Zeitschrift 

Islam und 
Globalisierung


 

Heft 2/3/ 2003


Hrsg.: LpB



 

Inhaltsverzeichnis

  Was ist “Euro-Islam”?
 

Muslime und Islam in der Diaspora

  Von Heinz Halm

 

Prof. Dr. Heinz Halm ist Dozent am Orientalischen Seminar der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Seit 1980 hat er eine Professur für Islamkunde inne.

 

Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift “Die Welt des Orients”. "Euro-Islam” ist ein Schlagwort, das häufig und gerne im Zusammenhang mit der Integration muslimischer Einwanderer verwendet wird. Heinz Halm stellt die Frage, wie die Umsetzung im Detail aussehen soll. Mehr noch: Wer soll diesen “Euro-Islam” inhaltlich definieren? Sind doch die traditionellen Vorstellungen von der Teilung der Welt in einen “Bereich des Islam” und einen nicht-islamischen Bereich durch die Entstehung säkularer Staaten obsolet geworden. Dieser Prozess hat auch vor islamischen Staaten nicht Halt gemacht. Hinzu kommt die Besonderheit, dass der Islam nie gezwungen war, eine besondere Organisation der religiösen Gemeinde oder gar eine letztgültige Autorität in religiösen Fragen auszubilden. Dies zeigt sich in der durch konkurrierende Organisationen geprägten Vielfalt des Islam in Deutschland. Gerade diese Vielfalt lässt nicht erwarten, dass die hier lebenden Muslime künftig mit einer einheitlichen Linie in religiösen, praktischen und politischen Fragen auftreten. So erklärt sich auch das zähe Ringen um die Etab eines islamischen Religionsunterrichts. Und letztlich stellt sich die Frage, ob säkulare Fragen überhaupt durch religiöse Vertretungsansprüche beantwortet werden können. 

Red. 

 

“Euro-Islam” als Schlagwort und Wunschvorstellung 

Im Mai 1999 fand in der Evangelischen Akademie Loccum eine Tagung statt, auf der der Abgeordnete Cem Özdemir und Innenminister Otto Schily die Frage erörterten: “Was müssen Politik und Gesellschaft tun, damit sich in Deutschland ein kontextueller (europäischer) Islam bilden kann?” Ein “kontextueller (europäischer) Islam” - was ist das? 

“Euro-Islam” ist das Schlagwort für denselben Begriff, der häufig gebraucht wird, wenn von der Integration muslimischer Einwanderer in Deutschland die Rede ist. Gemeint ist damit ein mit den in Europa gültigen Normen kompatibler Islam, der offenbar im Gegensatz zum ursprünglichen, “orientalischen” Islam steht. Propagiert wird der Ausdruck von Politikern wie Otto Schily und Cem Özdemir, aber auch von der Publizistin Alice Schwarzer, am nachdrücklichsten wohl von dem Göttinger Politologen Bassam Tibi. Er postuliert die Übernahme von fünf “normativen Grundlagen” für einen künftigen Euro-Islam: Pluralismus, Toleranz, Säkularität - also Trennung von Politik und Religion -, demokratische Zivilgesellschaft und individuelle Menschenrechte.1 Zur Durchsetzung dieser Prinzipien fordert Tibi “eine entsprechende inhaltliche Bestimmung des Islam-Unterrichts”.2 - gemeint ist ein noch zu etablierender islamischer Religionsunterricht an unseren öffentlichen Schulen. 

Von “Euro-Islam” wird aber nicht nur in Deutschland geredet. 1999 erschien in Frankreich das Buch “Etre Musulman Européen” von Tariq Ramadan. Im Titel der deutschen Übersetzung “Muslimsein in Europa” (Marburg 2001) ist der “Europäische Muslim” allerdings nicht mehr zu finden. Tariq Ramadan ist ein in Frankreich besonders unter den jungen Muslimen sehr populärer Prediger. Von seinem Buch wird noch zu reden sein. 

Der Begriff “Euro-Islam”, so definiert wie oben zitiert, fordert zu Fragen heraus: Wie soll die Umsetzung der genannten fünf Prinzipien im konkreten Detail aussehen? Und: Wer soll diesen neuen Islam eigentlich inhaltlich definieren? Welche religiöse Autorität soll ihn legitimieren und bei den Gläubigen durchsetzen? Ist ein besonderer Euro-Islam überhaupt möglich? Und ist er überhaupt nötig?

 

Muslime in nicht-muslimischen Ländern

Muslime und Islam in der Diaspora - das ist Jahrhunderte lang eher ein marginaler Ausnahmefall gewesen. Anders als das Christentum hat der Islam seinen Staat selbst von Anfang an hervorgebracht. Denn Mohammed war nicht nur Religionsstifter, sondern auch Begründer eines Gemeinwesens, das unter ihm und seinen Nachfolgern rasch politische Strukturen entwickelte und bald darauf imperial zu expandieren begann. Das Christentum dagegen hatte sich dreihundert Jahre lang gegen den Staat, in dem es entstanden war, zu behaupten, ehe es diesen Staat - das Römische Reich - übernehmen konnte und der Kaiser selbst, seine Beamten und seine Legionen Christen wurden. Für Muslime war es also meist selbstverständlich, in einem Staatswesen zu leben, dessen Herrscher selber ein Muslim war, der dem islamischen Gesetz, der Schari’a, zur Geltung verhalf - mal mehr, mal weniger, wie man als Historiker hinzufügen muss. Doch natürlich gab es auch den Fall, dass Muslime außerhalb des islamischen Machtbereichs leben mussten. Im christlichen Konstantinopel gab es seit dem Jahr 716 eine Moschee, die vom Kaiser im Einvernehmen zunächst mit den Kalifen von Damaskus, dann denen von Bagdad und später von Kairo betrieben wurde. Auch wurden Regeln entwickelt, wie sich Muslime außerhalb der Dâr al-islâm, des “Bereichs des Islam”, wie man das von Muslimen politisch kontrollierte Territorium nannte, zu verhalten hätten. Aber der Zustand wurde doch immer nur als ein vorübergehender betrachtet, und so können noch zwei Autoren unserer Tage, Ludwig Hagemann und Adel Theodor Khoury, in einem kleinen Büchlein die Frage erörtern: “Dürfen Muslime auf Dauer in einem nicht-islamischen Land leben?” (Würzburg 1997). Die Frage ist eher rhetorischer Natur und sie lässt sich auch ganz pragmatisch beantworten: Sie tun es ja, und sie müssen es wohl auch auf Dauer. Unsere Frage ist, ob und wie sich der Islam ändern soll oder gar muss und ob man ihn in eine bestimmte Richtung lenken soll. Wer bestimmt letztlich überhaupt, was Islam ist und wie er in der Zukunft aussehen wird? 

 

Islam im modernen Staat

Dieses Problem beschränkt sich nicht nur auf Europa. Auch in den Ländern mit muslimischer Bevölkerung ist die alte, mittelalterliche Selbstverständlichkeit, dass Muslime in einem islamischen Staatswesen leben, längst dahin. Die im Zuge der Entkolonialisierung entstandenen Staaten sind ganz überwiegend säkulare Staaten gewesen und sind es meist noch heute. Der Irak etwa ist, seit er als Staat besteht, ein säkularer Staat; Syrien ebenfalls, Libyen, Tunesien oder Algerien desgleichen, von der Türkei ganz zu schweigen. Zwar hat der Druck von Seiten islamischer Gruppen oder islamistischer Organisationen in manchen Ländern zu einer Islamisierung oder Re-Islamisierung, vor allem bestimmter Bereiche des Rechts geführt (Algerien oder Ägypten wären hier vor allem zu nennen). In Iran hat es sogar eine islamische Revolution gegeben, die zur Errichtung eines klerikalen Regimes geführt hat. Aber die Oppositionsrolle der Islamisten in den meisten Ländern richtet sich vor allem gegen den eigenen, als nicht-islamisch angesehenen und daher abgelehnten Staat. Islam im modernen Staat - dass ist also auch und in erster Linie ein Problem der Länder mit islamischer Bevölkerung selbst.

 

Traditionelle Vorstellungen sind obsolet geworden

Die traditionelle Vorstellung von der Teilung der Welt in einen “Bereich des Islam” (Dâr al-Islam) und einen “Bereich des Krieges” (Dâr al-Harb), im 8. Jahrhundert erstmals formuliert, ist von den muslimischen Rechtsgelehrten selbst von Anfang an mannigfach modifiziert und erweitert worden. Waffenstillstände, de facto-Friedensschlüsse und sogar Bündnisse zwischen muslimischen und christlichen Herrschern waren Jahrhunderte lang gang und gäbe. Die stets flexible islamische Rechtstheorie hat diese politische Praxis durch den “Bereich des Vertrages” (Dâr al-’ahd) sanktioniert, in dem das friedliche Miteinander vertraglich geregelt ist. Heutige Muslime wie der erwähnte Autor Tariq Ramadan greifen auf dieses alte Konstrukt zurück, wenn sie etwa die Mitgliedschaft arabischer Staaten in der UNO begründen wollen.3. Die internationale Staatengemeinschaft wird da gedeutet als “Bereich des Vertrages”. Im Grunde sind solche Konzepte aber obsolet, da ihre Voraussetzung - nämliche die alte Konfrontation von muslimischen und christlichen Reichen - aufgebrochen ist durch die moderne Form des religiös neutralen, säkularen Staats, der in seiner Verfassung Religionsfreiheit garantiert. Es ist auch unter den konservativen Muslimen inzwischen längst mehrheitlich “herrschende Meinung”, dass ein nicht-islamischer Staat, der Religionsfreiheit gewährt und damit die Ausübung des Islam zulässt, nicht Dâr al-harb (Bereich des Krieges) ist..4  

Der säkulare Staat, der selbst religiös neutral ist, aber allen Religionen gleichermaßen Religionsfreiheit gewährt, ist in der vormodernen Weltordnung gar nicht vorgesehen. Er ist etwas Neues, und damit müssen die Muslime nun zurechtkommen, denn die traditionelle Schari’a kennt diesen Fall ja gar nicht. 

 

Was ist Schari’a?

Zu dem Begriff ist eine Anmerkung nötig. Das Wort bezeichnet das geoffenbarte göttliche Gesetz des Islam insgesamt. Es ist aber nicht identisch mit dem Koran und ist nicht auf den Koran beschränkt, sondern umfasst z. B. auch die überlieferten Aussprüche und Handlungen - oder Unterlassungen - des Propheten Mohammed, der durch sein ganzes Leben verbindlich vorgelebt hat, wie ein Muslim sein soll. Diese in Form von tausenden kleinen Geschichten und Aussprüchen (hadîth) überlieferte Sunna - d. h. Herkommen, Usus oder Brauch - umfasst, wenn man nur die sechs kanonischen Sammlungen der Sunniten nimmt, im modernen Druck mehr als 7000 Druckseiten (der Koran hat nur an die 500). Aber auch das ist noch nicht die ganze Schari’a. Diese ist kein Buch, das irgendwo im Regal steht, sondern ein “fluides” (Lutz Richter-Bernburg), das heißt ein lebendiges, stets weiterentwickeltes System der Entscheidungsfindung in allen Fragen von religiösem Belang, unabgeschlossen und prinzipiell unabschließbar. Man kann die Schari’a also nicht aus dem Bücherregal ziehen, weil sie in keiner Bibliothek zu finden ist. Wenn man die Schari’a irgendwo einführen wollte, müsste man sich erst einmal darauf einigen, in welcher Konkretisierung das überhaupt geschehen sollte, denn es gibt ja nicht nur den Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten, sondern auch den zwischen den vier Hauptschulen innerhalb des sunnitischen Islams, und auch innerhalb einzelner Schulen werden zahlreiche Fragen durchaus kontrovers diskutiert. 

 

Der Leiter der islamischen Gemeinde von Magdeburg liest im Koran, der Richtschnur für alle Moslems ist. Der Jemenit Omar Al-Udayni lebt seit 13 Jahren in Sachsen-Anhalt und arbeitet als Wissenschaftler an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg.

dpa-Fotoreport

 

Die Schari’a ist das islamische Gesetz in seiner jeweiligen lebendigen Ausformung. Sie ist wandelbar und wandelt sich stets. Die Behauptung, Schari’a und Grundgesetz verhielten sich zueinander wie “Feuer und Wasser”.5 und schlössen sich damit gegenseitig aus, ist gelinde gesagt, ungenau. Zur Schari’a gehört ja auch das täglich fünfmalige Gebet in der Moschee oder anderswo, zur Schari’a gehören das Fasten im Ramadan, die Wallfahrt nach Mekka oder auch die Beschneidung von Jungen, die in unserer Gesellschaft weder ein rechtliches noch ein medizinisches noch ein moralisches Problem darstellt. Eine Forderung, die Muslime sollten die Schari’a aufgeben, wäre also unsinnig. Es käme einer Aufgabe ihrer Religion gleich, denn die Schari’a ist der Islam. Es käme ja auch niemand auf die Idee, von einem gläubigen orthodoxen Juden zu verlangen, er solle das Gesetz Moses aufgeben und durch ein “Euro-Judentum” ersetzen. Richtig ist natürlich, dass es einzelne traditionelle Elemente der Schari’a gibt, die mit unserer Rechtsordnung unvereinbar sind: Vielehe, Scheidungspraxis, Verbot des Religionswechsels, mittelalterliche Körperstrafen, Todesstrafe. Dass es all dies in dem säkularen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland nicht geben kann und nicht geben wird, steht außer Frage. 

 

Der säkulare Staat setzt Religionen Grenzen

Nun hat der Islam - wie die anderen monotheistischen Weltreligionen - einen exklusiven Wahrheitsanspruch. Nach eigenem Verständnis ist er die einzig wahre, auf Gottes letztgültiger Offenbarung beruhende Religion. Dieser Glaube ist legitim, das Christentum hat ihn nicht minder. Die römische Glaubenskongregation unter der Federführung von Kardinal Ratzinger hat in einem “Dominus Jesus” betitelten Papier erst kürzlich bekräftigt, dass außerhalb der katholischen Kirche kein Heil sei, ja dass die anderen christlichen Gruppen nicht als Kirchen im eigentlichen Sinne anzusehen seien, da es nur eine Kirche gebe - für Ökumeniker ein schwerer Rückschlag, aber in der Tradition der Kirche durchaus verständlich und legitim. Ein solcher Ausschließlichkeitsanspruch liegt im Wesen der monotheistischen Religionen. Der säkulare Staat dagegen hat dafür zu sorgen, dass solche Ansprüche nicht auf Kosten anderer durchgesetzt werden, vor allem nicht gewaltsam. Solange das gewährleistet ist, sollte der Staat sich in die Glaubensangelegenheiten der Religionsgemeinschaften nicht einmischen - dazu ist er nicht berufen. Was katholisch ist, darüber befinden die Katholiken, was jüdisch ist, bestimmen die Juden, und für den Islam sind die Muslime zuständig. 

Der säkulare Staat setzt den Religionen - allen Religionen - also bestimmte Grenzen, innerhalb derer sie sich bewegen können, und sorgt durch diese Grenzziehung dafür, dass die verschiedenen Ausschließlichkeitsansprüche sich gegenseitig neutralisieren und nur innerhalb der jeweiligen Glaubensgemeinschaft erhoben werden können. Die Frage ist nun, wie sich der Islam, oder sagen wir lieber: wie sich die Muslime in Deutschland in diesem ihnen von außen gesetzten Rahmen bewegen. 

 

Islamische Organisationen

 Hier ist noch einmal auf die Frage der religiösen Autorität im Islam zurückzukommen. 

Da der Islam schon zu Beginn seiner Geschichte sein eigenes Staatswesen hervorgebracht hat, war er nicht gezwungen, eine besondere Organisation der religiösen Gemeinde, der Umma, auszubilden. Es gibt also keine islamische “Kirche”, keine kirchenähnliche Organisation, die als unabhängige Körperschaft auch in einem nicht-islamischen Land existieren könnte. Es gibt keine Hierarchie, kein Oberhaupt, keine oberste Lehrautorität. Was Islam ist und was nicht, darüber entscheidet seit Jahrhunderten ein Berufsstand, die Religionsgelehrten (ulamâ), konkurrierend und oft kontrovers. Es liegt letztlich beim einzelnen Muslim, an welcher Autorität er sich orientiert. Auch die berühmte Azhar- Universität in Kairo ist - trotz des hohen Ansehens, das sie bei den Sunniten in der ganzen Welt genießt - keine höchste Instanz in Glaubensfragen, auch wenn ihre Fatwas, ihre Gutachten zu religiösen Fragen, weltweit Beachtung finden. 

In einem mehrheitlich nicht-islamischen Land wie Deutschland - und das gilt auch für alle anderen europäischen Länder - sind die Muslime also zunächst einmal gezwungen, sich zu organisieren. Das hat mit kleinen, lokalen Moscheevereinen begonnen; später kamen dann größere Organisationen hinzu, zum Teil mit internationaler Wirksamkeit und gelegentlich auch aus dem Nahen Osten unterstützt. Das Ergebnis ist ein buntes Mosaik. Es fehlt dem Islam hier wie in anderen Ländern eine einheitliche Vertretung..6 Viele dieser Organisationen haben sich erst 1994 in zwei konkurrierenden Dachverbänden zusammengeschlossen. Der eine ist der “Islamrat der Bundesrepublik Deutschland”, eine fast ausschließlich türkische Organisation, die dominiert wird von der “Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs¸” (IGMG). Der türkische Name bedeutet “Nationale Sicht” und bringt schon damit zum Ausdruck, dass es sich um eine national-türkische, religiös-politische Organisation handelt - ein klassischer Fall von Islamismus. Eines ihrer Ziele ist die Rückverwandlung der laizistischen Türkischen Republik in einen islamischen Staat. Diesem Ziel sucht sie mit Hilfe der religiösen Partei, die in der Türkei unter wechselnden Namen (Milli Selamet Partisi “Nationale Heilspartei”; Refah “Wohlfahrt”; Fazilet “Tugend”; jetzt Saadet “Glückseligkeit”) aktiv ist, näher zu kommen. (Eine gemäßigte Abspaltung dieser Partei, die “Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei” Adalet ve Kalkýnma Partisi, hat Ende 2002 die Parlamentswahlen in der Türkei gewonnen). “Milli Görüs¸” soll in Deutschland ca. 27 000 Mitglieder und eine wesentlich größere Zahl von Sympathisanten haben. Die Organisation gerät immer wieder ins Visier des Verfassungsschutzes.7 und ein Verbot ist von Innenminister Schily unlängst erwogen worden. Der andere große Dachverband neben dem Islamrat ist der “Zentralrat der Muslime in Deutschland” (ZMD), an dessen Spitze ein Araber steht: der aus Saudi-Arabien stammende Arzt Dr. Nadeem Ilyas vom Islamischen Zentrum Aachen. Der Zentralrat steht der in Ägypten beheimateten Muslimbruderschaft nahe, wie auch das Islamische Zentrum München, das dem Verband angehört, der einen streng konservativen Islam vertritt. 

Mehr Muslime als diese beiden Dachverbände vertritt indes die DI·TI·B, die “Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion” (Diyanet I·s¸eri Türk-Islam Birlig i). Hierbei handelt es sich um eine Organisation, die unter der Kontrolle des türkischen Staates steht und an das in der türkischen Verfassung verankerte Prinzip des Laizismus (layiklik), der Trennung von Religion und Staat, gebunden ist und vor allem deswegen von den beiden anderen Dachverbänden nicht anerkannt wird. Die DI·TI·B ist aber für deutsche Landesregierungen und Behörden der Hauptansprechpartner. 

Dazu kommt eine ganze Reihe von kleineren Vereinen, Verbänden und Derwischorden unterschiedlicher Bekenntnisse. Erwähnt seien nur die Zwölfer-Schiiten, die das Islamische Zentrum Hamburg betreiben, die Süleymancý oder Süleymanlý, die den “Verband Islamischer Kulturzentren” (VIKZ) betreiben, oder die türkischen Aleviten, deren Föderation ihren Sitz in Köln hat. Dieser weithin unbekannten Religionsgemeinschaft gehören etwa ein Fünftel bis ein Drittel der in Deutschland lebenden Türken an. Da die Aleviten die Vorschriften der Schari’a nicht beachten - gewissermaßen Muslime ohne Islam - und den säkularen Staat befürworten, von dem sie sich Schutz erwarten, gelten sie als problemlos integrierbar. Doch sollte man nicht vergessen, dass sie als Randgruppe nicht als Muster für die Muslime allgemein taugen. 

 

Die Vielfalt des Islam verhindert eine einheitliche Linie

Diese bunte Vielfalt des Islam in Deutschland lässt nicht erwarten, dass die Muslime künftig mit einer einheitlichen Linie in dogmatischen, praktischen und politischen Fragen auftreten. Die muslimischen Individuen wie auch die einzelnen Vereine und Verbände werden auch künftig ihren je eigenen Weg suchen. Es ist unumgänglich, dass die europäischen Muslime angesichts von drei für sie neuen Situationen - dem Minderheitendasein, dem Leben in einem säkularen Staat und dem Zwang, sich zu organisieren - neue Lösungen finden müssen. Dabei wird es aber nicht nur die Alternative zwischen Euro und Schari’a-Islam geben, sondern ein ganzes Spektrum von Positionen dazwischen. 

Dass auch die Vertreter eines streng konservativen Islam in der Minderheitensituation der Diaspora zur Anpassung von Normen bereit sind - wenn vielleicht auch nur gezwungenermaßen - lässt sich an den tatsächlich vorhandenen Stellungnahmen und Richtlinien ablesen, die von Muslimen für Muslime in der Diaspora verfasst sind. Der eingangs erwähnte Tariq Ramadan wirbt in seinem Buch “Etre Musulman Européen” für eine “authentische Verwirklichung der Lehre des Islam im Lichte des westlichen Kontextes und seiner Gesetze” .8 - hier begegnen wir dem eingangs genannten “kontextuellen” Islam wieder. Er entwirft ein detailliertes Bild, wie dieser Islam aussehen könnte. Wohlgemerkt: Tariq Ramadan ist kein Vertreter des säkularen Prinzips wie Bassam Tibi, sondern plädiert für die Beibehaltung der Schari’a, allerdings einer gewandelten, den neuen Verhältnissen angepassten Schari’a. Nur ein Beispiel: Er geht im Besonderen auf die alten Begriffe Dâr al-Islâm und Dâr alharb ein, aber nur, “um uns aus dieser alten binären Weltsicht zu lösen”, die zeit- 153 bedingt und daher überholt sei. Es wurde schon erwähnt, dass er den bereits im 9. Jahrhundert geprägten Begriff Dâr al-’ahd (Bereich des Vertragszustandes) verwendet, um die Existenz der UNO zu begründen, aber er geht noch einen großen Schritt weiter: “Die Begriffe dâr alislâm, dâr al-harb und dâr al-’ahd haben (...) ihren Ursprung nicht im Koran und der Sunna. Sie stellen vielmehr eine menschliche, zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte unternommene Bemühung dar, die Welt zu beschreiben und der muslimischen Gemeinschaft ein ‚geopolitisches‘ Raster, das der augenblicklichen (gemeint ist wohl: der damaligen; H. H.) Realität entspricht, zur Verfügung zu stellen. Letztere hat sich grundlegend gewandelt: es ist heute notwendig, zum Koran und zur Sunna zurückzukehren und im Lichte unserer Umgebung unsere Analyse zu vertiefen, um eine neue, auf unseren neuen Kontext abgestimmte Sichtweise zu entwickeln und so adäquate Rechtsmeinungen zu erarbeiten. Unser Verständnis der Lehren des Islam wieder zu betrachten und zu überdenken, erscheint somit als eine Notwendigkeit.”.9  

Die meisten Muslime, die in Europa leben, werden solch skrupulöse Überlegungen gar nicht nötig haben. Sie leben einfach in Europa, und die wenigsten werden die genannten Begriffe überhaupt kennen. Aber für die, die sich Skrupel machen, wird eine Antwort geboten, indem die Schari’a nicht abgeschafft, sondern weiterentwickelt wird. 

 

Praktische Probleme des Alltags

Auch bei den konservativen islamischen Organisationen in der Bundesrepublik ist der Anpassungsdruck zu konstatieren. Wer wissen will, welche Richtlinien etwa der “Zentralrat der Muslime” seinen Anhängern an die Hand gibt, findet im Internet unter www.islam.de  auf 80 Druckseiten ein Regelwerk, das dem Muslim erlauben soll, im Rahmen des Grundgesetzes und der Rechtsordnung der Bundesrepublik, zu deren Respektierung ausdrücklich aufgefordert wird, der Schari’a gemäß zu leben. Kompromisse sind dabei unausweichlich. 

Das soll an drei Beispielen erläutert werden, die dem Text auf der erwähnten Homepage des Zentralrats der Muslime entnommen sind. 

“Freistellung von Schülern von der Teilnahme am Freitagsgebet? 

(...) In Deutschland gibt es die Schulpflicht, die es mit sich bringt, dass Kinder (...) zur Teilnahme am Schulunterricht verpflichtet sind. Muslime, die in einem nicht-islamischen Rechtsstaat leben, müssen sich an seine Rechtsnormen halten, solange diese nicht im Widerspruch zum Islam stehen. Aber auch: Die Teilnahme am Freitagsgebet ist Pflicht für den männlichen Muslim ab der Pubertät (...) Das Freitagsgebet wird in den Moscheen in der Zeitspanne des Mittagsgebets (...) abgehalten.” Soweit die Benennung des Dilemmas. Die Lösung lautet nun: 

“Dieser Konflikt kann dadurch gelöst werden, dass man sich mit dem Klassenlehrer darauf einigt, dass die freitags versäumten Stunden zu anderer Zeit nachgeholt werden (Ersatzunterricht). Falls dies unmöglich ist, gibt es auch noch die Möglichkeit, nur alle drei Wochen zum Freitagsgebet zu gehen, da erst das dreimalige Fehlen in Folge als besonders schlimm angesehen wird.”.10  

Die Bemühung, dem Dilemma zwischen Schul- und Gebetspflicht durch einen Kompromiss zu entkommen, ist deutlich. Ob die vorgeschlagene Lösung allerdings tragfähig ist, mag man bezweifeln. 

Zur Vielehe heißt es: “ Aus der islamischen Rechtslehre geht hervor, dass sich Muslime, die sich in einem nicht-islamischen Rechtsstaat befinden, an dessen Rechtsnormen halten müssen, solange diese nicht im Widerspruch zum Islam stehen. Hier in Deutschland ist es nicht möglich, mehr als eine Frau standesamtlich zu heiraten. Daher darf ein in Deutschland lebender Muslim nur eine Frau heiraten. Die meisten Gelehrten sind der Meinung, dass man sich an die Gesellschaftsordnung seines Aufenthaltsortes halten muss, wenn diese nicht die Grundsätze seines Glaubens verbieten oder wichtige Lebensbedürfnisse unterbinden, weil man mit dem Aufenthalt in einem nicht-islamischen Land einen Vertrag mit demselben schließt, seine Gesellschaftsordnung nicht zu brechen. (Dahinter steht wiederum die Vorstellung von der Dâr al-’ahd, dem “Bereich des Vertrages”. H.H.) Die Heirat einer zweiten, dritten oder vierten Frau stellt keine islamische Pflicht dar, man ist immer noch Muslim, wenn man nur eine Frau heiratet, und es schränkt das Leben des einzelnen nicht übermäßig ein”..11

Ähnliche Kompromisslösungen werden auch in Fragen des islamischen Begräbnisses, des Kopftuchtragens, der Koedukation (die im Prinzip missbilligt wird), der Teilnahme an Klassenfahrten usw. vorgeschlagen. So heißt es z. B. über das “Händeschütteln mit einer Person des anderen Geschlechts”: 

“Die Meinungen dazu gehen auseinander (...) Um aber in unserer heutigen Gesellschaft zu bestehen, in der das Händeschütteln zwischen Männern und Frauen bei Begegnungen als Bestandteil der Etikette einfach dazugehört, ist man gelegentlich gezwungen, sich anzupassen, um eventuelle Peinlichkeiten zu vermeiden [zudem, H.H.] gibt es dafür (das Händeschütteln) auch kein absolutes Verbot (...) Es ist daher kaum möglich, eine allgemeinverbindliche Aussage zu machen, und letztlich muss jede(r) für sich selbst aus einer gegebenen Situation heraus eine Entscheidung treffen (...) Entsprechend den Regeln des guten Benehmens (Knigge - wird leider nicht mehr beachtet) wartet ein Herr, bis die Dame ihm ihre Hand gibt; er streckt seine Hand der Dame nicht entgegen. Eine Dame braucht im Gegensatz zu einem Herrn den Handschuh (wenn sie einen trägt) auch beim Händeschütteln nicht auszuziehen.”.12  

Ein großer Teil der Muslime in Deutschland ist also durchaus in der Lage, in der Praxis des alltäglichen Islam ihr Verhalten an die besonderen Umstände des Minderheitendaseins anzupassen, ohne dabei einen Verlust an religiöser Substanz zu befürchten. “Sollte der Einzelne nicht in der Lage sein, seinen (...) gottesdienstlichen Verpflichtungen nachzugehen bzw. gezwungen sein, gegen diese zu verstoßen, darf er dennoch nicht gegen diese Staatsordnung mit Gewalt vorgehen. Er soll seine Freiheit durch Überzeugung oder durch Auswanderung erlangen.”.13 Es geht nicht an, solche Äußerungen von vornherein unter den Generalverdacht der Unaufrichtigkeit stellen. Man sollte die Muslime danach beurteilen, wie sie sich tatsächlich verhalten. 

Die Zersplitterung des Islam in Deutschland wird bleiben, und der Islam wird nicht mit einer Stimme sprechen können. Damit wird auch die Bandbreite der Interpretationen des Islam weiterbestehen: von der religiösen Indifferenz nicht praktizierender Muslime am einen Ende des Spektrums - es sind ja nur zehn Prozent der Muslime in Deutschland überhaupt in Moscheevereinen organisiert - über liberale “Euro-Muslime” im Sinne Bassam Tibis, dann die konservativen vorsichtigen Erneuerer, die im Rahmen der Schari’a bleiben wollen, wie Tariq Ramadan, weiter über die noch konservativeren Grundsätze des “Zentralrats der Muslime” bis hin zum sich gänzlich abschottenden “Ghetto- Islam”.14 einzelner integrationsunwilliger Gruppen. Der säkulare Staat wird mit all diesen Facetten des Islam zurechtkommen müssen und es ist jedenfalls nicht seine Aufgabe, die Muslime zu einigen, wenn die Muslime selbst das nicht tun. 

 

Islamischer Religionsunterricht?

Für den von vielen Seiten geforderten islamischen Religionsunterricht an unseren staatlichen Schulen sind das keine günstigen Auspizien. Der älteste Entwurf für einen Lehrplan stammt aus Nordrhein- Westfalen. Er wurde 1979 von dem damaligen Kultusminister Jürgen Girgensohn in Auftrag gegeben und datiert vom August 1982 und ist bis heute nicht umgesetzt worden. 1984 hat sich die Kultusministerkonferenz darauf geeinigt, islamischen Religionsunterricht einzuführen, aber tatsächlich ist es in den letzten zwanzig Jahren noch keinem Bundesland gelungen, einen bekenntnisgebundenen islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach im Sinne von Artikel 7 Abs. III des Grundgesetzes zu etablieren. Artikel 7 Absatz III GG sagt: “Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.” 

Wenn also hier von islamischem “Religionsunterricht” die Rede ist, so ist ein bekenntnisgebundener Unterricht gemeint. Ein Unterricht also, in dem muslimische Religionslehrer muslimische Schüler zum Islam erziehen. Das gibt es als “ordentliches Lehrfach” bisher nirgendwo. In Nordrhein-Westfalen gibt es seit 1999 im Schulversuch nur das religionskundliche Fach “Islamische Unterweisung”, an dem Schüler aller Konfessionen teilnehmen können. Hamburg hat “Religionsunterricht für alle”, Brandenburg seine 154 umstrittene LER (Lebensgestaltung-Ethik- Religionskunde). In Hessen wird das Fach Ethik als Ersatz für die gescheiterte Einführung des islamischen Religionsunterrichts angeboten. All das aber ist kein Religionsunterricht. Vor kurzem hat Niedersachsen angekündigt, es werde im Jahre 2003 islamischen Religionsunterricht einführen, und man muss abwarten, was daraus werden wird. In Baden-Württemberg und Bayern gibt es - ähnlich wie in einigen anderen Ländern - auf freiwilliger Basis “Religiöse Unterweisung türkischer Schüler islamischen Glaubens” im Rahmen des muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts. Dieser Unterricht wird von Lehrkräften, die der türkische Staat schickt, durchgeführt. Dieser Unterricht auf Türkisch gilt als integrationshemmend. Einem Unterricht in deutscher Sprache widerstrebt die Türkei jedoch vehement, da sie eine Entfremdung der Türken von ihrem Vaterland befürchtet. 

Um keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: Ich habe selbst 1983 in einem Gutachten für den baden-württembergischen Landtag für die Einführung islamischen Religionsunterrichts plädiert. In den verflossenen zwanzig Jahren sind meine Zweifel an der Realisierbarkeit dieses Projekts aber ständig gewachsen. Das Vorhaben ist in Baden-Württemberg wie in anderen Bundesländern bisher immer wieder daran gescheitert, dass dem Kultusministerium nicht ein einzelner zuständiger Gesprächspartner gegenübergestanden hat, sondern konkurrierende Ansprüche. Die Aleviten z. B. lehnen das Zusammengehen mit den Sunniten ausdrücklich ab und sind deshalb in Baden-Württemberg aus den Gesprächen mit dem Kultusministerium ausgestiegen. Das Fehlen einer den Kirchen vergleichbaren Organisation, das Fehlen einer allgemein anerkannten religiösen Autorität und die Vielfalt der häufig nicht scharf gegeneinander abgegrenzten Richtungen innerhalb des Islam stellen eine strukturelle Besonderheit - im Hinblick auf das gewünschte Ziel muss man sogar von einem strukturellen Defizit sprechen - dar, das die Muslime gegenüber den christlichen Kirchen eindeutig benachteiligt. Die Kirchen haben nicht nur aus jahrhundertealtem römischen Erbe eine Rechtsform als Körperschaften, sondern sie waren nach den Religionsfrieden im 16. und 17. Jahrhundert (Passau 1552; Augsburg 1555; Westfälischer Friede 1648) auch gezwungen, sich zu konfessionalisieren, denn die Lehren wie die Organisationen der verschiedenen Bekenntnisse mussten sich scharf gegeneinander abgrenzen, um dann miteinander fortbestehen zu können. Vor der Reformation hatte die Kirche diese scharfe Abgrenzung nicht nötig. Sie war einfach die Kirche, und außer ihr war nichts. In ähnlicher Situation ist der Islam noch heute, denn ein Zwang zur Konfessionalisierung hat nie bestanden. Somit ist es äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich, den aus der Weimarer Verfassung ins Grundgesetz übernommenen Begriff der “Religionsgesellschaften” auf islamische Vereine anzuwenden. .15

 

Ungelöste und nicht diskutierte Fragen

Die Frage, wer den Inhalt des islamischen Religionsunterrichts festlegen soll, ist unbeantwortet und wohl auch unbeantwortbar. Es gibt auch an unseren Schulen in der Regel zwar katholischen oder evangelischen oder auch altkatholischen Religionsunterricht, aber keinen “christlichen”. Ebenso wenig kann es den “islamischen” Religionsunterricht geben, sondern allenfalls einen sunnitischen oder schiitischen oder alevitischen. Die Aleviten haben einen entsprechenden Antrag in Nordrhein-Westfalen und in Berlin schon gestellt. Man darf auch nicht vergessen, dass die zu schaffenden Stellen für Religionslehrer, vermutlich etwa 4500 Lehrerstellen für geschätzte 700 000 schulpflichtige Muslime bundesweit,.16 ja auch begehrte und umkämpfte Pfründen sein werden, da sie nicht nur Einkommen, sondern auch Einfluss versprechen. Wer wird die besetzen dürfen? 

Neben der Frage der Lehrinhalte und der Lehrerausbildung ist die des künftigen Schicksals der Koranschulen ungeklärt. Sollen sie geschlossen werden, so dass nur der staatlich konzessionierte Islam noch unterrichtet werden darf? Geht das überhaupt? Kann man den religiösen Institutionen - also den Islamischen Zentren und ihren Moscheen - die Unterweisung ihrer Gläubigen in ihrer Religion überhaupt entziehen? Dies ist wohl unmöglich, vor allem weil es dafür keinerlei rechtliche Grundlage gäbe..17 Oder hofft man darauf, sie würden angesichts eines staatlich konzessionierten Islamunterrichts von selber eingehen? Damit ist wohl kaum zu rechnen. All diese Fragen sind unbeantwortet, und sie werden nicht einmal öffentlich diskutiert. 

Der säkulare Staat stößt hier an die Grenzen seiner Möglichkeiten, und er sollte sich nicht übernehmen. Wie der Tübinger Jurist Martin Heckel ausführt, ist die Möglichkeit, Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen zu erteilen, die das Grundgesetz in Art. 7 den Religionsgemeinschaften einräumt, ein “Angebot, nicht ein Gebot der Verfassung”..18 Der Staat hat hier keine Bringschuld. Zunächst einmal sind die Muslime selbst gefordert. 

 

Säkulare Prinzipien und religiöser Glaube

 

Im Rahmen eines Schulversuchs erhalten Kinder in Köln-Ehrenfeld Islam-Unterricht in deutscher Sprache. Im Rahmen des Schulversuchs werden muslimische, evangelische, katholische und konfessionslose Schüler unterrichtet. Lernziel ist es, zum guten Zusammenleben zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen beizutragen. Außerdem soll erprobt werden, wie die islamische Unterweisung als eigenständiges Fach etabliert werden kann. 

dpa-Fotoreport

Vor allem aber sind die eingangs genannten, für den sogenannten Euro-Islam postulierten Prinzipien - Pluralismus, Toleranz, Säkularität, Demokratie, Menschenrechte - nicht religiöse Prinzipien, sondern Errungenschaften eines säkularen Denkens, das sich von religiösen Alleinvertretungsansprüchen freigemacht hat. Sie haben also im säkularen Bereich ihren Ursprung, dort gehören sie hin und dort sollen sie auch bleiben. Es sind die Prinzipen des säkularen Staates überhaupt, die in der Bundesrepublik Deutschland nicht zur Disposition stehen und daher selbstverständlich sind. Es ist nicht die Aufgabe des säkularen Rechtsstaats, sie in einer bestimmten Religion zu verankern, sondern sie ohne Wenn und Aber durchzusetzen. Noch einmal Martin Heckel: “Keine Religionsgemeinschaft muss die säkularen Grundrechte und Organisationsstrukturen der weltlichen Verfassung in ihr Glaubensgut rezipieren”.19 Und: “Die grundlegenden Verfassungswerte des säkularen Staates müssen nicht selbst als Inhalt des Islam vermittelt werden, wie sie ja auch im christlichen Religionsunterricht nicht als Gebot der evangelischen Bekenntnisschriften bzw. der päpstlichen Enzykliken und der Vatikanischen Konzilsdekrete ausgegeben werden können.”.20 Noch weniger kann der säkulare Staat seine nichtreligiösen Prinzipien von außen einer Religion implantieren wollen. Um es mit einem in der ZEIT veröffentlichten Leserbrief zu sagen: “Man kann keinen Euro-Islam auf Kant gründen”..21 Die islamischen Vereine und Verbände, die hierzulande arbeiten wollen, müssen sich in diesen Rahmen des säkularen Staates einfügen und die genannten fünf Prinzipien respektieren - oder sich wenigstens damit abfinden. Andernfalls droht ihnen das Verbot, besonders seit der Abschaffung des Religionsprivilegs im vergangenen Jahr. Einen Verein, den des sogenannten “Kalifen von Köln”, den “Kalifatsstaat” (Hilafet Devleti) hat das Verbot bereits ereilt. Die islamischen Verbände werden sich schon aus eigenem Interesse in diesen Rahmen fügen, und die Religionsfreiheit, die der säkulare Staat gewährt, bietet ihnen ja auch Vorteile und die Möglichkeit der freien Entfaltung. Aber einen einheitlichen Euro-Islam nach dem Gusto der Politiker wird es sicher nicht geben. Zu einer Umerziehung der Muslime, zur pädagogischen Durchsetzung einer bestimmten Gesinnung ist der säkulare Staat weder berufen noch legitimiert. Sollte er es versuchen, wird er damit scheitern. 

 

Literaturhinweise

Engin, H.: Islamischer Religionsunterricht an deutschen Schulen? In: Der Bürger im Staat, 4/2001, S. 241-245 

Hagemann, L./Khoury, A. Th.: Dürfen Muslime in einem nicht-islamischen Land leben? Würzburg 1997 

Hartmann, Th./Krannich, M. (Hrsg.): Muslime im säkularen Rechtsstaat. Berlin 2001 

Heckel, M.: Religionsunterricht für Muslime? In: Juristen Zeitung, 1999, S. 741-758 

Loschelder, W.: Der Islam und die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes. In: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 20, Münster 1986, S. 149-176 

Ramadan, T.: Muslimsein in Europa. Marburg 2001 

Rohe, M.: Der Islam - Alltagskonflikte und Lösungen. 

Rechtliche Perspektiven. Freiburg i. Br. 2001 

Sen, F./Aydýn, H.: Islam in Deutschland. München 2002 Spuler-Stegemann, U.: Muslime in Deutschland. Freiburg i. Br. 2. Auflage 2002 Tibi, B.: Der Islam in Deutschland. Muslime in Deutschland. Stuttgart 2000 

 

Anmerkungen

1 Tibi 2000, S. 342ff. 

2 Tibi 2000, S. 334 

3 Ramadan 2001, S. 159 

4 Ramadan 2001, S. 203ff.; vgl. auch das weiter unten zitierte Druckdokument VIII, 11 unter www.islam.de 

5 Tibi 2000, S. 336 

6 Spuler-Stegemann 20022, bes. S. 101ff. 

7 Verfassungsschutzbericht 2000, S. 205-209 

8 Ramadan 2001, S. 146; Hervorhebung durch T. Ramadan selbst 

9 Ramadan 2001, S. 162 

10 www.islam.deVIII , 4 

11 Ebenda., VIII, S. 2 

12 Ebenda., VIII, S. 8 

13 Ebenda., VIII, S. 11 

14 Tibi 2000, S. 339 

15 Art. 137 WRV/Art. 140 GG 

16 Heckel 1999, S. 741, 744 

17 Heckel 1999, S. 754 b 

18 Heckel 1999, S. 745 b 

19 Heckel 1999, S. 748 b 

20 Heckel 1999, S. 749, Anm. 51 

21 Armin H. Rosswaag in der ZEIT vom 13.6.2002


 

 


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