repräsentatives, aber ein vielbeachtetes und erklärungsbedürftiges Beispiel dar. Seit der israelischen Eroberung Ost-Jerusalems, des Westjordanlandes und des Gazastreifens im Rahmen des Sechstagekrieges im Juni 1967 ist die Herrschaft in diesen Gebieten durch ein Besatzungsregime bestimmt. Diese dezidiert autoritäre, auf militärische Mittel gestützte Herrschaftsform widerspricht dem Prinzip nationaler Selbstbestimmung und den Normen demokratischer Herrschaft. Damit weicht der Charakter des politischen Systems in den palästinensischen Gebieten nicht nur vom Trend zur Demokratisierung, sondern auch von jenem der Dekolonisierung von Herrschaft ab.

 

Sonderentwicklung und Internationale Beziehungen 

Wie erklärt sich die Sonderentwicklung in Palästina? Es wird zu zeigen sein, dass lokale und regionale Faktoren allein keine befriedigende Erklärung leisten können, weshalb es sich der vorliegende Beitrag zum Ziel setzt, einen Erklärungsbeitrag zu finden, der Einflüsse des internationalen Systems betont. Konkret geht es darum, die diplomatische Unterstützung Israels durch die USA, die eine Tolerierung des Besatzungsregimes mit einschließt, zu erklären. Hierfür sollen die fünf wichtigsten Denkschulen der Internationalen Beziehungen (Realismus, Institutionalismus, Globalismus, Liberalismus und Konstruktivismus) herangezogen werden. Können sie verständlich machen, weshalb die USA Israel über Jahrzehnte diplomatische Unterstützung bei dessen Unterfangen gewährt haben, das Besatzungsregime aufrecht zu erhalten? Die Bearbeitung dieser Frage soll dazu beitragen, ein Forschungsdefizit zu beheben: Zwar gibt es unzählige Untersuchungen sowohl zur Herrschaft in den palästinensischen Gebieten als auch zur amerikanischen Politik im Nahen Osten3. Erstere konzentrieren sich aber auf die unmittelbare Rolle der israelischen Besatzung, und letztere vernachlässigen häufig die israelische Besatzung Palästinas oder sind von einer normativen (häufig pro-palästinensischen oder pro-israelischen) Perspektive geprägt, während im vorliegenden Beitrag eine nüchterne, theoretisch fundierte empirisch- analytische Sichtweise anzulegen versucht wird. Konkret soll ein Beitrag zur Anbindung der Forschung über die herrschaftspolitische Sonderentwicklung der palästinensischen Gebiete an die Debatte in den Internationalen Beziehungen geleistet werden.4

 

Die fremdbestimmte und autoritäre Herrschaft in Palästina

Die Präsenz der israelischen Armee in den palästinensischen Gebieten besaß von Anfang an bestenfalls geringe Legitimität bei der betroffenen palästinensischen Bevölkerung. Konnte freilich die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir 1969 noch mit gewisser Berechtigung darauf hinweisen, dass es 1967 kein palästinensisches Volk gab, sollte sich dies schnell ändern (vgl. Asseburg 2002, S. 87). Als Resultat der verheerenden Niederlage im ersten israelisch- arabischen Krieg 1948/49 hatte sich bei der in die arabischen Nachbarländer exilierten palästinensischen Elite die dominante Ideologie herausgebildet, dass eine befriedigende Bearbeitung des Konflikts mit Israel nur im panarabischen Rahmen möglich sei. Hingegen hatte die von Jassir Arafat Ende der 1950er Jahre aufgebaute Fatah-Bewegung, die von Anfang an auf einen palästinensischen Nationalismus setzte, ein Schattendasein geführt (Baumgarten 1991, S. 150f.). Mit der katastrophalen Niederlage Ägyptens und Syriens im Sechstagekrieg 1967 verlor die Vision des Panarabismus aber ihre Glaubwürdigkeit. Die Fatah vermochte das entstehende ideologische Vakuum rasch auszufüllen und eine hegemoniale Position innerhalb der 1964 gegründeten Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) einzunehmen. Zu deren Vorsitzenden wurde Arafat, der dieses Amt bis heute innehält, bereits 1969 gewählt. Dies war die institutionelle Voraussetzung für den palästinensischen Nationalbildungsprozess, der Mitte der 1970er Jahre bereits weitgehend abgeschlossen war. 1972 konnte Israel mit seinem Versuch, durch Kommunalwahlen seiner Herrschaft eine rudimentäre Legitimation zu verleihen, noch insofern reüssieren, als diese von der PLO boykottiert und von traditionalen jordanischen Notabeln gewonnen wurden, die zu einer pragmatischen Zusammenarbeit mit Israel bereit waren. Vier Jahre später trugen aber PLO-loyale Kräfte den Sieg davon, woraufhin Israel das Experiment abbrach und seitdem von allen Versuchen demokratischer Legitimationsbeschaffung für die Besatzungsherrschaft absah. Das Wahljahr 1976 markiert den entscheidenden Schritt im palästinensischen Nationalbildungsprozess, da sich von nun an eine klare Mehrheit der palästinensischen Gesellschaft zu einer Organisation bekannte, die ihre Legitimität dezidiert auf das Recht der nationalen Selbstbestimmung für das palästinensische Volk zurückführte und die Errichtung eines unabhängigen Staates anstrebte (Sahliyeh 1988, Kap. 3-4).5 

Im Rahmen der “Prinzipienerklärung über vorübergehende Selbstverwaltung”6, die die Grundlage des Osloer Vertragswerkes von 1993 bildete, erkannte auch Israel die Existenz des palästinensischen Volkes an. Die Regierung unter Führung von Ministerpräsident Yitzhak Rabin zog daraus freilich nicht die Konsequenz, die israelische Fremdherrschaft zu beenden, vielmehr wurde sie nur modifiziert, ohne das Ziel der Bildung eines palästinensischen Nationalstaates festzuschreiben. Selbst zu den Hochzeiten des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses Mitte der 1990er-Jahre verblieb der größte Teil der palästinensischen Gebiete, die so genannte Zone C, unter alleiniger israelischer Kontrolle. Kurz vor Einsetzung der “Palästinensischen Autonomiebehörde” wurden zudem noch massive Mobilitätsbeschränkungen eingeführt. Im Rahmen der Abriegelungspolitik wurde in den besetzten Gebieten ein Netz von Checkpoints installiert, das die Bewegungsfreiheit für Menschen und Güter zwischen den Gebieten A und B, den palästinensischen Städten bzw. Dörfern, in die Entscheidungshoheit Israels stellte.

 

Autoritäre Strukturen wurden lediglich modifiziert 

Auch die autoritären Strukturen des Herrschaftssystems in den palästinensischen Gebieten wurden lediglich einer Modifikation unterzogen, nicht aber in demokratische transformiert. Diese Feststellung mag auf den ersten Blick überraschen, denn die Bestellung der Palästinensischen Autonomiebehörde erfolgte 1996 durch freie Wahlen, die weitgehend demokratischen Standards genügten (Asseburg/Perthes 1996; Baumgarten 1996). Freilich nahm das politische System in den Jahren nach der Wahl keine demokratische, sondern eine autoritäre Entwicklung, wofür die Präferenzen der palästinensischen Elite um Arafat, die israelische Besatzungspolitik und ferner die Politik der westlichen Staatengemeinschaft verantwortlich waren (Beck 2002a, Kap. 5). Der entscheidende Grund dafür, dass das politische System grundsätzlich nicht als demokratisch zu kennzeichnen ist und Palästina sich von Beginn an zu keinem demokratischen Gemeinwesen entwickeln konnte, besteht freilich darin, dass den demokratisch gewählten politischen Institutionen Palästinas im Rahmen des Osloer Vertragswerkes wesentliche jener Kompetenzen nicht übertragen wurden, die notwendig sind, damit eine Regierung eine demokratische Herrschaft ausüben kann. Oben ist bereits auf eine substanzielle Souveränitätseinschränkung der Palästinensischen Autonomiebehörde hingewiesen worden: Die Mobilität von Menschen und Gütern zwischen den kleinen “Autonomieinseln” wird von Israel kontrolliert. Weiterhin wurde der Palästinensischen Autonomiebehörde keine Kontrolle über Außengrenzen gewährt, so dass über alle palästinensischen Importe und Exporte sowie die Ein- und Ausreise von Palästinensern von Israel entschieden wird. Außerdem übt die Palästinensische Autonomiebehörde auch in den Gebieten A und B keine Jurisdiktionsgewalt über Israelis aus, so dass Übergriffe von israelischen Siedlern gegen Palästinenser und Palästinenserinnen selbst dann von der Palästinensischen Autonomiebehörde nicht geahndet werden können, wenn sie auf “ihrem” Territorium begangen werden. Schließlich ist es der Palästinensischen Autonomiebehörde nicht möglich, eine kohärente Entwicklungspolitik zu betreiben, da wesentliche Teile der Infrastruktur, insbesondere das gesamte Straßennetz jenseits der Autonomieinseln, sowie ein Großteil der Ressourcen, insbesondere Wasser und Land, auf Gebieten der Zone C liegen. Der Grad, zu dem Israel von den ihm durch das Osloer Vertragswerk gewährten Privilegien Gebrauch machte, unterlag periodischen Schwankungen, war aber insgesamt so prägend für die politische Entwicklung in den palästinensischen Gebieten, dass die Rolle der Autonomiebehörde zu keiner Zeit die einer Partnerin in einem Kondominium, das heißt einer zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde geteilten Herrschaft, überschritt.7 Da aber nur die Palästinensische Autonomiebehörde die Potenziale für eine demokratische Herrschaft besaß, während der israelischen Besatzungsmacht hierfür alle Voraussetzungen fehlten, konnte im Rahmen des Kondominiums kein demokratisches System entstehen.

 

Das Herrschaftssystem widerspricht globalen Trends

Es ist gezeigt worden, dass die Entwicklung des palästinensischen Herrschaftssystems zwei globalen Trends widerspricht: der Selbstbestimmung und der Demokratisierung von Herrschaft. Freilich lässt sich wohlbegründet argumentieren, dass auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts fremdbestimmte und autoritäre Herrschaftssysteme keine Seltenheit darstellen. So hat der arabische Vordere Orient keine einzige Demokratie hervorgebracht. In Saudi-Arabien sind Freiheits- und Gleichheitsrechte in höherem Maße als in den palästinensischen Gebieten eingeschränkt, und im Irak werden Oppositionsgruppen in stärkerem Maße als in Palästina unterdrückt. Weiterhin gibt es etliche Völker, im Vorderen Orient insbesondere die Kurden, denen das Recht auf Selbstbestimmung verwehrt wird. Um es an einem extremen Beispiel zu verdeutlichen: Obwohl kaum ein Zweifel daran bestehen kann, dass Israel bei seiner Invasion Dschenins im Rahmen der “Operation Schutzschild” im Frühjahr 2002 massiv gegen Kriegsvölkerrecht verstieß, ist von israelischer Seite zu Recht angeführt worden, dass Russlands militärisches Vorgehen in Tschetschenien in noch deutlich höherem Maß gegen Normen des internationalen Rechts verstieß (Beck 2002b, S. 452f.). Was also qualifiziert das palästinensische Herrschaftssystem zu einem “echten” Sonderfall? Eine zentrale Erklärungskomponente für die von globalen Trends abweichende Entwicklung des palästinensischen Herrschaftssystems besteht darin, dass die US-Diplomatie verhindert hat, dass Israel unter effektiven internationalen Druck geriet, die Besatzungsherrschaft zu beenden. Ehe auf die Rolle dieses Faktors aus dem internationalen System näher eingegangen wird, gilt es zunächst die Bedeutung lokaler und regionaler Faktoren zu diskutieren.

 

Ein Palästinenser stößt das Gewehr eines israelischen Soldaten beiseite, mit dem er
während der Ausgangssperre in Hebron im Westjordanland aneinander geraten ist.

dpa-Fotoreport

  

Zur Bedeutung lokaler und regionaler Faktoren

Es ist kaum mehr als eine Trivialität festzustellen, dass die autoritäre Fremdherrschaft in Palästina in erster Linie das Resultat der israelischen Besatzung und damit eines lokalen Faktors ist. Um diesen zu erklären, muss neben internen israelischen Faktoren, die im Rahmen dieses Beitrages nicht bearbeitet werden können, auch auf Einflüsse des internationalen Systems eingegangen werden, denn Israel ist zwar eine regionale Großmacht, im globalen Maßstab aber ein eher schwacher Akteur. 

Auch regionalspezifische Faktoren, die zur Erklärung der Demokratieresistenz des Vorderen Orients im Allgemeinen herangezogen werden, können im palästinensischen Fall nur einen begrenzten Erklärungsbeitrag leisten. Die Forschung hat drei Angebote hervorgebracht, die erklären helfen sollen, weshalb der Vordere Orient das globale Ballungszentrum autoritärer Systeme bildet.

 

Der kulturalistische und der sozioökonomische Erklärungsansatz 

Sucht man nach gemeinsamen Merkmalen der Region des Vorderen Orients, die dieses Phänomen erklären könnten, lassen sich zunächst zwei Ansätze identifizieren. 

Erstens ein kulturalistischer, im deutschen Sprachraum vor allem von Bassam Tibi (1985, S. 21, 214, 235-246) verfochten, der die Säkularisierungsresistenz des Islam betont. Eine alternative Variante repräsentiert der sozioökonomische Ansatz Peter Pawelkas (1991), der argumentiert, dass sich im Vorderen Orient im Gegensatz zu Europa historisch ein “starker Staat” herausgebildet hat, aus dessen Umklammerung sich gesellschaftliche Gruppen nicht befreien konnten, weshalb es zur Herausbildung autoritärer Systeme kam. Die Leistungsfähigkeit dieser beiden Ansätze für die Region des Vorderen Orient insgesamt steht hier nicht zur Debatte,8 für den palästinensischen Fall ist sie indes beschränkt. Obwohl die Ansätze auf verschiedenen Logiken beruhen, hängt ihre Erklärungskraft von einer gemeinsamen Schlussfolgerung ab: In arabischen Gesellschaften besitzen demokratische Normen keinen hohen Stellenwert. Die palästinensische Gesellschaft unterstützt indes mehrheitlich demokratische Werte, insbesondere Freiheitsrechte (Shikaki 1996). Dies erklärt sich dadurch, dass sich in den palästinensischen Gebieten zu keiner Zeit ein mit Legitimität ausgestatteter Staat entwickeln konnte, der in der Lage gewesen wäre, Partizipationsbestrebungen der Gesellschaft in die vom Staat gewünschten autoritären Kanäle zu lenken. Für die Phase seit 1967 ist dies offensichtlich, doch gilt diese Feststellung auch für frühere Perioden der modernen palästinensischen Geschichte. Mit Ende des Ersten Weltkrieges errichtete Großbritannien in den palästinensischen Gebieten ein koloniales Mandatssystem. Nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg 1948/49 kam der Gazastreifen unter eine rigide ägyptische Verwaltungsherrschaft. Im Westjordanland wurden die Palästinenser und Palästinenserinnen zwar im Gegensatz zum Gazastreifen formal gleichberechtigte Staatsbürger und -bürgerinnen Jordaniens, doch die Entwicklungspolitik des haschemitischen Königshauses privilegierte das jordanische Kernland stärker (Mansour 1988, S. 73f).

 

Rentiersstaats-Ansatz als drittes Erklärungsangebot 

Das dritte auf regionale Faktoren fokussierende Erklärungsangebot bildet der Rentierstaats-Ansatz. Renten sind Einkommen, denen keine Investitions- oder Arbeitsleistungen des Empfängers gegenüberstehen (Chatelus/Schemeil 1984, S. 255). Aufgrund seines Ölreichtums (ökonomische Renten), der in Form von Hilfszahlungen an arabische Staaten ohne Ölvorräte (politische Renten) und eines regionalen Systems der Arbeitsmigration (Migrantenrenten) seit den 1970er Jahren fast die gesamte Region prägt, bildet der Vordere Orient das globale Zentrum internationaler Rentenströme (Beblawi/Luciani 1987). Auch die finanzielle Basis der PLO besteht seit ihrer Gründung ununterbrochen ganz überwiegend aus politischen Renten, weshalb ihre Führung als eine gegenüber der palästinensischen Gesellschaft unabhängige Elite sozialisiert wurde, die kein Interesse daran hat, sich einem demokratischen System von “Checks and Balances” zu unterwerfen. Der Ansatz leistet auch einen Beitrag zur Frage, weshalb die palästinensischen Autonomiegebiete, die in den 1990er Jahren von politischen Renten aus den demokratischen Systemen Europas, der USA und Japans abhängig wurden, keine Demokratie ausbildeten: Nicht nur hatte die PLO-Führung daran kein Interesse, vielmehr sahen auch die grundsätzlich an der Förderung demokratischer Strukturen interessierten westlichen Geberstaaten davon ab, die Rentenzahlungen effektiv an eine Demokratisierung der palästinensischen Autonomiegebiete zu knüpfen. Stärker als an diesem Ziel waren die Geber nämlich an der Aufrechterhaltung des Friedensprozesses interessiert, was aber angesichts der von Israel fortgeführten Besatzungsherrschaft nur realisiert werden konnte, indem der Palästinensischen Autonomiebehörde weitgehend freie Hand für die Eindämmung palästinensischer Oppositionsgruppen, die den Friedensprozess als ungerecht anprangerten und zu bekämpfen versuchten, und damit für die Etablierung einer autoritären Herrschaft gegeben wurde (Beck 2002a, Kap. 5). Der Rentierstaats-Ansatz kann somit zwar einen substanziellen Erklärungsbeitrag zur palästinensischen Sonderentwicklung leisten, muss dabei aber auf einen Faktor rekurrieren, den er selbst nicht erklären kann: die israelische Besatzung. Um diese zu erklären, muss auch auf Einflüsse des internationalen Systems zurückgegriffen werden.

 

Die israelische Besatzung und die Allianz zwischen Israel und USA  

Der mit Abstand wichtigste Faktor des internationalen Systems, der die fortgesetzte israelische Besatzung Palästinas mit erklärt, ist die Allianz zwischen den USA und Israel, die jahrzehntelang eine weitgehende diplomatische Unterstützung der israelischen Besatzungsherrschaft einschloss. Diese Feststellung bedarf aufgrund zweier nahe liegender Einwände einer Qualifizierung. Was zeichnet die amerikanisch-israelische Allianz gegenüber anderen aus, die die USA mit etlichen Staaten eingegangen sind, die in ihrem Herrschaftsraum oder, wie im israelischen Fall, in von ihnen beherrschten Teilgebieten gegen Prinzipien nationaler Selbstbestimmung und demokratischer Herrschaftsausübung verstoßen? Und inwiefern benötigt Israel überhaupt die Allianz mit den USA, um die Besatzungsherrschaft aufrecht zu erhalten? 

Drei Merkmale sind es, die die Allianz der USA mit Israel gegenüber anderen amerikanischen Verbündeten heraushebt. Erstens ist sie stark ausgeprägt, was beispielsweise daran deutlich wird, dass Israel der mit Abstand größte Empfänger amerikanischer Hilfsleistungen ist (Sullivan 1996). Zweitens umfasst die Allianz zwischen den USA und Israel praktisch alle Politikbereiche inklusive intensivem kulturellen Austausch, und drittens ist sie sehr stabil: Seit 1967 gab es nur wenige Krisen in den Beziehungen der beiden Staaten, und diese konnten rasch kooperativ bearbeitet, meistens bereits im Keim erstickt werden. Damit hebt sich die amerikanisch- israelische Allianz deutlich von Bündnissen ab, die die USA mit anderen Regimen des Vorderen Orients eingegangen sind. Diese waren, wie die Allianzen mit Saddam Hussein während des Ersten Golfkrieges (1980-88) oder mit den mit Osama Ibn Ladin verbundenen Mudschaheddin in der Zeit der sowjetischen Afghanistan- Invasion (1979 bis 89), zumeist temporär. Aber auch stabile Allianzen der USA, wie jene mit dem saudischen Regime, konzentrierten sich auf einige wenige strategische Politikfelder und sind - abgesehen von Ägypten, dem zweitgrößten Empfänger öffentlicher amerikanischer Hilfszahlungen (Sullivan 1996) - für die USA nicht kostenintensiv.

 

US-amerikanische Politik erschwert die nationale Selbstbestimmung 

Militärisch benötigt Israel die Allianz mit den USA sicherlich nicht, um die Besatzungsherrschaft in Palästina aufrecht zu erhalten. Zwar setzt die israelische Armee in den palästinensischen Gebieten modernste Waffentechnologie ein, die teilweise aus den USA erworben wurde, aber angesichts des schwachen palästinensischen Waffenarsenals kann kein Zweifel daran bestehen, dass Israel die Besatzung militärisch problemlos aus eigener Kraft aufrechterhalten könnte. Diplomatisch aber ist die US-amerikanische Politik der Aufrechterhaltung der Besatzungsherrschaft sehr dienlich, denn sie hat jahrzehntelang alle Versuche der Vereinten Nationen und der Europäischen Union blockiert, dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung in den palästinensischen Gebieten zum Durchbruch zu verhelfen und die Grundvoraussetzungen für die Möglichkeit einer demokratischen Entwicklung zu schaffen. Alle Versuche des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, die israelische Fremdherrschaft in Palästina scharf zu verurteilen, wurden von den USA mit ihrem Veto blockiert. Die Europäische Union konnte sich mit ihrer bereits seit den 1980er Jahren artikulierten Auffassung, dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung in den palästinensischen Gebieten zum Durchbruch zu verhelfen (Asseburg 2001, S. 260f), angesichts dessen nicht durchsetzen, dass die USA und Israel - und damit der stärkste Akteur in den internationalen Beziehungen bzw. im regionalen System des Nahen Ostens - dagegen opponierten.9 Der jahrzehntelangen US-amerikanischen diplomatischen Unterstützung Israels ist es zu verdanken, dass Israel sich, ohne die Besatzungsherrschaft aufgeben zu müssen, reibungslos in die Welt der westlichen Zivilisation einreiht. Dies wiederum ist nicht nur für die ökonomische Entwicklung Israels von großer Bedeutung, sondern auch für die politische und kulturelle Identität weiter Teile der israelischen Gesellschaft.

 

Die Allianz in den Denkschulen der Internationalen Beziehungen 

Im folgenden sollen die fünf wichtigsten Denkschulen der Internationalen Beziehungen - Realismus, Institutionalismus, Globalismus, Liberalismus und Konstruktivismus - auf den Fall der israelisch-amerikanischen Allianz angewandt werden, um einen Beitrag zu deren Erklärung zu leisten.

 

Denkschule des Realismus 

Der Realismus, als dessen wichtigster Repräsentant Kenneth Waltz (1979) gelten darf, geht davon aus, dass Staaten die zentralen Akteure im internationalen System sind. Die grundlegende Analyseeinheit der internationalen Beziehungen muss aber das internationale System (und nicht deren “subsystemische Einheiten”, die Staaten) sein. Das Verhalten der Staaten wird aus Sicht des Realismus nämlich durch das Strukturmoment der Anarchie geprägt. Anarchie bedeutet, dass es im Gegensatz zu den nach innen hierarchisch strukturierten Staaten im Weltsystem keine Zentralinstanz gibt, die über die Fähigkeit verfügt, Konflikte mit autoritativen Mitteln zu regulieren. Internationale Politik ist aus Sicht des Realismus somit im Wesentlichen Machtpolitik. 

Die US-amerikanische Unterstützung für Israel hat mit dem Sechstagekrieg 1967 extrem zugenommen, und dieses Faktum kann der Realismus gut erklären. Zwar leisteten die USA bereits mit Staatsgründung materielle und diplomatische Hilfe zugunsten Israels, diese war aber begrenzt. Die diplomatische Unterstützung der Sowjetunion zugunsten der Gründung eines israelischen Staates war sehr viel ausgeprägter als jene der USA, und in den 1950er-Jahren avancierte Frankreich diplomatisch und militärisch zum wichtigsten Verbündeten Israels, während durch die Reparationszahlungen der Bundesrepublik Deutschland der entscheidende Beitrag zur finanziellen Unterstützung Israels geleistet wurde (Beck 2001b). Nach dem Sechstagekrieg übernahmen dann die USA all diese Rollen. 

Nach dem vernichtenden Schlag, den Israel 1967 den stärksten arabischen Armeen beibrachte, war offensichtlich, dass Israel der militärisch stärkste Staat im Vorderen Orient und damit aus Sicht des Realismus der für die USA attraktivste Verbündete in dieser im Ost-West-Konflikt strategischen Region war (Telhami 1990, Kap. 5). Dass die USA nicht dafür sorgten, die Besatzungsherrschaft in den palästinensischen Systemen zu beenden, stellt den Realismus vor keine Probleme, da er nicht annimmt, dass Außenpolitik von Normen des internationalen Rechts geprägt wird. 

Dies bedeutet freilich nicht, dass sich der Realismus bei der Erklärung des vorliegenden Falles keinerlei Problemen ausgesetzt sähe. Ein erster Einwand gegen die Analyse des Realismus besteht darin, dass sich aus seiner Sicht mit dem Ende des Ost-West-Konflikts die machtpolitische Bedeutung Israels in den 1990er Jahren verringerte. Aus realistischer Sicht wäre somit eine Schwächung der israelisch- amerikanische Allianz zu erwarten gewesen (Barnett 1991), die aber nicht eintrat. Ein mindestens ebenso gravierender Einwand besteht darin, dass US-Administrationen periodisch auf Israel einzuwirken versuchten, um die Besatzungspolitik zu modifizieren. Insbesondere drangen US-Präsidenten seit Jimmy Carter mehrmals darauf, die Siedlungstätigkeit in den besetzten Gebieten einzufrieren. Der Realismus würde erwarten, dass das im Vergleich zu den USA ungleich schwächere Israel nachgeben müsste, was aber nicht der Fall war.

 

Denkschule des Institutionalismus 

Der Institutionalismus (oder Neo-Liberalismus) in der von Robert Keohane (1984) ausgearbeiteten Form stimmt mit dem Realismus überein, dass Staaten die wichtigsten Akteure im internationalen System sind und dieses durch das Strukturmoment der Anarchie bestimmt ist. Im Unterschied zum Realismus geht der Institutionalismus aber davon aus, dass internationale Politik auch von Normen geleitet sein kann, und zwar auch dann, wenn die Akteure auf ihren Eigennutz bedacht sind: Zwar gibt es im internationalen System in der Tat keine Instanz, die Normverstöße mit autoritativen Mitteln ahnden kann, aber rationale Akteure können dieses Problem durch “Selbstbindung” (Elster 1987, S. 68f.) überwinden.

Der Erklärungsbeitrag des Institutionalismus ist im vorliegenden Fall schwach.10 Er kann lediglich beanspruchen, einen Beitrag zur Stabilität der amerikanisch-israelischen Allianz nach dem Ost-West- Konflikt zu leisten. Im Gegensatz zum Realismus geht der Institutionalismus nämlich davon aus, dass einmal etablierte kooperative Strukturen ein Eigenleben besitzen, das heißt Institutionen können die Bedingungen überdauern, unter denen sie entstanden sind. Grundsätzlich würde der Institutionalismus aber erwarten, dass international anerkannte Normen wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker die reale Politik insbesondere westlicher Akteure wie den USA effektiv beeinflussen.

 

Denkschule des Globalismus  

Der Globalismus, dessen prominentester Vertreter Immanuel Wallerstein (1979) ist, teilt mit dem Realismus die Annahme, dass die Grundeinheit, auf deren Folie die Analyse internationaler Politik zu betreiben ist, das internationale System bildet. In der Perspektive des Globalismus ist die treibende Kraft aber nicht die Anarchie zwischen den Staaten, sondern die Dynamik des globalen Kapitalismus. Aufgrund der Konkurrenz zwischen Unternehmen (sowie den sie jeweils unterstützenden Nationalstaaten) drängt das Kapital zur Eroberung neuer Märkte und ist somit seiner Natur nach expansionistisch. 

Der Globalismus vermag keinen Beitrag zur Erklärung der herrschaftspolitischen Sonderentwicklung Palästinas beizusteuern. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich das auf den Vorderen Orient bezogene ökonomische Interesse der westlichen Welt auf die Golfregion. Für die palästinensischen Gebiete in der Ära der israelischen Besatzung kann selbst eine mittelbare Bedeutung derart, dass der Nahe Osten den “politischen Brückenkopf” zur Stabilisierung der Golfregion gebildet haben könnte, nur geringe Plausibilität beanspruchen. Zwar lässt sich überzeugend argumentieren, dass Israel für die Eindämmung radikaler arabischer Regime des Nahen Ostens, die die staatliche Souveränität der Golfmonarchien in den 1950er Jahren und damit indirekt deren feste Anbindung an das Weltwirtschaftssystem in Frage gestellt hatten, durchaus funktional war. Der fortgesetzten Besatzung der palästinensischen Gebiete aber kann eine solche Funktionalität nicht zugeschrieben werden, vielmehr stellte diese den Westen immer wieder vor gravierende Probleme, seine Interessen in der Golfregion zu wahren. Obwohl die USA Anfang der 1970er Jahre im Rahmen der Erdölrevolution eine in der Geschichte einmalige Umverteilung von Ressourcen zugunsten einer Entwicklungsregion tolerierten, blieb der Vordere Orient eine der instabilsten Weltregionen, und daran hatte die nach dem Sechstagekrieg 1967 massiv verstärkte US-amerikanische Unterstützung Israels maßgeblichen Anteil. Diese stellte nämlich gerade jene arabischen Regime, die mit den USA zu kooperieren bereit waren, immer wieder vor erhebliche Legitimationsprobleme nach innen: Die quer durch alle arabischen Gesellschaften von einer großen Mehrheit geteilte Auffassung, dass die israelische Besatzungsherrschaft Ausdruck gravierenden Unrechts sei, setzte mit den USA kooperierende arabische Regierungen dem Urteil aus, Vasallen einer imperialistischen Supermacht zu sein.

 

Denkschule des Liberalismus 

Der Liberalismus in der von Andrew Moravcsik (1997) vertretenen Form widerspricht den bisher vorgestellten Denkschulen insofern grundlegend, als er davon ausgeht, dass die grundlegende Analyseeinheit Akteure und nicht ein wie auch immer bestimmtes Weltsystem sein sollten. Weiterhin verficht diese Denkschule einen radikalen methodologischen Individualismus und nimmt an, dass jede Form der Politik, so auch jene im internationalen System, das Produkt menschlicher Handlungen ist und deshalb letztlich Individuen die zentralen Akteure sind. Der Liberalismus geht dabei zwar nicht davon aus, dass alle Individuen dieselbe Chance besitzen, internationale Politik zu beeinflussen, insistiert aber, dass außenpolitisches Handeln von Regierungen (und anderen Akteuren) wesentlich durch innenpolitische Determinanten bestimmt wird. 

Der Beitrag des Liberalismus zum Verständnis des vorliegenden Falls besteht in der Schließung einer Erklärungslücke des Realismus. In wichtigen historischen Phasen, so während des israelisch-ägyptischen Verhandlungsprozesses in Camp David (1977-79) sowie nach dem Zweiten Golfkrieg (1990/91), übten US-amerikanische Präsidenten Druck auf Israel aus, das Besatzungsregime in den palästinensischen Gebieten zu modifizieren und zumindest einem Siedlungsstopp zuzustimmen (Quandt 1986, Kap. 9). Sowohl Jimmy Carter als auch George Bush senior scheiterten mit ihren Anliegen bzw. mussten sich mit einem temporären Verzicht auf den Bau neuer Siedlungen zufrieden geben, der aber den Ausbau bestehender nicht ausschloss und damit weitgehend Makulatur blieb. Während der Realismus gravierende Schwierigkeiten hat, zu erklären, weshalb sich die USA gegen den ungleich schwächeren israelischen Verbündeten nicht durchzusetzen vermochten, steuert der Liberalismus hierzu einen wichtigen Erklärungsbeitrag bei, dennd er US-Kongress unterstützt Israel weitgehend unabhängig von dessen Besatzungspolitik, und hierauf müssen US-Administrationenangesichts des ausgeprägtenamerikanischen Systems der “Checks and Balances” Rücksicht nehmen. Die pro-israelische Ausrichtung des Kongresses wiederum ist zu einem gut Teil auf die erfolgreiche Lobbyarbeit insbesondere des American  Israel Public Affairs  Committee (AIPAC) zurückzuführen (Tivnan 1987).11Insbesondere seit Beginn der Präsidentschaft von George W. Bush mehren sich weiterhin Hinweise, dass die Außenpolitik der USA mit durch radikale protestantische Gruppierungen (Evangelisten) in den USA beeinflusst wird, die den militärischen Triumph Israels 1967 als Ausdruckgöttlichen Willens begreifen (Wald/Guth/Fraser/Green/Smidt/Kellstedt 1997).

 

Denkschule des Konstruktivismus

Der Konstruktivismus, wie er für Analysen des Vorderen Orients durch Michael Barnett (1996) Einzug gehalten hat, widerspricht allen bisher vorgestellten Denkschulen insofern, als er bezweifelt, dass internationale Politik ausschließlich rationalistischzu erklären ist, also auf der Verfolgung von Interessen basiert. Vielmehr geht Barnett davon aus, dass außer Interessen auch “Identitäten” eine zentrale Rolle zukommt. Auf den vorliegenden Fall bezogen betont Barnett, dass die enge Allianz zwischen Israel und den USA auf gemeinsamen Werten gründet. Zentral für die “spezielle Beziehung” zwischen Israel und den USA sei die demokratische Verfasstheit der beiden Akteure, während der Holocaust eine bestenfalls untergeordnete Rolle spiele, da dieser die westliche Selbstwahrnehmung als Hort der Aufklärung und Toleranz gerade in Frage stelle (Barnett 1996, S. 434-441). Diese Interpretation erscheint in zweierlei Hinsicht problematisch, denn zum einen wird die Rolle geteilter demokratischer Werte überschätzt und zum anderen die Bedeutung des Holocaust für die israelisch-amerikanische Allianz unterschätzt. Zwar argumentiert Barnett zu Recht, dass die undemokratische Herrschaftsausübung Israels in den palästinensischen Gebieten erst mit Beginn der ersten Intifada im Dezember 1987 von weiten Teilen der westlichen Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, aber ebendies verweist darauf, dass geteilte demokratische Werte nur einen sehr begrenzten Erklärungsbeitrag zur amerikanisch-israelischen Allianz beisteuern können: Obwohl die von Israel ausgeübte Herrschaft vor 1967 in ungleich höherem Maße demokratischen Standards genügte als danach, kam es zwischen den USA und Israel erst nach 1967 zu einer “speziellen Beziehung”, und dies, obgleich es aufgrund der Politik der PLO und internationaler Menschenrechtsorganisationen keinen Mangel an Informationen über den Charakter des israelischen Besatzungsregimes gab. Man benötigt also gleichsam eine doppelte Konstruktion, um den reklamierten Erklärungsbeitrag aufrecht zu erhalten: Die zwischen Israel und den USA geteilten demokratischen Werte spielen als Erklärung für die “Konstruktion” der Allianz zwischen diesen Akteuren nur dann eine gewichtige Rolle, wenn man annimmt, dass diese Werte selbst Produkt einer “Konstruktion” sind. Eine solche Erklärung kann aber kaum mehr als ergänzenden Charakter beanspruchen, deren Wert sich vor allem auf den Bereich des Ideologischen erstreckt: Der demokratische Charakter Israels in den Grenzen von 1949 hilft der US-Administration, der Öffentlichkeit - und möglicherweise auch sich selbst - gegenüber eine Allianz zu legitimieren, die die dezidiert undemokratische Herrschaft Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten mit einschließt. Ein Erklärungsbeitrag dieser Art kann sich aber auch auf die Rolle des Holocaust stützen, der von der amerikanischen Öffentlichkeit in den 1970er Jahren als “globale Erinnerungskultur” (Levy/Sznaider 2001, Kap. 6.2) entdeckt wurde. Wäre der Holocaust für das amerikanisch-israelische Bündnis von primärer Relevanz, hätte dieses in der Phase der Staatsgründung sowie unmittelbar danach - und nicht erst nach 1967, als Israel auf militärisch beeindruckende Weise seine Stärke dokumentiert hatte - am ausgeprägtesten sein müssen. Allerdings spielt der Holocaust - genauso wie die demokratischen Werte - auf der ideologischen Ebene eine bedeutende Rolle für die Legitimierung der amerikanisch- israelischen Allianz.12

 

Der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon schaut bei seinem Besuch eines militärischen Außenpostens im Westjordanland vom Beobachtungsposten auf die palästinensische Stadt Nablus.  

dpa-Fotoreport

 

Mögliche Szenarien 

Die Anwendung der fünf wichtigsten Denkschulen der Internationalen Beziehungen hat ergeben, dass der betont illusionslose Realismus am besten in der Lage ist, zu erklären, weshalb die USA und Israel eine Allianz eingingen, die über Jahrzehnte eine weitgehende diplomatische Unterstützung der israelischen Besatzungsherrschaft in Palästina einschloss. Israel empfahl sich den USA durch den aus militärischer Sicht grandiosen Sieg im Sechstagekrieg 1967 für eine Allianz. Der Institutionalismus, der Konstruktivismus und vor allem der Liberalismus steuern freilich wichtige ergänzende Erklärungen bei. Der Institutionalismus, der einmal etablierten kooperativen Strukturen ein Eigenleben zuschreibt, hilft verständlich zu machen, weshalb die amerikanisch-israelische Allianz auch in den 1990er Jahren stabil blieb, obwohl die strategische Bedeutung Israels nach dem Ost-West- Konflikt gesunken war. Der Konstruktivismus ergänzt die realistische Erklärung insofern, als mit seiner Hilfe die Bedeutung ideologischer Stützen für die “spezielle Beziehung” zwischen Israel und den USA herausgearbeitet werden kann. Obwohl diese just nach 1967 gebildet wurde, als Israel durch seine Eroberungen zu einer regionalen Großmacht mit einem ausgeprägten Demokratieproblem geworden war, können US-Administrationen die Allianz der amerikanischen Öffentlichkeit (und sich selbst) gegenüber mit den Argumenten legitimieren, dass Israel die einzige Demokratie im Vorderen Orient ist und die Allianz eine Wiederholung des Holocaust verhindert. 

Aus zwei Gründen ist nicht zu erwarten, dass sich die Grundlagen der amerikanisch- israelischen Allianz inklusive der Tolerierung der israelischen Besatzungsherrschaft in absehbarer Zeit ändern. Zum einen hat die palästinensische Seite keine Aussichten darauf, die Machtasymmetrie zu Israel entscheidend zu ihren Gunsten zu verändern, so dass sich die PLO nicht als attraktiver Bündnispartner für die USA empfiehlt. Zum anderen ist angesichts des Attentats vom 11. September 2001 und des palästinensischen Terrors gegen die israelische Zivilbevölkerung nicht davon auszugehen, dass sich die innenpolitische Unterstützung in den USA zugunsten einer starken Allianz mit Israel abschwächen könnte. 

Zur Zeit der Niederschrift dieses Beitrages im Februar 2003 ist die US-amerikanische Politik im Vorderen Orient auf die Vorbereitung eines möglichen Krieges gegen den Irak konzentriert. Auch wenn keine grundlegenden Änderungen zu erwarten sind, erscheint es nach dem Ende dieser Periode möglich, dass die Erwartungen des Globalismus und Institutionalismus in etwas höherem Maße eintreffen könnten als bisher. Einem globalistischen Szenario zufolge könnten die USA dann mit dem Ziel, die pro-amerikanischen Regime in der Golfregion zu stabilisieren, (moderaten) Druck auf Israel ausüben, die Besatzungsherrschaft zu modifizieren und sich neuerlich auf einen Friedensprozess mit der palästinensischen Seite einzulassen. Ein mögliches komplementäres Szenario des Institutionalismus wäre, dass die USA den Vereinten Nationen und der Europäischen Union (etwas) größere Spielräume im Nahen Osten gewähren, wodurch dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung und demokratischen Herrschaftsausübung in Palästina zu stärkerer Geltung verholfen werden würde.

 

Literaturhinweise

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Anmerkungen 

1 Der Vordere Orient umfasst in der hier zugrundegelegten Definition die arabischen Staaten, den Iran und Israel 

2 Eine erste Fassung dieses Beitrages wurde im Rahmen der von der Universität Tübingen im Wintersemester 2002/03 veranstalteten Ringvorlesung “Die islamische Welt im Zeichen der Globalisierung: Religion, Kultur und Politik im Vorderen Orient” vorgetragen. Ich danke den Besuchern, Besucherinnen und Organisatoren der Veranstaltung, insbesondere Lutz Richter- Bernburg und Peter Pawelka, sowie Muriel Asseburg für wertvolle Anregungen 

3 Der Nahe Osten ist als Subregion des Vorderen Orients definiert, die aus Israel und seinen arabischen Anrainern besteht 

4 Für eine Diskussion des Erklärungsbeitrages der fünf Denkschulen für die internationale Politik im Vorderen Orient allgemein siehe Beck (2002c) 

5 Dieser Feststellung liegt ein subjektives Konzept von Nation zugrunde. Nationen sind Gruppen von Menschen, die sich als einem Volk zugehörig empfinden und durch staatliche oder proto-staatliche Organisationsstrukturen repräsentiert werden. Diese Definition erscheint für eine moderne Sozialwissenschaft angemessen, da alle Versuche, die Existenz von Nationen auf “rassische” oder sonstige “objektive” Merkmale zurückzuführen, für die überwältigende Mehrheit von Gruppen, die unbestrittenermaßen Nationen bilden, zum Scheitern verurteilt sind (vgl. Asseburg 2002, S. 85-90) 

6 Abgedruckt in Europa-Archiv 48.24, Bd. 2/1993: Dokumente, S. 526-535 

7 Zur Frage, weshalb die PLO ein für sie offensichtlich derart unvorteilhaftes Abkommen unterschrieb, siehe Beck (2002a, Kap. 4) 

8 Siehe hierzu Beck (2002, S. 95-103) 

9 Mit Resolution 1397 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 15. März 2002 haben sich auch die USA förmlich darauf festgelegt, die Errichtung eines palästinensischen Staates zu unterstützen. Bisher hat dies allerdings zu keiner signifikanten Politikänderung geführt, wie insbesondere die US-amerikanische Unterstützung für Ministerpräsident Ariel Scharon während der “Operation Schutzschild” im April 2002 zeigte (siehe Beck 2002b, S. 458f) 

10 Für internationale Politik im Vorderen Orient allgemein kann der Institutionalismus hingegen einen gewichtigen Erklärungsbeitrag beanspruchen (Beck 2002c, S. 317-320) 

11 Für eine kritische Diskussion der Reichweite der auf dem Liberalismus fußenden Argumentation siehe Charles Lipson (1997, S. 129f) 

12 Hierfür spricht auch die von Barnett für sein Argument, dass die geteilten demokratischen Werte (und nicht die Holocaust-Erinnerung) die Grundlage der israelisch- amerikanischen Allianz sei, ins Feld geführte erste Intifada: Die weltweit ausgestrahlten Bilder von israelischen Soldaten und Soldatinnen, die sich gegen steinewerfende palästinensische Jugendliche mit Schusswaffen zur Wehr setzten, stellte mindestens ebenso sehr das Bild vom “Juden als Opfer” wie das von “Israel als Hort demokratischer Herrschaftsausübung im Vorderen Orient” in Frage


 

 


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