Zeitschrift

Skandinavien

 

 

Heft 2-3/2014

Hrsg: LpB



 

Download als PDF (4,1 MB)
Inhaltsverzeichnis
 

  

Einleitung

Skandinavien


Skandinavien übt einen besonderen Reiz aus. Wenn wir an Skandinavien denken, fallen uns mustergültige und egalitäre Demokratien, offene Gesellschaften mit einem hohen Maß an sozialer Gerechtigkeit, ein vorbildlicher Wohlfahrtsstaat und leistungsfähige Volkswirtschaften ein. Ist in Skandinavien wirklich alles besser? Was macht eigentlich die nordeuropäische Politik aus? Kann man überhaupt von „dem Norden“ sprechen? Diese Leitfragen will das vorliegende Heft beantworten. Dabei wird ein thematischer Bogen gespannt, der zunächst das Konstrukt „des Nordens“ und im Anschluss das politische System und die Parteienlandschaft, die Sozialpolitik und die Ökonomien der nordeuropäischen Länder in den Blick nimmt. Die Analyse aktueller innen- und gesellschaftspolitischer Fragen sowie die Außen- und Europapolitik runden die Darstellung ab.

Himmelsrichtungen kann man philosophisch und kulturell aufladen. Der „Norden“ wird mit Erhabenheit, mit der Utopie des „besseren, guten und gerechten Lebens“, mit Zukunft und Fortschritt gleichgesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verdichtete sich diese „Nordlandsehnsucht“ im Modell des skandinavischen Wohlfahrtsstaats, der für Toleranz, Konsens, soziale Sicherheit und Frieden schlechthin steht. Bernd Henningsen erörtert die verschiedenen Konnotationen des politisch-ideologischen Konstrukts und entlarvt dabei die Schilderung des „idealen“ nordischen Gemeinwesens als moderne Paradiesfloskel. Der europäische Norden ist nichts Außergewöhnliches. Die skandinavischen Länder sind vielmehr normale, moderne Gesellschaften.

Das Unterfangen der schwedischen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, den Begriff „Nordisches Modell“ markenrechtlich schützen zu lassen, mutet absurd an. Zeitgeschichtlich betrachtet sind diese Anstrengungen um den Markenschutz allerdings nur das jüngste Kapitel einer anhaltenden Debatte über die Auslegung des Begriffs. Urban Lundberg skizziert die Entwicklung des „nordischen Modells“ von den 1930er Jahren bis in die Gegenwart. Erst die Genese des Konstrukts macht den symbolischen Gehalt, die begrifflichen Ambivalenzen und Konflikte um die Deutungshoheit verständlich. Gerade weil der Begriff des nordischen Modells vage ist, bietet er hinreichend Ermessensspielraum für Interpretationen und genügend Anlässe für politische Kontroversen.
Die nordischen Länder werden zu den funktionsfähigsten Demokratien weltweit gezählt. Allerdings unterscheiden sich die demokratischen Institutionen im europäischen Norden beträchtlich. Sven Jochem zeigt in seinem Beitrag aus einer international vergleichenden Perspektive Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede der nordischen Demokratien auf und unterscheidet dabei zwischen formellen und informellen Institutionen der Demokratie. Sowohl bei den formellen Institutionen der Demokratie als auch bei „weichen“ Institutionen der Demokratie – hohes gesellschaftliches sowie politisches Vertrauen, ausgeprägter politischer Pragmatismus sowie effektive gesellschaftliche Konzertierung – sind in Skandinavien in den vergangenen Dekaden Veränderungen zu beobachten. Bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern entwickeln sich die nordischen Demokratien tendenziell hin zu mehr Wettbewerb und weg von konsensualen Praktiken der Demokratie.

Jens Gmeiner analysiert und vergleicht die Parteiensysteme Skandinaviens, die lange Zeit als „eingefroren“ galten. Fünf Parteifamilien, die sich entlang von gesellschaftlichen und kulturellen Konfliktlinien (cleavages) konstituiert hatten, waren lange Zeit dominierend. Erst in den 1970er Jahren kam Bewegung in die Parteienlandschaft: rechtspopulistische, grüne und ökosozialistische sowie christdemokratische Parteien entstanden. Diese Ausdifferenzierung der Parteienlandschaft hat nicht zuletzt die Wählerbasis der skandinavischen Sozialdemokratie erodieren lassen. Der Fokus des Beitrags liegt auf den drei skandinavischen Kernländern Dänemark, Norwegen und Schweden, weniger auf Finnland und Island. Zunächst werden die historische Entwicklung der Parteiensysteme sowie die Kräfteverhältnisse bis zum Beginn der 1970er Jahre erörtert. Anschließend folgen eine Skizzierung der nach 1970 einsetzenden gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen und eine Beschreibung neu hinzugekommener parteipolitischer Akteure.

Seit den 1980er Jahren hat das wohlfahrtsstaatliche Modell Skandinaviens weltweit Bewunderung ausgelöst: In Skandinavien seien die sozialen Sicherungssysteme umfassender ausgebaut als in allen anderen europäischen Staaten. Matti Alestalo, Sven E.O. Hort und Stein Kuhnle stellen das skandinavische Wohlfahrtsmodell kritisch auf den Prüfstand. In dem Beitrag werden zunächst die zeitgeschichtlichen Entwicklungslinien sowie die wichtigsten Merkmale der wohlfahrtsstaatlichen Politik Skandinaviens skizziert. Nach einer Analyse der neueren Rahmenbedingungen werden schließlich in vergleichender Perspektive „Lehren“ aus der Genese und Struktur sozialer Sicherungssysteme in Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden gezogen. Die Autoren beschwören nicht das Ende des nordeuropäischen Wohlfahrtsmodells herauf, machen aber deutlich, dass die Leistungen des skandinavischen Wohlfahrtsmodells in jüngster Zeit merklich abgebaut wurden.

Die skandinavischen Länder haben allem Anschein nach die globale Finanz- und Schuldenkrise gut überstanden. Prognosen zufolge sind die aktuellen Wachstumsaussichten durchaus positiv. Bereits zu Beginn der sich 2007 abzeichnenden Krise waren die skandinavischen Volkswirtschaften aufgrund ihrer soliden Wirtschaftsentwicklung gut aufgestellt. Sie wurden dennoch nicht gänzlich von der Rezession verschont. Die unterschiedlichen Krisenpolitiken, Konjunkturpakete und Bemühungen um eine geordnete Haushalts- und Finanzpolitik trugen mittelfristig zur ökonomischen Konsolidierung bei. Norwegen überstand die Krise nahezu unbeschadet, und auch Schweden sowie Finnland gelang es, ihre Wirtschaft wieder anzukurbeln. Islands und Dänemarks konjunkturelle Erholung hingegen verlief zögerlicher. Der Erfolg der skandinavischen Ökonomien – so das Fazit von Jørgen Goul Andersen – beruht auf einer adäquaten sozialen Absicherung und sozialen Investitionen einerseits, auf Flexibilität und Wandlungsfähigkeit sowie einer aktiven Arbeitsmarktpolitik andererseits.

Die nordischen Wohlfahrtsstaaten gehören zu den Staaten Europas, die überdurchschnittlich viel Geld in Bildung investieren und dementsprechend gut bei den PISA-Studien abgeschnitten haben. Susanne Wiborg erörtert die skandinavische Bildungspolitik und die Bildungsreformen der vergangenen 30 Jahre. Aufgrund veränderter ökonomischer Rahmenbedingungen und des sich verschärfenden internationalen Wettbewerbs gerieten Fragen der -Bildungspolitik immer stärker in den Fokus der nationalen Politik. Bildung avancierte zu einer wichtigen volkswirtschaftlichen Ressource. Auch wenn die Länder Skandinaviens nach wie vor am eingliedrigen Gesamtschulsystem festhalten, haben sie ihre Bildungssysteme reformiert, um die Qualität und Effizienz des Bildungssektors zu verbessern. Leitgedanke der Reformen war, dass miteinander konkurrierende Schulen das Leistungsniveau insgesamt anheben sollten.

Die skandinavischen Länder haben auf das weltweite Migrationsgeschehen und die kulturelle Diversität ihrer Gesellschaften politisch durchaus unterschiedlich reagiert. Grete Brochmann und Anniken Hagelund skizzieren die verschiedenen Phasen der Integrationspolitik in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten. Sie bilanzieren die Ausländer- und Zuwanderungspolitik seit den 1960er Jahren, als die ersten ausländischen Arbeitskräfte nach Schweden geholt wurden. Dabei skizzieren sie die zumeist von arbeitsmarktpolitischen Überlegungen geprägte und unter dem Gesichtspunkt der Integration oft halbherzig betriebene Zuwanderungspolitik. Der Beitrag nimmt hauptsächlich die schwedische, norwegische und dänische Integrationspolitik in den Blick. Vergleicht man die drei Länder, treten die Unterschiede deutlich zutage: Die der liberalen Tradition folgende Integrationspolitik Schwedens gilt international als ambitioniert und erfolgreich. Dänemark hingegen verfolgt einen restriktiven Kurs, Norwegen praktiziert eine eher gemäßigte Politik.

Die Ostseeanrainerstaaten pflegten schon immer enge politische und kulturelle Verbindungen untereinander. Und dennoch war der Ostseeraum im 19. und 20. Jahrhundert ein Streitobjekt rivalisierender Großmächte um die Vorherrschaft in diesem Teil Europas. Der nach 1945 einsetzende Kalte Krieg zog mitten durch die Ostsee einen Eisernen Vorhang und unterbrach die historisch gewachsenen Verbindungen der Ostseeanrainer. Die Konfrontation der beiden Machtblöcke förderte die Attraktivität des „nordischen Modells“, das einen dritten Weg zwischen kapitalistischer und kommunistischer Ideologie repräsentierte. Der Kalte Krieg verbesserte zwar die Kooperation der skandinavischen Länder untereinander. Bei entscheidenden Fragen dominierten jedoch die Partikularinteressen und politischen Präferenzen der einzelnen Länder, die auf ihre Souveränität und nationale Integrität pochten. Angesichts der Hemmnisse und Differenzen konnte und kann die innernordische Kooperation – so Uffe Østergård – nur zu bescheidenen Erfolgen führen.

Die skandinavischen Staaten praktizieren untereinander eine enge, gut funktionierende Zusammenarbeit und überzeugen auf internationaler Ebene durch ein kohärentes Auftreten. Die europäische Einigung hingegen wird eher mit Skepsis betrachtet. Trotz dieser skeptischen Grundhaltung gibt es auf mehreren Politikfeldern pragmatische und verlässliche Kooperationen zwischen den nordischen Staaten und der Europäischen Union (EU). Im Mittelpunkt der nordischen Interessen stehen dabei die wirtschaftliche Kooperation, die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit Europas sowie die Vollendung des Binnenmarktes. Nach einem kurzen Abriss der historischen Beziehungen zur EU erläutert Tobias Etzold die unterschiedlichen Integrationsansätze der einzelnen Staaten Skandinaviens anhand wichtiger Eckpunkte. Die anhaltende europäische Wirtschafts- und Schuldenkrise ließ auch Skandinavien nicht unberührt und hat nationale EU-Politiken verändert. Ihre Nachwirkungen sind mithin ein Grund für die in Skandinavien weit verbreitete Auffassung, dass die EU zunächst ihre aktuellen Probleme lösen sollte, bevor institutionelle und vertragsrechtliche Reformen in den Blick genommen werden.

Die Außen- und Sicherheitspolitik der im 19. und 20. Jahrhundert entstandenen skandinavischen Nationalstaaten hat unterschiedliche Phasen durchlaufen. Eine 1930 zunächst noch gemeinsam verfolgte Neutralitätspolitik blieb angesichts der machtpolitischen Konstellationen während des Zweiten Weltkriegs erfolglos. Nach 1945 waren die nordeuropäischen Länder bestrebt, ihre Souveränität zu wahren und sich im beginnenden Kalten Krieg zu positionieren. 1948 wurde eine skandinavische Verteidigungsunion erwogen, die letztlich an den Differenzen der nordischen Staaten scheiterte. Dänemark, Norwegen und Island wurden Gründungsmitglieder der NATO, während Schweden seine neutralitätspolitische Tradition fortführte und Finnland aufgrund der Grenzlage zur UdSSR einen pragmatischen Kurs verfolgte. Um die unterschiedlichen sicherheitspolitischen Orientierungen zu kompensieren, wurde 1952 der Nordische Rat gegründet, der mit einer aktiven und in internationaler Hinsicht mit einer stärker politisierten Außenpolitik einherging. In der Europapolitik hingegen zeigten sich die nordischen Länder eher zögerlich. Ambivalent gestaltete sich auch die Kooperation mit den baltischen Ländern Estland, Lettland und Litauen. Die seit 2005 zu beobachtende Renaissance der nordischen Zusammenarbeit vermag die Heterogenität der von den skandinavischen Staaten verfolgten Außen- und Sicherheitspolitik – so das Fazit von Norbert Götz – nicht zu überdecken.

Bernd Henningsen und Sven Jochem, die mit ihrem fachlichen Rat wesentlich zum Entstehen des vorliegenden Heftes beigetragen haben, bündeln in einem kurzen Fazit die hier versammelten Beiträge. Sie stellen dabei die nordische Homogenität und die Exzeptionalität des nordischen Modells in Frage. Die skandinavischen „Wunderländer“ sind kein monolithischer Block kulturell homogener Gesellschaften und Kulturen, sondern heterogene, weltoffene, multikulturelle, und letztlich vielschichtige Länder. Die Heterogenität hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten noch zugenommen. Abschließend werden Desiderate benannt, die für intensivere Forschungsbemühungen richtungweisend sein können.

Allen Autorinnen und Autoren sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Ein besonderer Dank geht an Sarah Klemm, die mit der notwendigen wissenschaftlichen Genauigkeit und mit großer Umsicht die Texte redigiert hat. Dank gebührt nicht zuletzt dem Schwabenverlag und der Druckvorstufe für die stets gute und effiziente Zusammenarbeit.
 

Siegfried Frech



 

 


Copyright ©   2014  LpB Baden-Württemberg   HOME

Kontakt / Vorschläge / Verbesserungen bitte an: lpb@lpb-bw.de