Zeitschrift

Ostmitteleuropa



Heft 3/97

Hrsg.: LpB

titost.gif (4967 Byte)

Inhaltsverzeichnis

 


Reif für die EU?

Wirtschaftliche Transformation ohne Wandel?

Die Volkswirtschaften der Staaten Mittelosteuropas und ihre Leistungsfähigkeit

Von Klaus-Dieter Schmidt


Dipl.-Volkswirt Klaus-Dieter Schmidt ist Forschungsgruppenleiter im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel.

Der Zerfall des Ostblocks, die Rückkehr in die Weltwirtschaft, der angestrebte Weg in die EU stellen die Volkswirtschaften Ostmitteleuropas vor erhebliche Anpassungsprobleme. Nach wie vor ist dieser Transformationsprozeß noch nicht weit genug gediehen. Der Strukturwandel verläuft schleppend, westliche Investoren reagieren zurückhaltend. Bislang konnte man sich behaupten durch niedrige Löhne und immer wieder vollzogene Währungsabwertungen. So nützlich für den Über gang die "verlängerten Werkbänke" auch sein können, langfristig jedoch kommt es darauf an, hochwertige Produkte konkurrenzfähig anzubieten, unter Nutzung der jeweiligen komparativen Kostenvorteile. Aber auch die westlichen Industrieländer sollten den "Transformationsländern" entgegenkommen, indem sie nicht von vornherein die lästige Konkurrenz zu unterbinden suchen.
Red.

Vor Beitrittsverhandlungen mit der EU1

Voraussichtlich noch in diesem Jahr wird die Europäische Union (EU) die Beitrittsverhandlungen mit drei der vier Visegrád Staaten2 beginnen, nämlich mit Polen, Tschechien und Ungarn. Schon im letzten Jahr haben diese drei als erste unter den mittel- und osteuropäischen Reformländern die Aufnahme in die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) geschafft. die Slowakei sieht sich dagegen in den Wartestand versetzt. Das Land hat sich wegen der eigenwilligen Politik der regierenden Sozia listen viele Sympathien im Westen ver scherzt. Wann die Slowakei in die Verhandlungen einbezogen wird, hängt al lein von der innenpolitischen Entwicklung ab.

Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zeigt, daß die EU Polen, Tschechien und Ungarn reif für eine Mitgliedschaft hält. Das ist alles andere als selbstverständlich. Denn die EU verlangt von ihren Mitgliedern "hinreichende Konvergenz". Bei der Beurteilung der Beitrittsfähigkeit legt sie normalerweise strenge. Maßstäbe an. Eine Reihe von Kriterien sind im Vertrag von Maastricht festgeschrieben: Der Anteil des laufenden Haushaltsdefizits und des Schuldenstandes am Bruttoinlandsprodukt (BIP), die Höhe der Inflationsrate und des Zinssatzes sowie die Stabilität des Wechselkurses. Dabei handelt es sich freilich ausnahmslos um sogenannte monetäre Kriterien. Nicht explizit vor geschrieben, aber letztlich entscheidend, ist ein realwirtschaftliches Kriterium, das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner im Vergleich zum EU-Durchschnitt. Denn danach bemißt sich der Umfang der Transferzahlungen, die die EU-Staaten möglicherweise an ein neues Mitglied zu leisten haben.

Freilich: Würde die EU bei der ins Auge gefaßten Ost-Erweiterung die Meßlatte an legen wie bei der Süd-Erweiterung, wäre der Weg für die Beitrittskandidaten noch weit. Nur Tschechien übertrifft derzeit beim Pro-Kopf-Einkommen mit 55 % des EU-Durchschnitts3 leicht das Niveau, das Griechenland (1981) und Portugal (1986) bei ihrem Eintritt erreicht hatten. Polen mit 35 %, Ungarn mit 36 % und die Slowakei mit 42 % sind von dieser Schwelle deutlich entfernt. Bei den monetären Indikatoren werden die Referenzwerte von allen Ländern verfehlt. Die Inflationsraten und entsprechend die Zinssätze sind über all recht hoch, und auch mit der Stabilität der Wechselkurse ist es nicht weit her. Allenfalls mit der Rückführung der Budgetdefizite mag die EU zufrieden sein, auch wenn die Slowakei und Ungarn den Referenzwert von 3 % des BIP noch deutlich überschreiten.

Tabelle 1: Die Visegrád-Staaten im Vergleich (in Klammern: Referenzen)

Polen Slowakei Tschechien Ungarn
Fläche (in 1000 qkm) 323 49 79 93
Bevölkerung (in Mill.) 38,7 (96) 5,3 (96) 10,3 (96) 10,5 (96)
Bruttoinlandsprodukt (BIP) je
Einwohner/Jahr (in US-Dollar
und nach Kaufkraftparitäten) 5400 (96) 6700 (96) 8400 (96) 5700 (96)
in % des EU-Durchschnitts 34,2 42,4 54,5 36,0
Zinssatz für kurzfristige
Kredite (in %) 23,0 (6/97) 11,8 (6/97) 13,4 (6/97) 20,1 (6/97)
Saldo des Staatshaushalts
(in % des BIP) -2,8 (96) -3,5 (96) -0,0 (96) -4,4 (96)
Saldo der Leistungsbilanz
(in % des BIP) -0,6 (96) -8,9 (96) -11,6 (96) -5,8 (96)
Wechselkurs (je 100 DM) 186 (7/97) 1980 (6/97) 1846 (6/97) 10 730 (6/97)


Wie schnell bewegen sich die Staaten auf die EU zu?

Im Augenblick kommt es allerdings nicht so sehr darauf an, wo die Visegrád-Staaten heute im Vergleich zu den EU-Staaten stehen. Wichtiger ist, ob sie sich mit angemessener Geschwindigkeit auf die Referenzwerte hinbewegen. Nach Lage der Dinge werden sich die Beitrittsverhandlungen ohnehin über mehrere Jahre hinziehen. Denn anders als die Beitrittskandidaten hat es die EU nicht eilig. Es bleibt also noch die Zeit, den Abstand zu verkleinern. Tatsächlich haben die Visegrád-Staaten in den vergangenen Jahren erkennbar Boden gutmachen können. Das Bruttoinlandsprodukt, das nach dem Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft kräftig geschrumpft war, wächst seit 1993 wieder mit beachtlichen Raten (Tabelle 2). Könnten die Visegrád-Staaten in den kommenden fünf Jahren die gesamtwirtschaftliche Produktion jeweils um 6 % steigern, dann würden Polen und Ungarn, die beim realwirtschaftlichen Konvergenzkriterium am weitesten zurückliegen, bei Annahme einer Wachstumsrate der EU-Länder von 2'/z % p.a. etwa 45 % des EU-Durchschnitts erreichen. Die Slowakei käme auf 50 % und damit der historischen Eintrittsschwelle von Griechenland und Portugal sehr nahe. Tschechien würde diese Schwelle mit 62 % klar über treffen.

Aber kann man so rechnen? Ist es statt haft, die bisherige Entwicklung zu extra polieren? Seit 1995, dem bisher besten Jahr nach dem Systemwechsel, hat sich das Wachstum in den Visegrád-Staaten merklich abgeschwächt (Tabelle 2). Die Prognosen für 1997 gehen davon aus, daß die Dynamik weiter nachläßt. Vor allem die Exporte, die bisher für Schub sorgten, nehmen kaum noch zu. Die wirtschaftliche Entwicklung verläuft also längst nicht so reibungslos, wie es aus der Ferne erscheinen mag.

Tabelle 2: Die wirtschaftliche Entwicklung in den Visegrád-Staaten 1994-1997

1994 1995 1996 1997h
Reales Bruttoinlandsprodukt
(Veränderung ggü. Vorjahr in %)
Polen 5,2 7,0 6,1 5,0
Slowakei 4,9 7,4 6,9 5,0
Tschechien 2,6 4,8 4,1 1,5
Ungarn 2,9 1,5 1,0 3,0
Nachrichtlich:
Mittel- und osteuropäische
Reformstaaten insgesamt -6,2 -0,7 -1,9 0,3
Verbraucherpreise
(Veränderung ggü. Vorjahr in %)
Polen 32,2 27,8 19,9 16,0
Slowakei 13,5 9,9 5,8 6,5
Tschechien 10,0 9,1 8,8 9,0
Ungarn 18,8 28,3 23,6 18,0
Nachrichtlich:
Mittel- und osteuropäische
Reformstaaten insgesamt 248,3 145,3 40,6 31,8
Arbeitslosenquote
(in % der wirtschaftlichen
aktiven Bevölkerung)
Polen 16,0 14,9 13,6 13,0
Slowakei 14,6 13,8 12,8 13,0
Tschechien 3,2 2,9 3,5 4,5
Ungarn 10,4 10,4 10,7 10,5
Nachrichtlich:
Mittel- und osteuropäische
Reformstaaten insgesamt 7,6 8,1 8,1 8,9
Handelsbilanzsaldo
(in Mill. US-Dollar)
Polen -4 327 -6 155 -12 590 -13 900
Slowakei 80 61 -2150 -
Tschechien -436 -3 823 -5 900 -
Ungarn -3 884 -2 605 -3 064 -3 500
Nachrichtlich:
Mittel- und osteuropäische
Reformstaaten insgesamt 7 223 & 734 -1 484 -

Quellen: Institut für Wirtschaftsforschung Halle; Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche; eigene Schätzung.

 

Schleppender Strukturwandel und seine Ursachen

Bei der Transformation von der sozialistischen Planwirtschaft zur kapitalistischen Marktwirtschaft stellen sich drei zentrale Aufgaben: Es müssen erstens die Rechtsordnung und die Institutionen an die Erfordernisse der Marktwirtschaft angepaßt, zweitens die Währung stabilisiert und der Staatshaushalt in die Balance gebracht sowie drittens die Wirtschaft grundlegend umstrukturiert werden. Die ersten beiden Aufgaben haben die Visegrád-Staaten beherzt angepackt, wenn auch teilweise mit unterschiedlichem Er folg. Beim Aufbau einer neuen Wirtschaftsstruktur kommen sie hingegen allesamt nur schleppend voran. Dafür gibt es im wesentlichen drei Gründe:

· Die Privatisierung der Unternehmen, die in den einzelnen Ländern nach unterschiedlichen Methoden, in unter schiedlichem Tempo und in unter schiedlichem Ausmaß vor sich ging, hat nicht die erhofften Erfolge gebracht. Allzu selten sind Investoren zum Zuge gekommen, die in der Lage sind, ein ab gewirtschaftetes Unternehmen in eine gute Zukunft zu führen: die über ein tragfähiges Unternehmenskonzept, über ausreichende Finanzmittel und über langjährige Managementerfahrung verfügen. So sind beispielsweise in Tschechien im Gefolge der Voucher-Privatisierung die meisten Aktienpakete in die Hände großer Investmentfonds gelangt, die in der Regel den in Staatsbesitz befindlichen Großbanken gehören. Diese haben sich bisher dar auf konzentriert, ihre Pakete hin und her zu schieben. Für eine Sanierung vieler hunderter Unternehmen verfügen sie gar nicht über geeignetes Führungspersonal.

· Die starke Unterbewertung der Währungen - der polnische Zloty, die tschechoslowakische Koruna und der ungarische Forint sind zu Beginn des Transformationsprozesses und auch später mehrfach kräftig abgewertet worden hat den Anpassungsdruck von den Unternehmen genommen. Denn eine Unterbewertung erleichtert das Exportieren und erschwert das Importieren, stärkt also die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Anbieter gegenüber der internationalen Konkurrenz. Auf diese Weise konnten sich viele Unter nehmen ein "Polster" schaffen, von dem sie noch zehren. Polen und Ungarn versuchen derweil weiterhin, durch ständige kleine Abwertungsschritte die negativen Wirkungen der im Vergleich zu den westlichen Handelspartnern hohen Inflationsrate auszugleichen.

· Die Stabilisierung der Beschäftigung ist eine wichtige Aufgabe für viele Unter nehmen, insbesondere wenn sie sich noch im Staatsbesitz befinden. Das hält sie davon ab, tief greifende Restrukturierungsmaßnahmen in Angriff zu nehmen. Denn dabei blieben zahlreiche Arbeitsplätze auf der Strecke. Denn die personelle Überbesetzung, ein Erbe aus der sozialistischen Vergangenheit, ist immer noch groß. Besondere Problem bereiche sind die sogenannten "strategischen Sektoren", wie der Bergbau, die Eisen- und Stahlindustrie, die Energiewirtschaft oder das Transportwesen. Sie wurden bei der Privatisierung, nicht zuletzt aus beschäftigungspolitischen Gründen, weitgehend ausgespart.4 Hier haben Unternehmensleitungen und Gewerkschaften - auf Kosten der Steuerzahler - vielerorts "Bündnisse für Arbeit" geschlossen, mit denen sie jegliche Veränderungen blockieren. Die vergleichsweise niedrigen Arbeitslosenquoten in fast allen Transformationsländern sind somit nicht Ergebnis einer hohen Anpassungsdynamik, sondern Ausdruck eines beträchtlichen Anpassungsstaus.

Zu hoher Industrialisierungsgrad

Und dies ist die Aufgabe, vor der derzeit alle Transformationsländer stehen: Die sozialistische Planwirtschaft zeichnete sich durch einen, gemessen am Entwicklungsniveau, relativ hohen Beitrag des industriellen Sektors zur gesamtwirtschaftlichen Produktion aus. Dieser war das Ergebnis von vierzig Jahren forcierter Industrialisierung, mit der die Führung den Abstand zu den kapitalistischen Staaten verringern wollte. Entsprechend hoch war der Anteil der Industriebeschäftigten an den gesamten Beschäftigten (Schaubild 1). Verglichen mit einem Land mit "normaler" Wirtschaftsstruktur5 waren Ende der acht ziger Jahre vor allem Polen und die Tschechoslowakei (ebenso wie Bulgarien und Rumänien) stark überindustrialisiert. Anders gewendet: Hätten diese Staaten all zeit ein marktwirtschaftliches System gehabt, dann wäre ihr Industrieanteil vermutlich deutlich niedriger gewesen. Die große Differenz zwischen Soll und Ist (im Falle von Polen und der Tschechoslowakei etwa 10 Prozentpunkte) zeigt, wie groß der Anpassungsbedarf - weg von einer industrielastigen Produktionsstruktur - damals war und immer noch ist.

Schaubild 1: Anteile der drei großen Wirtschaftssektoren an der Gesamtbeschäftigung in ausgewählten Transformationsstaaten - Normalmuster und tatsächliche Ergebnisse für 1989

wpeD3.jpg (25421 Byte)

Pro-Kopf-Einkommen US-$

Quelle: Heitger, Schrader, Bode (1992).

Tabelle 3: Sektorale Beschäftigtenstrukturen in den Visegrád-Staaten 1989 und 1995

    Primärer a) Sekundärer b) Tertiärer c)
      Sektor  
Polen 1989 28 37 35
  1995 20 36 44
Slowakei 1989 15 42 43
  1995 10 40 50
Tschechien 1989 11 47 42
  1995 6 44 50
Ungarn 1989 20 37 43
  1995 16 36 48
Zum Vergleich:        
Europäische Union 1995 5 31 64

a) Land- und Forstwirtschaft.

b) Bergbau, verarbeitendes Gewerbe und Baugewerbe.

c) Handel Verkehr Dienstleistungsgewerbe und Staat.

Quellen: Eigene Zusammenstellung nach nationalen und internationalen Quellen.

Denn bisher sind die Fortschritte bei der Rückführung des Industriesektors und entsprechend beim Aufbau des unterentwickelten Dienstleistungssektors noch recht gering. Im Zeitraum von 1989 bis 1995 sank der Anteil der in der Industrie Beschäftigten an den insgesamt Beschäftigten in allen Visegrád-Staaten nur um 2-3 Prozentpunkte (Tabelle 3). Deutlich rascher kam dagegen die Umsetzung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft voran. So halbierte sich in der früheren Tschechoslowakei die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte zwischen 1989 (900 000) und 1995 (430 000). Die Zahl der Industriebeschäftigten ist dort um weniger als ein Zehntel (von 2,7 auf 2,5 Mill.) geschrumpft.

Und zu hohe Spezialisierung als Folge "sozialistischer Arbeitsteilung"

Dringlichen Anpassungsbedarf gibt es freilich auch innerhalb der Industrie. Die Strategie der sozialistischen Arbeitsteilung drängte den einzelnen Ländern ein Spezialisierungsmuster auf, das selten ihren komparativen Vorteilen entsprach. So rollten auf den Straßen Mittel- und Osteuropas in großer Stückzahl Omnibus se aus Ungarn, Straßenbahnwagen aus der Slowakei und Eisenbahnwaggons aus der DDR. Es wurden an einzelnen Standorten riesige Fertigungskapazitäten aufgebaut, die heute, nachdem der Absatz weggebrochen ist, nicht mehr auszulasten sind. Man weiß in den Transformationsländern sehr gut, wie dringlich die Erneuerung der industriellen Basis ist - daß also ein neues Spezialisierungsprofil gefunden, neue Produkte entwickelt, neue Produktionsanlagen installiert und neue Märkte erschlossen werden müssen. Doch bislang ist in dieser Hinsicht nicht allzuviel geschehen.

Vielfach läuft der Strukturwandel in die falsche Richtung

Wie sehr die Beharrungstendenzen noch überwiegen, läßt sich bei einem Vergleich der Beschäftigtenstruktur der polnischen Industrie von 1989 und 1995 erkennen (Tabelle 4). Nur in zwei großen Bereichen sind bislang gravierende Veränderungen zu verzeichnen: Die Nahrungs- und Genußmittelbranchen haben Anteile gewonnen, die Investitionsgüterbranchen Anteile verloren. Die kapitalintensiven (und wenig beschäftigungsintensiven) Grundstoffindustrien haben ihre Anteile halten können. Auffällig ist, daß die technologisch recht rückständige polnische Stahlindustrie sogar etwas Boden gutmachen konnte. Der Strukturwandel verläuft mithin nicht nur sehr langsam, sondern offenbar auch in die falsche Richtung, nämlich weg von anspruchsvollen und hin zu weniger anspruchsvollen Produktionen. Dieses Muster mag der augenblicklich geringen Wettbewerbsfähigkeit der breiten Masse der Unternehmen entsprechen, aber es steht nicht im Einklang mit den komparativen Vorteilen des Landes, das über ein großes Reservoir an qualifizier ten Arbeitskräften verfügt.

Tabelle 4: Branchenmäßige Beschäftigtenstrukturen in der polnischen Industrie 1989 und 1995 (in %)

  1989 1995
Insgesamt 100 100
darunter:    
Textilien und Bekleidung 15,0 15,2
Leder und Lederwaren 3,7 2,6
Druckereierzeugnisse 1,6 1,6
Holz und Holzwaren 2,2 3,6
Papier und Pappe 1,4 1,3
Chemische Erzeugnisse 6,0 5,4
Gummi und Kunststoffe 2,1 3,0
Eisen und Stahl 5,0 5,7
Metallwaren 7,2 5,4
Maschinenbauerzeugnisse 12,4 11,2
Elektrotechnische Erzeugnisse 3,2 3,3
Kommunikations- und    
informationstechnische Erzeugnisse 3,8 1,6
Kraftfahrzeuge 3,4 3,7
Andere Transportmittel 6,2 4,3
Sonstige Erzeugnisse 22,2 14,7
Nachrichtlich:    
Nahrungs- und Genußmittel 12,4 17,1
Konsumgüter 29,0 30,7
Grundstoffe 20,2 20,8
Investitionsgüter 38,4 31,4

Quellen: Belka, Krajewski (1996); eigene Berechnungen.

Das schleppende Umstrukturierungstempo kommt auch am geringen Anteil neuer Erzeugnisse im Sortiment polnischer Industrieunternehmen zum Ausdruck: 1995 betrug dieser im Durchschnitt nur 5-6 (Tabelle 5). Zum Vergleich: Bei westlichen Industrieunternehmen wird die Erzeugnispalette im allgemeinen innerhalb von fünf Jahren vollkommen erneuert, der Anteil liegt hier also bei 20 %. Bemerkens wert ist, daß die Erneuerungsrate - wiederum im Durchschnitt betrachtet - der zeit nicht höher ist als Ende der achtziger Jahre, als das sozialistische Wirtschaftssystem in der Agonie lag. Die Rate ist allerdings inzwischen wieder etwas höher als im Tiefpunkt der Transformationskrise, was vorsichtige Hoffnungen wecken mag. Statistiken können Sachverhalte auf decken, aber sie können sie mitunter auch verdecken. Durchschnittszahlen für ganze Industrien oder auch Industriezweige bedürfen der Interpretation. So sind in den Transformationsländern die Unterschiede zwischen einzelnen Unternehmen außer ordentlich groß und viel größer als in westlichen Ländern. Es gibt sicherlich Unternehmen, die im Erneuerungsprozeß schon weit fortgeschritten sind - die ihre Fertigungsanlagen modernisiert, ihre Produktpalette erneuert, ihre Verwaltung und ihren Vertrieb reorganisiert und ihre Forschung und Entwicklung ausgebaut haben. Aber dem steht eine ungleich größere Zahl von Unternehmen gegen über, die diese Aufgaben noch vor sich haben.

Tabelle 5: Anteil neuer Erzeugnisse am Umsatz polnischer Industrieunternehmen 1989-1995 (in %)

  1989 1992 1995
Insgesamt 5,3 3,4 5,5
darunter:      
Metallurgische Erzeugnisse 1,1 0,5 1,1
Erzeugnisse der Elektrotechnik und des Maschinenbaus 13,0 9,5 16,8
Chemische Erzeugnisse 6,0 5,4 3,6
Baustoffe 4,0 1,4 2,1
Holz- und Papiererzeugnisse 3,5 3,6 5,5
Textilien, Kleidung, Lederwaren 2,9 1,5 1,3
Nahrungs- und Genußmittel 1,6 1,2 1,6

Quelle: Belka, Krajewski (1996).

Als Haupthindernis für eine Strukturelle Erneuerung wird meistens der enge finanzielle Rahmen genannt, in dem sich die meisten Unternehmen bewegen müssen. Die Gewinne - soweit überhaupt welche erzielt werden - reichen nicht aus, um den Kauf neuer Produktionsanlagen, die Entwicklung neuer Erzeugnisse und die Erschließung neuer Märkte zu finanzieren. Und Kredite sind schwer zu bekommen, weil den Banken keine Sicherheiten gestellt werden können. Aber das alles sind häufig nicht die Ursachen, sondern die Symptome für die Misere. Wo der Wille zur Veränderung fehlt, reicht auch die Kraft nicht aus, etwas zu bewegen.

Die Wettbewerbsfähigkeit beruht weitgehend auf niedrigen Löhnen und günstigen Wechselkursen

Der Gradmesser für Anpassungsbedarf ist die Wettbewerbsfähigkeit auf den inter nationalen Märkten. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als hätten in dieser Hinsicht die Visegrád-Staaten bereits große Fortschritte gemacht. Denn sie haben den Verlust ihrer angestammten Absatzmärkte im Osten durch den Gewinn neuer Absatzmärkte im Westen weitgehend kompensieren können: 1989 wickelten die Visegrád-Staaten noch fast die Hälfte ihres Außenhandels innerhalb des sozialistischen Lagers ab. Nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft hat der Handel mit den früheren Partnern rasch an Bedeutung verloren: Bis 1995 hat sich sein Gewicht mehr als halbiert (Schaubild 2).

Die rasche regionale Umorientierung so wohl bei Exporten als auch bei Importen ist sicherlich bemerkenswert. Denn die Erschließung neuer Märkte erfordert normalerweise einen langen Atem. Zum Vergleich: Die ostdeutschen Unternehmen haben es trotz großer materieller Unterstützung aus dem Westen bisher nicht geschafft, sich auf westlichen Märkten angemessen zu etablieren.

Die Erfolge der Visegrád-Staaten sind je doch zu relativieren. Sie beruhen offen sichtlich weitgehend auf einer Steigerung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit als Folge niedriger Lohnkosten und günstiger Wechselkurse. Denn die Struktur ihres Exportsortiments hat sich bisher nur wenig verändert. Es dominieren, wie schon vor her, energie- und arbeitsintensive Güter. Eine Verlagerung zu humankapital- und forschungsintensiven Gütern, die auf Fort schritte bei der Erneuerung des Angebotssortiments schließen ließe, ist nicht zu er kennen. Wie weit die Visegrád-Staaten in dieser Hinsicht immer noch zurückliegen, zeigt die Struktur ihrer Exporte in die EU im Vergleich zu den Exporten aller Länder in die EU (oder spiegelbildlich: im Vergleich zu den gesamten Importen der EU) (Tabelle 6): Danach exportierten die Visegrád-Staaten im Jahre 1994 im Durch schnitt etwa ein Viertel weniger human kapital- und forschungsintensive Güter als andere Länder im Durchschnitt. Die Güterstruktur der Exporte war noch ungünstiger als die von Portugal, dem (zusammen mit Griechenland) Schlußlicht in der EU. Bemerkenswert ist, daß sich gegenüber 1989 die relative Position der ehemaligen Tschechoslowakei und die Ungarns etwas verbessert, die Position Polens aber tendenziell verschlechtert hat. Ein Grund da für dürfte sein, daß es Tschechien, die Slowakei und vor allem Ungarn verstanden  haben, potente ausländische Investoren ins Land zu locken, die in der Lage sind, die abgewirtschafteten Staatsbetriebe zu sanieren.

Schaubild 2: Regionale Struktur des Außenhandels der Visegrád-Staaten 1989 und 1995 (in %)

wpeD2.jpg (27554 Byte)

Quelle: Eigene Zusammenstellung nach nationalen und internationalen Statistiken.

Wie wenig die Visegrád-Staaten bislang Boden gutmachen konnten, zeigt sich auch an ihrer unverändert schwachen Preisposition. Für ihre Erzeugnisse erzielen sie auf den EU-Märkten nur ungefähr die Hälfte des Preises je Mengeneinheit wie die anderen Länder im Durchschnitt (Tabelle 7). Zum Vergleich: Portugal erlöste bei gleichen Erzeugnissen fast das Doppelte, die Schweiz reichlich das Vierfache. Ausgesprochen schwach ist die Preisposition weiterhin bei humankapital- und forschungsintensiven Investitionsgütern wie Erzeugnissen des Maschinenbaus und der Elektrotechnik, was auf gravierende Qualitätsdefizite hindeutet. Weniger schwach ist sie bei sachkapital- und arbeitsintensiven Konsumgütern wie Textilien, Bekleidung und Schuhen. Nimmt man wiederum Portugal als Meßlatte, dann ist hier der Rückstand gar nicht mehr groß. So besitzt die ungarische Textil- und Bekleidungsindustrie mittlerweile ein hohes Maß an Wettbewerbsfähigkeit, nicht zuletzt als Ergebnis des Engagements deutscher und italienischer Unter nehmen, die dort das Heft in die Hand genommen haben.

Ausländische Investoren als Hoffnungsträger

Vielen Unternehmen in den Transformationsländern ist inzwischen bewußt geworden, daß sie die Umstrukturierung nicht aus eigener Kraft schaffen werden. Ihre Hoffnungen richten sich deshalb auf eine enge Kooperation mit einem potenten westlichen Unternehmen, von dem sie neben technologischem Know-how vor allem finanzielle Mittel erwarten.

Bisher haben sich diese Hoffnungen nur zum Teil erfüllt. Obwohl die Visegrád-Staaten für westliche Investoren einige bedeutende Standortvorteile bieten niedrige Lohnkosten, qualifizierte Arbeitskräfte, aufnahmebereite Märkte, kurze Transportwege - hält sich deren Interesse in engen Grenzen. Im Vergleich zu dem, was westliche Unternehmen im Aus land investieren, fließen bisher nur bescheidene Summen in die Transformationsländer. Bis Ende 1996 kumulierten sich die Zuflüsse auf schätzungsweise 40 Mrd. US-Dollar, nicht viel mehr als 1 % aller ausländischen Direktinvestitionen in der Welt. Gemessen an seiner Bevölkerungszahl und wirtschaftlichen Leistungskraft hat bisher Ungarn, das zunächst Vorreiter im Reformprozeß war und als aussichtsreichster Investitionsstandort im Osten galt, bei der Attrahierung von Auslandskapital die Nase vorn. Aber in letzter Zeit holt vor allem die Tschechische Republik mächtig auf, während Ungarn etwas zurückfällt (Tabelle 8). Überraschender weise hat sich Polen bei ausländischen Investoren nicht so recht zur Geltung bringen können, obwohl es von allen Transformationsländern die beste Wachstumsbilanz vorweisen kann. Offenbar ist das Land für westliche Kapitalanleger noch immer ein politischer Wackelkandidat.

Tabelle 6: Struktur der Exporte der Visegrád-Staaten in die Europäische Union 1989 und 1994 (Abweichung gegenüber der Struktur der gesamten Importe der EU in %) a)

            Zum Vergleich:
  Polen Tschechos-lowakei  Slowakei Tschechien Ungarn Portugal Schweiz
  1989 1994 1989 1994 1994 1989 1994 1994 1994
Energieintensive Güter 11,0 9,0 11,4 20,4 7,7 -0,2 1,0 1,8 3,0
Arbeitsintensive Güter 1,0 6,3

-3,4

2,7 3,1 7,2 7,1 21,1 -7,9
Sachkapitalintensive Güter -5,3 -9,7

-6,0

-4,1

-12,3 -19,7 -20,5 -15,1 -5,9
Humankapitalintensive Güter -28,5 -27,5 -22,5 -16,3 -17,9 -26,5 -16,7 -15,6 5,2
Forschungsintensive Güter -25,3 -31,2 -23,9 -20,3 -14,0 -25,4 -9,2 -17,2 2,3
a) Die Meßziffer gibt an, um wieviel % bei einem Land eine Gütergruppe stärker bzw. schwächer repräsentiert ist als bei allen EU-Ländern im Durchschnitt.

Quelle: Landesmann (1996).

Tabelle 7: Relative Preisposition der Visegrád-Staaten im Handel mit der EU 1989 und 1994 (alle EU-Länder = 1)

      darunter
    Alle Güter Maschinen- bau Elektro-technik Textilien, Bekleidung, Schuhe
Polen 1989 0,42 0,43 0,37 0,88
  1994 0,43 0,40 0,40 0,89
Tschechoslowakei 1989 0,43 0,45 0,42 0,87
Slowakei 1994 0,44 0,42 - 0,26
Tschechien 1994 0,49 0,46 0,54 0,78
Ungarn 1989 0,52 0,45 0,50 1,03
  1994 0, 57 0,47 0, 57 1, 09
Zum Vergleich:          
Portugal 1994 0,89 0,97 1,14 1,20
Schweiz 1994 2,03 1,93 2,32 1,70

Quelle: Landesmann (1996); Landesmann, Burgstaller (1996).

Tabelle 8: Ausländische Direktinvestitionen in den Visegrád-Staaten 1989-1996 a)

  Insgesamt
(in Mill. US-$)
Pro Einwohner
(in US-$)
in % des BIP
(1995)
Polen 4 957 128 0,9
Slowakei 767 144 1,1
Tschechien 6 606 642 5,6
Ungarn 13 266 1 288 10,2
Zum Vergleich:      
Mittel- und Osteuropa 41 939 104 1,5
darunter:      
Gemeinschaft unabhängiger      
Staaten 11 231 39 0,7
a) Kumulierte Zuflüsse.      

Quelle: Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung

Einfachere und weniger Risiko behaftete Kooperationsformen herrschen vor

Ausländische Unternehmen, die sich in den Transformationsländern nach Produktionsmöglichkeiten umsehen, bevorzugen einfachere und weniger risikobehaftete Formen der Kooperation. Dazu gehören vor allem die Vergabe von Lizenzen und die sogenannte Lohnveredelung. Bei der Lohnveredelung werden Rohstoffe und Halbfabrikate zu einer Zwischenver- und -bearbeitung ins Ausland gebracht und von dort wieder zurückgeholt, um sie im Inland verkaufsfertig zu machen. So hatte die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie schon lange vor dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime umfangreiche Veredelungskapazitäten in Mittel- und Osteuropa aufgebaut, vorzugsweise in Ungarn und Jugoslawien. Inzwischen sind diesem Beispiel andere Branchen gefolgt und haben auch andere Länder als Standort auserkoren - etwa der Maschinenbau und die Elektrotechnik, die sich vor allem in Tschechien, oder die Möbelindustrie, die sich in Polen ihre Partner gesucht haben. Mittlerweile setzt sich der überwiegende Teil des deutschen Außenhandels mit den Transformationsländern aus Erzeugnissen zur und nach Lohnveredelung zusammen. In den Transformationsländern findet diese Form der wirtschaftlichen Zusammenarbeit nur wenig Beifall. Auf den ersten Blick mag es nämlich so aussehen, als benutzten westliche Unternehmen ihre neuen Fertigungsstätten im Osten nur als "verlängerte Werkbänke". Denn es handelt sich meistens um arbeitsintensive, wertschöpfungsarme Produktionsvorgänge, die sich wegen der niedrigen Lohnkosten dort besonders rechnen. Dabei wird häufig übersehen, daß die meisten der ab gewirtschafteten Betriebe für anspruchsvollere Produktionen zunächst einmal gar nicht in Frage kommen. Denn sie sind selten in der Lage, die hohen Qualitätsforderungen der Kunden im Westen zu erfüllen. So mußte die Volkswagen AG, als sie Anfang der neunziger Jahre damit begann, die Skoda-Werke im tschechischen Mladá Boleslav zu restrukturieren, auch Zulieferer aus Deutschland mitziehen, um dort das Beschaffungswesen aufzubauen. Inzwischen hat sich das Joint Venture von Volkswagen und Skoda ein Netz von leistungsfähigen lokalen Zulieferern schaffen können - allerdings unter Einsatz erheblicher finanzieller und personeller Ressourcen. Überdies zielt die Kritik oftmals ins Leere: Vielen Unternehmen sichert die Übernahme von einfachen Lohnarbeiten überhaupt erst das Überleben. Es kann auch der erste Schritt in eine bessere Zukunft sein. Denn als Subkontraktor erhalten sie von ihren Auftraggebern neben Material häufig auch moderne Maschinen, Fertigungs-Know-how, Kredite und Managementhilfen. Die Lohnveredelung ist oftmals nur die Vorstufe zu höheren Formen der Kooperation, etwa einem Joint Venture mit Kapitalbeteiligung durch ausländische Partner.

Abwertung ist kein Ausweg

Es macht wenig Sinn, wenn sich die Transformationsländer über die Zurückhaltung ausländischer Investoren beklagen. Wichtig ist, daß man dort erkennt, was die Grün de dafür sind und welche Folgerungen sich daraus ergeben.

Die Visegrád-Staaten haben in den letzten Jahren durchaus bemerkenswerte Fort schritte bei der Transformation ihrer Volks wirtschaften gemacht. Aber vieles liegt weiterhin im Argen: Die Privatisierung ist noch nicht zu Ende gebracht worden. Eine beträchtliche Zahl von Unternehmen ist immer noch nicht oder nur in formaler Hin sicht privatisiert, befindet sich also noch in den Händen des Staates. Diese Unternehmen sind meistens hoch verschuldet und haben, genau besehen, keine Perspektive. Nur wegen der laschen Handhabung der Konkursgesetze konnten sie bisher überleben. Es ist nicht zu übersehen: Der lange Arm der Gewerkschaften reicht weit in das Management der Betriebe und in die Ministerien hinein. Restrukturierungsmaßnahmen, die zu Entlassungen führen würden, unterbleiben deshalb. Die Produktivität steigt kaum, um so mehr steigen aber die Löhne. Das Ergebnis ist ein rapider Verlust an Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zur internationalen Konkurrenz. Eine Abwertung der Währung, wie sie von den Unter nehmen immer wieder gefordert wird, könnte zwar kurzfristig Entlastung verschaffen, doch das triebe wiederum die Einfuhrpreise und damit die Kosten in die Höhe. Am Ende wäre nichts gewonnen. Wahrlich ein Teufelskreis.

Es ist noch nicht lange her, da pflegte der tschechische Ministerpräsident Vaclav Klaus zu spotten: Während sein Land den Systemwechsel längst vollzogen habe und sich bereits im Fitneßclub stärke, warteten andere Länder noch vor dem Behandlungsraum. Inzwischen sieht es ganz danach aus, als müßte der Musterknabe Tschechien zurück auf den Operationstisch. Denn die Wirtschaft ist an einem kritischen Punkt an gelangt: Das Leistungsbilanzdefizit hat ein Niveau erreicht, das auf Dauer schwerlich von den internationalen Kapitalanlegern finanziert wird. Der Grund dafür ist der Verlust an Wettbewerbsfähigkeit. Die tschechischen Unternehmen sind dabei, sich aus dem Markt "herauszupreisen". Die Reallöhne steigen kräftig (von 1991 bis 1995 um 30 %), die Produktivität erhöht sich dagegen kaum. Das treibt die Export preise in die Höhe. Die Koruna, die im Herbst 1990 um (nominal) 20 % abgewertet worden war, um den Unternehmen den Start in die Marktwirtschaft zu erleichtern, hat sich (in realer Rechnung) seither um 50 % aufgewertet. Im Mai 1997 sah sich schließlich die Regierung gezwungen, den Wechselkurs der Koruna freizugeben. Seit her hat die tschechische Währung rund 15 % an Wert verloren; vor noch nicht so langer Zeit galt sie als ein sicherer Aufwertungskandidat.

Rascher oder langsamer Strukturwandel?

Die Visegrád-Staaten müssen sich nolens-volens entscheiden: zwischen langsamem Strukturwandel und langsamer Konvergenz oder zwischen raschem Struktur wandet mit der Aussicht auf rasche Konvergenz.

Sie haben bisher den ersten Weg gewählt und die notwendige Strukturanpassung verschleppt. Sie wollten auf diese Weise die sozialen Verwerfungen in Form hoher Arbeitslosigkeit, die bei einer raschen Anpassung zu erwarten sind, vermeiden. Und in der Tat: Die fiskalischen Kosten einer Crash-Strategie wären ihnen rasch über den Kopf gewachsen. Im Gegensatz zu Ostdeutsch land haben sie keinen "großen Bruder", der ihnen tatkräftig unter die Arme greifen kann.

· Doch sie können die Anpassung nicht auf den Nimmerleinstag verschieben. Denn auch das Zuwarten verursacht Kosten, und diese werden ihnen mit der Zeit über den Kopf wachsen. Was zunächst an Restrukturierungskosten gespart wird, muß später mehrfach auf gewandt werden, um die konkursreifen Betriebe am Leben zu erhalten.

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Es gibt keinen bequemen Weg, der zwischen Szylla und Charybdis hin durchführt. Wenn die Visegrád-Staaten ihre Chancen auf eine Vollmitgliedschaft in der EU wahren wollen, müssen sie den Weg der raschen Erneuerung der Wirtschaftsstruktur gehen. Denn die EU-Staaten haben es entgegen allen Beteuerungen in der Öffentlichkeit mit der Erweiterung der Gemeinschaft nicht eilig. Im Gegenteil, zur Zeit drücken sie ganz andere Sorgen. Zudem wird ihnen allmählich bewußt, daß der Einzug neuer Mieter in das gemeinschaftliche Haus einiges an Ungemach mit sich bringt.

Anpassungsbedarf auch im Westen

Damit die Transformationsländer rasch aufholen können, müssen aber auch die westlichen Industrieländer ihren Beitrag leisten. Sie müssen ihre eigenen Märkte für Importe aus diesen Ländern öffnen, und sie müssen akzeptieren, daß eigene Produktionen aus Kostengründen in diese Länder abwandern. Denn die Transformationsländer dürfen nicht nur als Absatz märkte für westliche Produzenten gesehen werden. Sie sind auch deren Konkurrenten und müssen als solche zu fairen Bedingungen akzeptiert werden.

Im Rahmen der sogenannten Assoziierungsabkommen hat die EU den Visegrád-Staaten beträchtliche handelspolitische Zugeständnisse gemacht. Kern ist die schrittweise Schaffung einer Freihandelszone innerhalb von zehn Jahren. Von der Liberalisierung ausgenommen wurden allerdings eine Reihe "sensibler Erzeugnis se" wie Kohle, Stahl- und Stahlerzeugnisse und Textilien. Hier wird die Liberalisierung Z2ItIICh gestreckt oder durch Kontingente, Plafonds und Abschöpfungen erheblich eingeschränkt. Für landwirtschaftliche Erzeugnisse wurden keine Erleichterungen gewährt. Alles in allem wird die Einfuhr solcher Erzeugnisse diskriminiert, bei denen die Visegrád-Staaten über komparative Vorteile verfügen und die deshalb ein hohes Gewicht in ihrem Exportsortiment haben (Tabelle 10). Ähnliches gilt auch für die Einfuhr von lohnveredelten Erzeugnissen, wenn sie einen hohen ausländischen Wertschöpfungsanteil enthalten. Dadurch wird der Aufbau von Montage- und Bearbeitungskapazitäten westlicher Firmen in den Visegrád-Staaten erschwert. Keinerlei Zugeständnisse macht die EU den Visegrád-Staaten im Bereich des Arbeitsmarktes. Die Zuwanderung von Arbeitskräften bleibt streng limitiert. Hier werden diese Staaten deutlich schlechter gestellt als andere Staaten, mit denen Assoziationsabkommen bestehen wie mit der Türkei.

Die Beispiele zeigen: Die EU-Staaten wollen den Wettbewerb, wo er den eigenen Produzenten nützt, aber sie möchte ihn tunlichst vermeiden, wo er diesen weh tut.

Beide Seiten müssen begreifen, daß die Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Vorteile bringt. Dazu gehört auch eine Optimierung der beiderseitigen Handelsbeziehungen entsprechend den jeweiligen komparativen Vorteilen, und das heißt, entsprechend den Unterschieden in der Ausstattung mit Produktionsfaktoren. Ohne Bereitschaft zum Strukturwandel würde die Ost-Erweiterung der EU für alle ein gefährliches Abenteuer.

Tabelle 9: Entwicklung von Reallohn, Produktivität und Lohnstückkosten in der tschechischen Industrie 1991-1995 (1990=100)

  1991 1995
Reallohn 78,4 102,4
Produktivität 90,8 93,2
Lohnstückkosten 86,2 108,5
Nachrichtlich:    
Realer Wechselkurs der Koruna 88,5 135,4
Quellen: Flek (1996); WTO (1996).

 

Tabelle 10: Anteil "sensibler" Güter an den Exporten der Visegrád-Staaten in die EU 1990 und 1995

  1990 1995 b)
Polen 42,0 36,5
Slowakei   39,5
  34,8  
Tschechien   37,1
Ungarn 48,5 40,7
Alle Assoziationsländer a) 41,3 36,5
a) Einschließlich Bulgarien und Rumänien.    
b) Geschätzt.    
Quellen: Flek (1996); WTO (1996).

 

Literaturhinweise

1)Der Beitrag basiert auf den Ergebnissen eines von der EU-Kommission finanziell unterstützten Forschungsprojekts "Emerging Market Organization and Corporate Restructuring in Central and Eastern Europe", an dem der Autor zusammen mit Wissenschaftlern aus Ost und West beteiligt war. Insofern hat der Beitrag mehrere Ko-Autoren. Erwähnt seien Marek Belka (Warschau), Vladislav Flek (Prag), Läszlö Halpern (Budapest) und Michael Landesmann (Wien).

2)Polen, die ehemalige Tschechoslowakei und Ungarn beschlossen im Jahr 1991 im ungarischen Visegrád, eine Freihandelszone zu bilden. Sie wollten damit ihren Willen zu einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit dokumentieren. Obwohl die damaligen Absichtsbekundungen wenig praktische Bedeutung gewonnen haben, hat sich der Begriff Visegrád-Staaten im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt.

3)1996 betrug das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner aller EU-Länder zu Kaufkraftparitäten berechnet im Durchschnitt etwa 15 800 US-Dollar.

4)So sind in Polen etwa die Hälfte der Industrieunternehmen noch nicht privatisiert.

5)Das "Normalmuster" gibt an, welche Wirtschaftsstruktur bei einem bestimmten Pro-Kopf-Einkommen im internationalen Vergleich als typisch gelten kann.

6)Der Nordwesten der Tschechoslowakei war vor dem Ersten Weltkrieg das industrielle Herzstück der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie. Er gehörte in den 20er und 30er Jahren zu den am stärksten industrialisierten Regionen Europas.

a) zitierte Arbeiten und statistische Quellen
Belka, Marek und Stefan Krajewski (1996). Restructuring of Industry in Poland in Transitinn, (mimen). Flek, Vladislav (1996). Wage and Employment Restructuring in the Czech-Republic, (mimen). Heitger, Bernhard, Klaus Schrader und Eckhardt Bode (1992). Die mittel- und osteuropäischen Länder als Unternehmensstandort. Kieler Studien 250, Tübingen. Landesmann, Michael (1996). Emerging Patterns of Eu ropean Industrial Specialization: Implication for Labour Market Dynamits in Eastern and Western Europe. Wie ner Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Forschungsberichte Nr. 230, September.
Landesmann, Michael und Johann Burgstaller (1996). Vertical product differentiation in EU markets: the relative Position of East European producers, (mimen). World Trade Organization (WTO) (1996). Trade Policy Review: Czech Republic.

b) Vertiefende Literatur
Dobrinsky, Rumen und Michael Landesmann (Hrsg.) (1995). Transforming Economies and European Integration. Aldershot, UK, Brookfield, US: Edward Elgar. Gabrisch, Hubert unter Mitarbeit von Klaus Werner (1995). Die Integration der mittel- und osteuropäischen Länder in die europäische Wirtschaft. Institut für Wirtschaftsforschung Halle, Sonderheft 1/1995. Landesmann, Michael und Istvän Szekely (Hrsg.) (1995). Industrial Restructuring and Trade Reorientation in Eastern Europe. Cambridge University Press.