Zeitschrift 

Der Bürger im Staat

Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert

Medizin - Naturwissenschaft - Technik
 
 
 

Heft 3/2000 , Hrsg.: LpB

 

Inhaltsverzeichnis
 

Medizinische Revolution oder gefährliches Wissen?

Das menschliche Erbgut 

Genpatente – Gendiagnosen – Gentherapien
Von Stefanie Seltmann

Am 26. Juni 2000 präsentierten Genforscher die beinahe vollständige Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Dieser wissenschaftliche Durchbruch birgt sowohl Hoffnungen als auch Risiken. Einerseits könnten defekte Erbanlagen ausgetauscht oder repariert werden. Vergleichsweise einfach ist das bei allen Krankheiten, die nur auf einem einzigen fehlerhaften Gen beruhen wie die Bluterkrankheit, erblicher Veitstanz, Mucoviszidose. Schwieriger ist das Problem, wenn mehrere Gene und die Umwelt verhängnisvoll zusammen spielen wie bei Krebs oder Herz-Kreislauf-Krankheiten. – Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms läßt allerdings Erbanlagen erkennen, bevor eine Krankheit ausgebrochen ist. Werden in Zukunft Arbeitgeber oder Krankenversicherungen sich einen Gen-Pass vorlegen lassen? Die Diskussion um die ethischen Probleme der Gen-Forschung steht erst am Anfang.
Red.


Der Wettlauf um die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts

Anfang April dieses Jahres gab der Amerikaner Craig Venter bekannt, er hätte 99 Prozent des menschlichen Erbguts entschlüsselt. Und das in nur rund zwei Jahren! Damit blamierte er vor allem die öffentlich geförderten Genomforscher, die eigens eine Human-Genom-Organisation gegründet hatten, abgekürzt HUGO, um dem Mammutprojekt mit vereinten Kräften zu Leibe zu rücken. Über 100 Arbeitsgruppen weltweit hatten das Erbgut stückchenweise unter sich aufgeteilt, um nach und nach die entschlüsselten Abschnitte zu einem großen Ganzen zusammenzusetzen. Das war aber schon 1989 gewesen, also vor über 10 Jahren! Wie also konnte Craig Venter im Alleingang die weltweite Organisation überholen? Zum Ersten war es natürlich kein Alleingang: Craig Venter hat in seiner Firma Celera an die 200 Mitarbeiter und besitzt außerdem Computer, die zu den schnellsten der Welt gehören. Und die braucht er, weil er eine völlig andere „Entschlüsselungstechnik“ einsetzt als HUGO: Die sogenannte Schrotschuß-Methode, bei der er die menschliche Erbsubstanz in kleine Bruchstücke zerlegt. Die einzelnen Bruchstücke – 60 Millionen Stück! – werden sequenziert, also die Reihenfolge der Bausteine, der sogenannten Basen, bestimmt, und das Ergebnis anschließend in die Computer eingegeben. Die erledigen dann den Rest der Arbeit, indem sie die Puzzlesteine zum Gesamtbild zusammenfügen. Das zumindest behauptet Venter, vorgelegt hat er seine Ergebnisse noch nicht! „Diese Methode ist viel zu ungenau“, glaubt denn auch Professor André Rosenthal vom Institut für Molekulare Biotechnologie der Universität Jena, „Craig Venter wird Tausende von Fehlern machen!“ prophezeit er seinem Konkurrenten in den USA. Und dennoch war Venter dabei, als HUGO kürzlich auf vier gleichzeitigen Pressekonferenzen weltweit eine beinahe vollständige Karte des menschlichen Erbguts vorgelegt hat. Seite an Seite mit Francis Collins, dem Chef von HUGO, verkündeten die beiden ehemaligen Kontrahenten den großen wissenschaftlichen Durchbruch. Wie die weitere Zusammenarbeit aussehen wird, bleibt abzuwarten, doch eins hat Craig Venter jedenfalls erreicht: Daß HUGO sich mächtig anstrengt, dem Privatforscher das Feld nicht kampflos zu überlassen. 

Es geht um die Patentierung – und um viel Geld

Denn im Wettlauf um das menschliche Erbgut geht es um mehr als um wissenschaftlichen Ruhm: Wer ein Gen zuerst entdeckt und eine ungefähre Vorstellung davon hat, welche Aufgabe es im menschlichen Körper erfüllt, kann es patentieren lassen – und damit reich werden! Vorbild ist die amerikanische Firma Amgen, die das Gen für ein blutbildendes Hormon, das Erythropoitin, geschützt hat. Das Gen hat Amgen in Bakterien eingeschleust, die das Hormon jetzt in großen Mengen äußerst billig herstellen. Aufgereinigt wird es weltweit an Dialyse-Patienten verkauft – manchmal auch als Doping-Mittel an Radsportler – und beschert Amgen so einen Jahresumsatz von einer Milliarde Dollar! Ein einziges Gen! Kein Wunder, daß Craig Venter schon auf 6000 menschliche Gene einen Patentantrag gestellt hat – und kein Wunder, daß HUGO das verhindern will! Mit Hochdruck publizieren die Wissenschaftler jetzt die Sequenz von einem Chromosom nach dem anderen, denn veröffentlichte Sequenzen sind vom Patentschutz ausgeschlossen. Und dabei geht es nicht einmal darum, Venter um den verdienten Gewinn seiner Anstrengungen zu bringen: Man will nur verhindern, daß hier Tausende von spannenden Genen, also Gene, die etwas mit Krankheiten zu tun haben, in der Schublade verschwinden. Denn vom Gen zum Medikament ist es ein weiter Weg und den wird selbst ein Craig Venter nicht alleine schaffen. Die öffentliche Forschung an patentierten Genen ist zwar erlaubt, aber Pharmafirmen, die den Aufwand einer Medikamentenentwicklung finanziell und personell leisten könnten, werden natürlich abgeschreckt, wenn der eventuelle Gewinn mit dem Patentinhaber geteilt werden müßte. 

Die Hauptarbeit kommt erst noch: die Funktionsanalyse

Bevor jedoch an Medikamentenentwicklung überhaupt gedacht werden kann, muß erst einmal herausgefunden werden, welche Aufgabe ein Gen in der Zelle erfüllt: Die sogenannte Funktionsanalyse. Denn das Humane Genomprojekt liefert zunächst nichts weiter als die exakte Reihenfolge von den 3 Milliarden Bausteinen des menschlichen Erbguts, verteilt auf 23 Chromosomen. Nach Ansicht aller Beteiligten beginnt die wahre Herkulesarbeit erst dann: Nämlich den Text zu verstehen, der da in unserer Erbsubstanz, der DNA, verschlüsselt ist. Und hier scheint die große Stunde der deutschen Genforscher zu kommen: „In der Funktionsanalyse wird Deutschland nicht nur dabei sein, da wird Deutschland vorn sein“, behauptet Rudi Balling vom GSF Forschungszentrum bei München. Er ist selbst einer von den Wissenschaftlern, die sich mit den Aufgaben der Gene im Körper befassen. Dazu schaltet er bei Mäusen gezielt einzelne Gene aus, um anschließend zu beobachten, was bei diesen sogenannten knock-out-Mäusen passiert. Und was bringt das für die Genanalyse des Menschen? Balling lacht: „Mensch und Maus sind sich viel ähnlicher als man das vermutet hätte. Die allermeisten Gene haben genau die gleiche Funktion in der Maus wie im Menschen.“ Kollegen von Balling arbeiten sogar mit Fischen, Fliegen oder Würmern, und auch bei diesen vergleichsweise einfachen Organismen ähneln sich die Gene von Mensch und Tier zum Teil sehr stark. So entdeckte zum Beispiel die Nobelpreisträgerin von 1995, Christiane Nüsslein-Vollhard aus Tübingen, bei der Taufliege Drosophila viele Gene, die während der Embryonalentwicklung eine Rolle spielen. Und obwohl ein Fliegenembryo – eine Made! – nun wahrlich anders aussieht als ein werdender Mensch, bestimmen die gleichen Gene, wo und wann ein Auge entsteht oder wo später einmal vorne und wo hinten ist. Ralf Baumeister vom Genzentrum in Martinsried dagegen hat ein Gen im Fadenwurm Caenorhabditis elegans entdeckt, das beim Menschen die Alzheimer-Krankheit auslöst: Zerstörte er dieses Gen beim Wurm, wurde der zwar nicht vergeßlich, aber er konnte keine Eier mehr legen. Pflanzte Baumeister dem knock-out-Wurm daraufhin das menschliche Alzheimer-Gen ein, klappte das Eierlegen wieder: Offenbar konnte das menschliche Gen die Aufgabe des Wurmgens auf molekularer Ebene übernehmen! „Wenn man ein Krankheitsgen beim Menschen gefunden hat, findet man diese Erbanlage mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent auch beim Fadenwurm“, erklärt Baumeister, von den 289 bisher identifizierten Krankheitsgenen beim Menschen existieren 177 auch bei der Taufliege. 

6000 menschliche Krankheiten durch den Ausfall eines einzigen Gens verursacht

Etwa 6000 Krankheiten des Menschen sind sogenannte monogenetische Erbkrankheiten, bei denen der Ausfall eines einzigen Gens die Krankheit verursacht. Sie werden nach den Regeln vererbt, die der Augustinermönch Gregor Mendel im 19. Jahrhundert bei Erbsen gefunden hatte. Zu diesen Krankheiten gehört die Mucoviszidose, bei der zäher Schleim die Lungen der Patienten verstopft, der erbliche Veitstanz, die Sichelzellenanämie oder die Bluterkrankheit. Aber auch so seltene Krankheiten wie die erbliche Nachtblindheit oder eine Immunschwäche namens Wiskott-Aldrich-Syndrom werden durch ein einziges defektes Gen ausgelöst. „Diese Gene haben wir bald“, glaubt Alfons Meindl von der Abteilung Medizinische Genetik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Doch wie findet man ein Krankheitsgen beim Menschen? Knock out-Mutanten entsprechend der Maus sind nicht nur ethisch undenkbar, sondern auch technisch gar nicht machbar. Die Suche nach einem bestimmten Krankheitsgen beginnt daher meist mit der Nachricht über eine Familie, in der diese Krankheit gehäuft vorkommt. Die genetische Ausstattung der gesunden Familienmitglieder wird mit der der Erkrankten verglichen, und dabei kommen die Genetiker dem gesuchten Gen langsam aber sicher auf die Spur. 

Der erbliche Veitstanz: ein „Kratzer in der Platte“

Wie im Beispiel der Chorea Huntington, des erblichen Veitstanzes. Diese Nervenkrankheit hat ihren Namen zum einen von Chorea, den Bewegungsstörungen, die die Krankheit begleiten, und von George Huntington, dem amerikanischen Arzt, der die Krankheit 1872 zum erstenmal beschrieb. Als markantestes Merkmal nennt Huntington einen „Schüttelkrampf der willkürlichen Muskeln“, der allmählich einsetzt, sich über die Jahre verschlimmert, bis das „unglückliche Opfer nurmehr ein zitterndes Wrack ist“. Darüberhinaus erleiden die Kranken einen geistigen Verfall, der im Schwachsinn endet. Zehn bis zwanzig Jahre dauert die Krankheit, bevor sie mit dem sicheren Tod endet. Die Gehirne der Verstorbenen zeigen massenhaft zugrundegegangene Nervenzellen. Schon vor dem „Gen-Zeitalter“ wußten die Mediziner, daß der Veitstanz vererbt wird, und zwar dominant: Von den beiden Huntingtin-Genen, die jeder Mensch von Vater und Mutter erbt, muß nur eines fehlerhaft sein, damit die Krankheit zum Vorschein tritt. Und so selten ist der Veitstanz nicht: Von 20 000 Menschen leidet einer an ihr, in Deutschland sind das etwa 7000 bis 8000 Menschen. Eine der weltweit größten Ansammlungen von Opfern der erblichen Chorea ist eine Großfamilie in Venezuela: Aufmerksam auf sie wurde ein venezolanischer Arzt Anfang der sechziger Jahre, nachdem er gehört hatte, daß am Maracaibo-See eine Gruppe ständig Betrunkener leben würde. Von 1981 an reiste alljährlich ein amerikanisches Wissenschaftlerteam zum See, um die Familienmitglieder zu untersuchen, ihre Verwandtschaftsverhältnisse zu klären und Blutproben zu nehmen, zwecks späterer Genanalyse. Doch es dauerte noch bis zum Jahr 1993, ehe das Huntingtin-Gen auf dem Chromosom 4 dingfest gemacht werden konnte. Als Krankheitsauslösender Fehler entpuppte sich ein „Kratzer in der Platte“: Mitten im Gen wiederholte sich die Buchstabenkombination CAG, also die Basen Cytosin, Adenin und Guanin, bis zu 180mal! Normalerweise kommt dieses Triplett höchstens 11 bis 34 mal hintereinander vor! Je öfter sich die CAGs wiederholen, desto früher bricht die Krankheit aus, und desto schwerer verläuft sie. Warum das so ist, hat Erich Wanker mit seiner Arbeitsgruppe am Berliner Max-Planck-Institut für molekulare Genetik herausgefunden: Die Kombination CAG steht in der Erbsubstanz für die Aminosäure Glutamin im fertigen Eiweiß: Je mehr Glutamine im Eiweiß aneinander gereiht sind, desto leichter verklumpen die Moleküle miteinander und verstopfen so den Kern der Nervenzellen, was schließlich zum Tod der Zellen führt. 

Der Mucoviszidose auf der Spur

Bei der Mucoviszidose mußte man nicht bis Südamerika reisen, um dem Gen auf die Schliche zu kommen. Diese Krankheit, auch Cystische Fibrose genannt, (weil die Bauchspeicheldrüse der Kranken vermehrt Bindegewebe bildet (Fibrose), das mit flüssigkeitsgefüllten Hohlräumen durchsetzt ist (Zysten)) ist die häufigste Erbkrankheit in Mitteleuropa, jeder 20. Mensch hat ein defektes Gen in seinem Erbgut. Trotzdem wird nur jedes 2000. Kind mit der Krankheit geboren, denn im Gegensatz zur Chorea Huntington wird die Mucoviszidose rezessiv vererbt: Nur wer sowohl vom Vater als auch von Mutter das CF-Gen erbt, wird krank. 1989 verkündete ein Amerikanisch-Kanadisches Forscherteam unter der Leitung von Francis Collins (dem heutigen Leiter des Humanen Genomprojekts), sie hätten nach achtjähriger Suche das Mucoviszidose Gen auf dem Chromosom 7 gefunden: 250 000 Bausteine lang ist das Ungetüm, und entsprechend viele verschiedene Fehler treten darin auf, die alle zu unterschiedlich schweren Ausprägungen der Krankheit führen. Das Eiweiß, das von dem Gen hergestellt wird, ist ein sogenannter Ionenkanal, der in der Membran von Drüsenzellen sitzt. In den Bronchien, den Schweißdrüsen und im Verdauungstrakt kontrolliert er die Ein- und Ausfuhr von Chloridionen. Je nachdem, ob der Kanal nur etwas kleiner ist oder ob er total fehlt, reichen die Auswirkungen von männlicher Unfruchtbarkeit bis hin zu schwersten Krankheiten, die nach ungefähr 20 Jahren mit dem Leben unvereinbar sind. Der häufigste Fehler jedoch – er tritt bei rund einem Drittel der Patienten auf – besteht in dem Fehlen von nur drei Bausteinen in der Erbsubstanz, wodurch der Kanal nur um eine einzige Aminosäure kürzer wird – von 1480 Aminosäuren insgesamt! Das aber führt dazu, daß er den Ionentransport aus der Zelle nicht mehr regeln kann, er ist funktionslos.

Vom Gen zur Therapie

Und wie kommt es nun vom Gen zur Therapie? Da gibt es verschiedene Möglichkeiten: Im Beispiel von Amgen wird das Gen selbst zur Produktion des fehlenden Hormons benutzt (siehe oben) und den Patienten dann intravenös verabreicht. Im Fall der Chorea Huntington geht das natürlich nicht so einfach, denn hier fehlt das Eiweiß ja nicht, ganz im Gegenteil, es müßte eher beseitigt werden. Erich Wanker schleuste das Huntingtin-Gen in Bakterien ein und ließ die Mikroben das menschliche Eiweiß herstellen: Er fand heraus, daß ab der Anzahl von 51 Glutaminen die Eiweiße zu unlöslichen Faserbündeln verklumpen. Englische Forscher am Londoner Guy´s Hospital schleusten währenddessen das Huntingtin Gen in Mäuse und fanden die unlöslichen Faserbündel in den Nervenzellkernen der Tiere wieder. Damit war das Krankheitsmodell bewiesen. Doch wie nun weiter? Es müßte doch möglich sein, das Verklumpen irgendwie zu verhindern. Sozusagen vorsorglich, denn die Krankheit braucht ja lange genug, um zu entstehen, obwohl das kranke Gen ja von Geburt an da ist. Erich Wanker testete daraufhin eine ganze „Bibliothek“ von chemischen Substanzen, insgesamt 180 000 verschiedene!, auf ihre Fähigkeit, diesen „Verklumpungseffekt“ zu verhindern. Nach dem ersten Durchsuchen kamen 700 in die engere Auswahl, nach weiteren Tests blieben immerhin noch 70 vielversprechende Kandidaten übrig. Die ersten 10 werden derzeit in der Zellkultur getestet, ob sie sich unter lebenden Bedingungen immer noch bewähren. Die hieraus übrig gebliebenen werden dann nach England geschickt, um sie in der „Huntingtin“-Maus zu testen. Und erst wer hier besteht, hat die Chance, in klinische Studien am Menschen aufgenommen zu werden, was auch noch einmal ein paar Jahre dauern wird. Trotzdem ist hier ein hoffnungsvoller Ansatz vorhanden, eine der gefürchtetesten Nervenkrankheiten den Schrecken zu nehmen!

Gentherapie – Rückschläge, aber auch eindrucksvolle Beispiele

Bei der Mucoviszidose könnte man das Gen zwar auch in Bakterien stecken und die Mikroben den Kanal produzieren lassen, aber wie soll man ihn anschließend in die Zellen bekommen? Genau in die Zellmembran? Praktischer wäre es schon, den Kanal sozusagen vor Ort herstellen zu lassen, das Gen also in die Drüsenzellen zu schleusen und dort zu aktivieren. Genau das beabsichtigen Forscher in aller Welt im Rahmen der Gentherapie: Eine Therapie mit Genen. Leider haben die Wissenschaftler ausgerechnet bei der Mukoviszidose viele Rückschläge einstecken müssen, so daß hier wohl noch eine Weile auf eine Gentherapie gewartet werden muß, aber daß die Gentherapie im Prinzip keine schlechte Idee ist, das beweisen einige eindrucksvolle Beispiele. Zum Beispiel in Paris. Dort kann Alain Fischer vom Kinderkrankenhaus Necker für sich beanspruchen, der erste gewesen zu sein, der mit der Gentherapie tatsächlich Patienten geheilt hat. Er behandelte zwei kleine Mädchen, die eine schwere angeborene Immunschwäche hatten. So schwer, daß sie nie ihre keimfreie Umgebung im Krankenhaus verlassen durften, geschweige denn mit anderen Kindern hätten spielen können. Der Grund für ihre Krankheit war ein defektes Gen in den Zellen ihres Abwehrsystems, den weißen Blutkörperchen. Alain Fischer isolierte nun unreife weiße Blutkörperchen, sogenannte Stammzellen, aus dem Blut der Kinder. In diese Stammzellen schmuggelte er mithilfe von Viren das Gen, das den Abwehr-Zellen der Kinder fehlte. Stammzellen haben den Vorteil, daß sie sich unbegrenzt vermehren können, und dabei reife Abwehrzellen bilden. Also spekulierte Fischer, daß die gentherapierten Stammzellen nun gesunde Abwehrzellen liefern sollten. Im Reagenzglas testete er diese Idee erst einmal aus, und als sich tatsächlich viele funktionstüchtige weiße Blutkörperchen bildeten, gab Alain Fischer den Kindern ihre reparierten Stammzellen zurück ins Blut. Das war im März 1999. Und, man glaubt es kaum, seither sind die Kinder gesund, sie leben zuhause bei ihren Eltern und sind widerstandsfähig gegen Infektionen! Noch weiß niemand, ob die Wirkung der Gentherapie wirklich lebenslang andauern wird, aber sensationell ist die Sache jetzt schon!

Mehr als Therapie: Heilung

Clifford Steer von der Universität von Minnesota hat sich die Bluterkrankheit vorgenommen: Sie ist eine Erbkrankheit, bei der ein einziger Fehler in einem einzigen Gen die fatale Folge hat, daß das Blut nicht mehr gerinnen kann. Die Patienten erhalten deshalb einen Ersatzstoff aus Blutkonserven, doch damit droht ihnen neue Gefahr: Viele von ihnen sind mit dem AIDS-Erreger HIV infiziert. Steer sagte sich nun: Wenn die Patienten nur diesen einen Fehler in ihrem Gen haben, der Rest des Gens aber noch in Ordnung ist, dann müßte das doch eigentlich repariert werden können! Sozusagen eine Gen-Therapie im eigentlichen Sinne, eine Behandlung des kranken Gens und zwar direkt vor Ort, in der Zelle. Seine Vorgehensweise erklärt er so: „Wir benutzen ein sogenanntes Oligonucleotid, es ist sehr klein, nicht so groß wie das Gen, nur wie ein kleiner Ausschnitt davon. Aber es findet das Gen, an dem wir interessiert sind, und es findet sogar genau den Abschnitt auf dem Gen, den wir verändern wollen. Und dann erklärt das Oligonucleotid auf komplizierte Art und Weise der Reparaturwerkstatt der Zelle, daß wir diese Reparatur wollen und daraufhin repariert die Zelle ihren eigenen Fehler! Und sobald der Fehler behoben ist, ist er für immer korrigiert. Die genetische Information der Zelle wird sozusagen neu geschrieben. Und zwar irreversibel und damit haben wir hier keine Therapie sondern eine Heilung!“ Es genügt übrigens, nur in einigen Zellen das kranke Gen zu reparieren, um den Gerinnungsfaktor in ausreichender Menge herstellen zu können. Allerdings muß es sich um eine Leberzelle handeln, denn nur sie besitzt die Fähigkeit, den Faktor zu bilden und ihn anschließend ins Blut abzugeben. Damit also das Oligonucleotid, das kurze Genstückchen mit der korrekten Information, die Leberzellen auch findet, koppelt Clifford Steer es an ein Hilfsmolekül, das spezifische Rezeptoren auf der Leber erkennt. Der Vorteil gegenüber anderen Gentherapie-Konzepten ist das völlige Fehlen von Viren, die häufig als Genfähren benutzt werden. Und gerade diese Viren stehen in letzter Zeit in der Kritik, da einige Todesfälle im Zusammenhang mit der Gentherapie auf eben diese viralen Genfähren zurückgeführt wurden. Noch ist Steer´s Gentherapie-Konzept in der sogenannten prä-klinischen Phase, das heißt: im Tierversuch. Bluterkranke Hunde und Ratten konnte er schon heilen, ab Herbst dieses Jahres werden die ersten Patienten rekrutiert. Allerdings keine Bluter, sondern Menschen mit einem bestimmten Eiweißmangel, der bewirkt, daß sie quasi dauernd an Gelbsucht leiden: ihre Leber kann den roten Blutfarbstoff nicht vollständig abbauen und dessen unverdaute Reste bedrohen alle Organe inklusive des Gehirns. Der Vorteil von Clifford Steers Ansatz ist, daß er sich im Grunde genommen für jede Erbkrankheit eignet, die auf einem einzigen Fehler in der Erbsubstanz beruht. Man muß nur den genauen Fehler kennen und das dazu passende Oligonucleotid entwickeln, das die richtige Sequenz enthält. Anwendungsmöglichkeiten gibt es genug! „Wir versuchen natürlich auch Systeme zu entwickeln, die auf andere Organe zielen, denn es wäre doch schön, wenn man Krankheiten wie die Mukoviszidose in der Lunge oder die Sichelzellanämie im Knochenmark behandeln könnte“, schwärmt Steer, „das sind Projekte, die wir entwickeln und das Hauptziel sind natürlich zielsichere Systeme, die genau die Zelle erreichen, die wir wollen. Wenn wir das schaffen, und ich bin davon überzeugt, daß wir das tun, wird es eine Reihe von Krankheiten außerhalb der Leber geben, die wir mit unserem System behandeln können.“

Die Volkskrankheiten sind nicht auf ein einziges Gen zurückzuführen

Allerdings ist nur etwa ein Prozent der Bevölkerung von den „Ein-Gen“-Krankheiten betroffen und so wird ihnen Clifford Steer´s Ansatz – so genial er auch sein mag – nichts nützen. Die weitaus meisten Beschwerden des Menschen sind nicht auf ein Gen allein zurückzuführen. Bluthochdruck, Diabetes, Herzkreislaufkrankheiten oder Krebs entstehen durch das Zusammenspiel mehrerer Gene, und die Umwelt mischt auch noch kräftig mit! Wie will man solche Gene aufspüren? Auch hier werden Patienten, die an Bluthochdruck oder Diabetes leiden, in ihrer genetischen Ausstattung mit gesunden Menschen verglichen. Aus den Unterschieden können die Forscher manchmal auf sogenannte Risikogene schließen, die ihren Träger anfälliger machen für eine bestimmte Krankheit. Die Risikogene verursachen also eine Krankheit nicht direkt, sondern sie fördern ihre Entstehung. Erst wenn gleichzeitig weitere Risikofaktoren dazukommen, seien sie nun genetisch oder Umwelt-bedingt, kommt die Krankheit zum Vorschein. So könnte eine genetische Analyse dem Raucher nahelegen, besser dem blauen Dunst zu entsagen, weil er aufgrund seiner Erbanlagen zur Arteriosklerose neigt und damit ganz besonders gefährdet ist, einen Herzinfarkt zu erleiden. 

Neue Adern sprießen lassen

Und obwohl diese „multifaktoriellen Krankheiten“ so kompliziert erscheinen, lassen sich Gentherapeuten auch hier etwas einfallen. Zum Beispiel im Fall der Arteriosklerose, deren Folgen vom Herzinfarkt bis zu amputierten Beinen reichen, je nachdem, ob die Herzkranzgefäße oder die Beinarterien verstopft sind. Ein Ansatz der Mediziner besteht darin, als Ersatz für die verstopften Gefäße neue Adern sprießen zu lassen. Dazu bringen sie das Gen für einen Gefäßwachstumsfaktor, das sogenannte VEGF, direkt vor Ort, und zwar mit einem Kathether, der durch die Leiste eingeschoben wird. Professor Carl Diehm, Herz-Kreislaufspezialist am Klinikum Karlsbad Langensteinbach, beschreibt das Vorgehen: „Über den Kathether wird dann eine Punktion des Herzmuskels vorgenommen, in verschiedenen Regionen, vor allen Dingen da, wo die Durchblutungsstörung vorliegt, und man injiziert die nackte DNA, die Erbsubstanz, für die Neubildung von Blutgefäßen direkt in den Herzmuskel.“ Derzeit läuft eine solche Gentherapie-Studie in den USA mit mehr als 1000 Patienten, und der Ausgang dieser großen Studie muß abgewartet werden, bevor endgültig über den Nutzen der neuen Therapie entschieden werden kann. Aber die ersten behandelten Patienten waren begeistert. Ihr Herzmuskel war eindeutig besser durchblutet, wodurch sie wesentlich seltener Angina-Pectoris-Anfälle hatten. 

Genchips oder wie man fehlerhafte Erbinformationen findet

Doch zurück zur Gensuche: Wie vergleicht man eigentlich die genetische Ausstattung zweier Menschen, der eine gesund, der andere krank? Den Schlüssel dazu liefern heute sogenannte Genchips, kleine Glasplättchen, auf denen die DNA, die Erbsubstanz, stückchenweise verankert werden kann. Die leistungsfähigsten Chips bieten auf einer Fläche von gerademal 2 auf 2 Zentimetern allen Genen des Menschen auf einmal Platz! Und das sind nach vorsichtiger Schätzung mindestens 40 000 Stück! Das Funktionsprinzip der Genchips liegt in der Struktur der DNA begründet: Sie sieht aus wie eine lange Leiter mit vielen Sprossen. Schneidet man die Leiter der Länge nach durch, weiß jede Sprossenhälfte noch, an welche Stelle sie gehört, denn die beiden Leiterhälften passen zueinander wie der Schlüssel ins Schloß. Auf dem Chip ist nun die eine Hälfte der DNA-Leiter befestigt – zum Beispiel die „gesunde“ Erbsubstanz – und in der Probe vom Patienten, die man auf den Chip gibt, findet sich zu den allermeisten Genen das passende Gegenstück. Aber bei einem Gen – oder bei mehreren – paßt es vielleicht nicht, denn schon eine einzige fehlerhafte Sprosse fällt auf! Und damit lassen sich auch Krankheiten oder Veranlagungen feststellen, die auf dem Zusammenspiel mehrerer Gene beruhen. 

Krankheiten erkennen, bevor sie entstehen

Doch so viel versprechend die Ideen der Forscher und Mediziner auch sein mögen: in naher Zukunft werden nicht neue Therapien, sondern Diagnosemöglichkeiten im Vordergrund stehen, die sich mit dem wachsenden genetischen Wissen auftun. Man wird, wie im Fall der oben erwähnten Chorea Huntington, Krankheiten erkennen können, bevor sie überhaupt entstehen. Oder Veranlagungen zu Krankheiten, die vielleicht nie ausbrechen. Ohne dem Patienten – bis jetzt jedenfalls – irgendeine Therapie anbieten zu können. Womöglich wird man sogar Gene finden, die etwas mit Verhalten zu tun haben, mit Intelligenz, mit Gewaltbereitschaft. Schon jetzt liest man, nicht nur in der Regenbogenpresse, sondern auch in angesehenen Fachjournalen, von Mäusen, die dank eines zusätzlichen Gens angeblich intelligenter, ängstlicher oder aggressiver geworden seien. Wird man also in Zukunft sein im Reagenzglas gezeugtes Kind auf Intelligenzgene untersuchen? Seinen Gatten in spe erstmal auf sein Erbgut ansprechen? Wird man bei einer Bewerbung, sei es um den Arbeitsplatz oder um den Versicherungsschutz, neben dem Lebenslauf den Gencheck vorlegen müssen? Die Möglichkeiten der Gentechnik wachsen so rasant, daß man kaum mit dem Überlegen hinterherkommt, geschweige denn mit der geforderten gesellschaftlichen Diskussion oder gar einer Gesetzgebung nach bioethischen Richtlinien. 

Umstrittener Gencheck

„Den Versicherungen kann man den Pflichtgentest vielleicht verbieten“, sagt Rudi Balling von der GSF in München, „aber Sie können ja schlecht verhindern, daß der Kunde seinen Genpaß freiwillig vorlegt! Um damit eine niedrigere Prämie auszuhandeln, weil er besonders „gute“ Gene hat.“ Das Problem liegt für Balling demnach in der Gesellschaft selbst, bei jedem Einzelnen, wie er mit der geforderten Freiwilligkeit solcher Datenerhebungen umgeht. Ob aber der Einzelne überhaupt ermessen kann, was da an Wissen auf ihn zukommt, wenn er einen umfassenden Gencheck anfordert? Was es bedeutet, damit leben zu müsssen, mit 70 prozentiger Wahrscheinlichkeit an Darmkrebs zu erkranken? Mit 30%iger Wahrscheinlichkeit an Alzheimer zu sterben? Eine Veranlagung zu Allergien zu besitzen? Kein Humangenetiker der Welt wird eine begleitende Beratung für das Ergebnis eines Genscreens vornehmen können, bei dem 100te von Prognosen beurteilt werden müssen. Kritiker befürchten schon eine Gesellschaft von „Scheinkranken“, die die Sozialversicherungen Millionen Kosten verursachen werden, weil sie bei dem geringsten Anzeichen ihre „Krankheitsprozente“ im Kopf haben!. Ein ganz anderes heikles Kapitel ist natürlich die vorgeburtliche Diagnostik. Denn auch hier steigen die Vorhersagemöglichkeiten beinahe täglich. Soll man ein Kind abtreiben, das vielleicht taub geboren wird? Das aller Wahrscheinlichkeit nach Asthma haben wird? Das in hohem Alter an Alzheimer erkranken wird? 

Ethische Begleitforschung unabdinglich

Das BMBF, das Bundesministerium für Bildung und Forschung, stellte im März acht Projekte zur ethischen Begleitforschung des Humangenomprojekts der Öffentlichkeit vor. Sie befassen sich mit Fragen der gesellschaftlichen Auswirkungen der DNA-Chip-Technologie, der Qualitätssicherung in der genetischen Beratung, der Präimplantationsdiagnostik (der genetischen Untersuchung von im Reagenzglas gezeugten Embryonen) sowie Überlegungen zur Patentierbarkeit menschlicher Erbanlagen. Drei Jahre lang werden die Projekte mit insgesamt 3,5 Millionen Mark gefördert. Da kann man nur hoffen, daß es nicht so ausgeht wie in den Vereinigten Staaten: Dort gab die Leiterin jener Arbeitsgruppe, die die ethischen, rechtlichen und sozialen Folgen des Humanen Genomprojektes untersuchen sollte, Lori B. Andrews, nach nur einem Jahr ihren Posten auf. Warum? „Weil wir feststellen mußten, daß unsere Arbeit den Forschern eher als Feigenblatt diente, sodaß sie sagen konnten: `Seht her, wir tun auch etwas für die Ethik`, um uns dann hinterher genau zu kontrollieren“ beklagte sie sich in einem Interview in der ZEIT. Hierzulande ist die Begleitforschung unabhängig vom Humangenomprojekt, ein großer Vorteil gegenüber der amerikanischen Arbeitsgruppe, die im Prinzip von den Leuten bezahlt wurde, die sie überwachen sollte. Welche Konsequenzen das Wissen um die Gene haben kann, bekommen die Amerikaner wesentlich deutlicher zu spüren als wir: Dort sind Genchecks bei Versicherungen und Arbeitgebern bereits an der Tagesordnung und sogar vor Gericht spielen sie eine Rolle: In einem Scheidungsprozeß forderte der Ehemann das Sorgerecht für das gemeinsame Kind, mit der Begründung, seine Frau werde vermutlich an der Chorea Huntington erkranken. Das Gericht ordnete daraufhin einen Gentest der Frau an, den diese jedoch ablehnte. Das Kind wurde dem Ehemann zugespochen!

Ein zwiespältiges Fazit

Was bringt uns also das Humane Genomprojekt? Wird es wirklich über kurz oder lang zur medizinischen Revolution führen, mit Gentherapien für sämtliche Krankheiten, molekularen Arzneien gegen alle Gebrechen? Oder werden wir im medizinischen Wissen „ertrinken“, weil die sozialen Folgen unerträglich sind? Vermutlich weder noch. Auf lange Sicht werden wir alle vom – moderaten – medizinischen Fortschritt, den das Wissen um die Gene bringt, profitieren. Ein vergleichbarer Sprung in der Geschichte der Medizin, wie ihn etwa die Impfungen oder die Antibiotika gebracht haben, ist in absehbarer Zukunft jedoch nicht zu erwarten. Und was ist mit den sozialen Folgen? Wird nicht jeder Mensch in seinen 3 Milliarden Bausteinen ein paar Fehler finden und daran verzweifeln? Vermutlich nicht, das glaubt jedenfalls Jörg Hoheisel vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg: „Wir alle tragen jede Menge genetischer Defekte mit uns herum. Der Punkt ist, daß der Körper die meisten dieser Fehler einfach ausgleicht, das heißt, die wirken sich im menschlichen Leben überhaupt nicht aus. Der Großteil solcher Ergebnisse, die man aus solchen Schrotschußexperimenten erhalten würde, wären einfach für die Katz. Die sind so teuer und so unergiebig, daß sie niemand durchführen kann und auch niemand durchführen will!“ Wollen wir es hoffen!
 


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