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Gemeinde Frittlingen (Hrsg.)
Frittlingen 797 - 1997. Geschichte und Gegenwart
Geiger Verlag, Horb am Neckar 1996, 532 S.
Heimatbücher werden immer besser. Früher waren sie eher betulich,
die heile Welt der Dorfgemeinschaft beschwörend, in der nichts Schlimmes passiert sein
konnte. Zumindest nicht in den Zeiten, von denen es noch Überlebende gab. Entsprechend
blieb Zeitgeschichte ausgespart, die Weimarer Zeit und erst recht den Nationalsozialismus
gab es nicht, nur Kriegszerstörungen und Besatzungszeit (das kam ja von
"außen"). Je weiter die Geschichte vom Heute entfernt war, desto breiter wurde
sie behandelt: Vor- und Frühgeschichte, Mittelalter. Auch die Erdgeschichte nahm breiten
Raum ein. Verständlich war das schon, wollten doch Beteiligte, Verstrickte nur ungern an
eine unrühmliche Vergangenheit erinnert werden, zumal diejenigen mit der Gnade der
späten Geburt Geschichte durchaus auch als Waffe zu nutzen verstanden, um ihre
Aggressionen loszuwerden, um sich ihren Platz am Ort zu erobern.
Inzwischen ist der Abstand groß genug, um unbefangener an jene Zeit
herangehen zu können, durchaus auch unter Nennung der Namen derer, die sich nicht gerade
rühmlich hervorgetan haben. Eines der ersten Heimatbücher, die die Zeit des Untergangs
der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus breit thematisierten, war das Heimatbuch
von Gomaringen. Hier machte sich positiv bemerkbar, daß in Gomaringen der Kreisarchivar
von Tübingen, Wolfgang Sannwald, wohnt, der die Herausgabe übernommen hatte.
In dieser positiven und anspruchsvollen Linie liegt auch das
Heimatbuch von Frittlingen im Kreis Tuttlingen, das soeben zum 1200jährigen Ortsjubiläum
erschienen ist. Wenn man bedenkt, daß dieses Dorf nur knapp 2000 Einwohner zählt, stellt
diese Publikation eine beachtliche Leistung dar. Bürgermeister Anton Stier ist es
gelungen, eine stattliche Anzahl guter Autoren zu gewinnen, viele von ihnen
Gymnasiallehrer.
Der Beitrag über die Zeit der Weltkriege ist unter (An-)Leitung von
Michael Wisheit von Schülern erarbeitet worden, die Zeitungen und andere Quellen
ausgewertet sowie Zeitzeugen interviewt haben. Damit kein falscher Eindruck entsteht, wird
zu Beginn und am Ende des Beitrags betont, daß es hier nicht um Abrechnung mit den
Altvorderen geht, daß hier keine besserwisserische Vergangenheitsbewältigung vorgenommen
werden soll: Wer weiß, wie wir uns in einer ähnlichen Situation verhalten hätten - das
ist der ehrliche Zugang zu diesem heiklen Kapitel der Dorfgeschichte. - Besonders spannend
in diesem Buch ist jenes Kapitel, das so harmlos "Bevölkerungsentwicklung der
Gemeinde Frittlingen" heißt, verfaßt von Ulrich Fiedler. Hier wird die
wirtschaftliche und soziale Lage eines Realteilungsdorfes am Fuß des Großen Heubergs,
der jahrhundertelang ein wirtschaftliches Notstandsgebiet war, im 19. und 20. Jahrhundert
sehr plastisch greifbar. Breiten Raum nimmt die Auswanderung vor allem nach Amerika ein,
deren Hintergründe am Beispiel konkreter namhaft gemachter Schicksale verdeutlicht
werden: zu kleiner Landbesitz, überbesetztes Handwerk, zu viele Kinder. Nicht zuletzt
versuchte die Gemeinde auf ihre Kosten - wie auch anderswo üblich - die zahlreichen
Unterstützungsempfänger abzuschieben, natürlich auch die ledigen Mütter und erst recht
die Kriminellen. Um diese Abschiebungsaktionen finanzieren zu können, nahm die Gemeinde
sogar Kredite auf. Weit mehr als 600 Personen wanderten so zwischen 1800 und 1914 aus
Frittlingen aus, 77% davon nach Amerika (zum Vergleich:1900 wies die Gemeinde 892
Einwohner auf). Der Beitrag interessiert sich auch für die oft problematische Überfahrt
und das Schicksal in der Neuen Welt - wobei lediglich die Lebensläufe erfolgreicher
Auswanderer bekannt sind. Erst die Industrialisierung erlaubte dann allen Frittlingern ein
menschenwürdiges Auskommen, heute ist bereits jeder 10. Einwohner Ausländer, wobei die
Türken mit 45,4 % die größte Gruppe stellen. Die Griechen, jahrelang die stärkste
Gruppe, haben längst ihren eigenen Verein, wie das Kapitel über die Frittlinger Vereine
ausweist.
Auch sonst enthält das Frittlinger Heimatbuch viele interessante
Kapitel, die auch für den spannend zu lesen sind, der diesen Ort nicht kennt - aber
vielleicht will er ihn dann kennen lernen.
(Hans-Georg Wehling)
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