Zeitschrift

Der Vordere Orient an der Schwelle zum 21. Jahrhundert


Heft 3/98

Hrsg.: LpB


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Inhaltsverzeichnis


Ein breites Spektrum islamistischer Bewegungen

Bürgerkrieg oder Integration?

Islamismus und Staat im arabischen Raum

Von Volker Perthes


Dr. Volker Perthes ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik Ebenhausen.

Der politische Islam erscheint gegenwärtig als eine Massenbewegung im arabischen Raum, der nicht nur die bestehenden Regime bedroht, sondern auch als Gefahr für den Westen wahrgenommen wird. Doch diesen Islamismus gibt es als eine einheitliche politische Bewegung genau so wenig wie einen einheitlichen Islam. Drei islamistische Richtungen lassen sich ausmachen. So gibt es die eher konservative Hauptströmung mit seiner Heimat im Bazar und im Kleinbürgertum, den Staatsislam des Establishments und die militanten Extremisten von Randgruppen, bei denen die Grenzen zum Banditentum fließend sind. Die politischen Führungen in den arabischen Staaten haben sehr unterschiedliche Strategien im Umgang mit den Islamisten eingeschlagen. Die weitere Entwicklung dürfte abhängen von der politischen Entwicklung in den betreffenden Staaten, der jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, aber auch vom künftigen Verlauf des nahöstlichen Friedensprozesses.
Red.

 

Auf einige Zeit ein ernstzunehmender politischer Faktor

Für einen Abgesang auf den politischen Islam, vor allem jenen "neuen" Islamismus, der in den 80er und 90er Jahren zur wichtigsten Massenbewegung im arabischen Raum geworden ist, dürfte es am Ende dieses Jahrhunderts noch zu früh sein: Das von Olivier Roy schon Anfang der 90er Jahre diagnostizierte Scheitern des Islamismus1 ist so relativ wie sein Erfolg.

Sicher, die islamische Revolution des Iran ließ sich nicht exportieren; die Regierung des türkischen Islamistenführers Erbakan blieb ein kurzlebiges Experiment; in der arabischen Welt ist es, von Saudi-Arabien abgesehen, dessen traditionalistischer Staatsislam keineswegs das Modell heutiger islamistischer Bewegungen abgibt, gerade mal im Sudan gelungen, ein islamistisches Regime zu errichten; und der blindwütige Terror der algerischen Groupes islamiques armées (GIA) oder einzelner ägyptischer Gruppen drückt vor allem die politische Erfolglosigkeit dieser Form des militanten Islam aus. Gleichzeitig zeigt sich aber auch eine andere Realität: Die Islamische Republik Iran hat Krieg und internationale Isolationsversuche überlebt, sie hat, wie die Staatspräsidentenwahlen von 1997 zeigten, politische Korrekturmechanismen ausgebildet und sich insgesamt zum pluralistischsten System am Golf entwickelt; in verschiedenen Staaten der Region sind islamistische Gruppen fest ins politische System integriert; in den meisten arabischen Ländern haben islamistische Parteien - oder hätten bei einigermaßen freien Wahlen - eine Wählerbasis von 15 bis 30 Prozent oder mehr. Sie sind damit in jedem Fall ein ernstzunehmender politischer Faktor und dürften es auf einige Zeit bleiben.

"Politischer Islam" und "Islamismus" werden in diesem Beitrag als austauschbare Begriffe behandelt. Auf den Begriff "Fundamentalismus" wird hier verzichtet - nicht weil er falsch wäre, sondern weil sich aufgrund seines protestantischen Ursprungs eher für vergleichende Untersuchungen religiös-politischer Phänomene eignet, die ihren Ausgang im christlichen Kulturkreis nehmen.2 Dieser Beitrag wird zuerst auf einige allgemeine Fragen eingehen, die für die wissenschaftliche und publizistische Auseinandersetzung mit dem Thema "politischer Islam" von Bedeutung sind, wird dann kurz den politisch-ökonomischen Hintergrund beleuchten, vor dem islamistische Bewegungen sich in den letzten Jahrzehnten entwickelten, danach in ebenfalls verkürzter Form das heute relevante Spektrum des politischen Islam beschreiben und schließlich einige vorsichtige Aussagen zu den Entwicklungstendenzen des Islamismus und zu den Faktoren machen, die diese Entwicklungen beeinflussen dürften. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich dabei nicht auf die ganze islamische Welt, sondern ausschließlich auf den arabischen Raum: Nordafrika, Naher Osten und Persischer Golf.

Es gibt weder den Islam noch nur einen politischen Islam

Zwei eigentlich banale, gleichwohl aber wesentliche Erkenntnisse, sollten jedem Versuch, sich analytisch oder auch nur beschreibend mit politisch-islamischen Bewegungen und anderen gesellschaftlichen oder politischen Phänomenen des arabisch-islamischen Kulturraums zu beschäftigen, vorausgehen: Erstens, es gibt nicht den einen, über Zeit und Raum immer gleichen Islam. Zweitens, der Islam ist wie das Christentum oder andere Religionen als solcher auch kein Akteur, er "macht" keine Geschichte, und er determiniert auch nicht eine bestimmte Politik. "Man spreche nicht," empfiehlt deshalb Stefan Wild, "von ,dem Islam´, einer Abstraktion blassester Art, sondern von ,den Muslimen´ in dieser oder jener Weltgegend, in dieser oder jener historischen Epoche. Es wird dann alles viel komplizierter, aber die Chancen auf sinnvolle Aussagen steigen."3 Die Praxis politischer Bewegungen, auch und gerade solcher, die sich islamisch definieren, bestimmt nicht der historische Text; islamische Bewegungen legen vielmehr die Texte aus, auf die sie sich beziehen - und sie tun das meist durchaus bewußt selektiv.

Es gibt deshalb auch nicht nur einen politischen Islam, sondern ein Spektrum islamistischer Bewegungen, deren wesentlicher gemeinsamer Nenner ist, daß sie den Islam als einzige Quelle ihrer ethischen und politischen Orientierung betrachten. Verallgemeinernde Aussagen zur Ideologie politisch-islamischer Bewegungen sind natürlich möglich. Aber spätestens bei der Frage, wie diese Bewegungen sich eine islamische Ordnung vorstellen und wie ein islamischer Staat sich ihrer Ansicht nach innen- und außenpolitisch verhalten soll, wird es unterschiedliche Antworten geben.

Die Sozialwissenschaften müssen sich, wenn sie ein realistisches Bild von den Entwicklungsperspektiven des politischen Islam erhalten wollen, mit diesem auf die gleiche Weise beschäftigen - mit den gleichen Methoden und Konzepten - wie mit politischen Ideologien und Bewegungen in anderen Kulturkreisen. Das heißt, nach den konkreten sozio-ökonomischen und politischen Verhältnissen zu fragen, unter denen solche Bewegungen entstehen, und nach den Interessen, die sie vertreten, und es schließt den Vergleich mit nicht-muslimischen Ländern ein.

Weder antimodern noch unbedingt antiwestlich

Was sich allgemein sagen läßt, ist, daß die politisch-islamischen Bewegungen, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben, keineswegs, wie gelegentlich noch kommentiert wird, einen "Bruch mit der Moderne" anstreben. Richtiger ist, daß diese Gruppen aus einem von vielen politischen Bewegungen geteilten "Unbehagen in der Moderne"4 handeln, daß sie ihre Gesellschaften um viele Errungenschaften dieser Moderne betrogen sehen und daß sie sich in ihrer Ideologie bemühen, eine Verbindung zwischen diesen Errungenschaften, den technischen wie den politischen, und dem islamischen Erbe ihrer Gesellschaften herzustellen.

Politisch-islamische Bewegungen sind auch nicht notwendig antiwestlich. Die seit Anfang der 90er Jahre so oft wiederholte Behauptung vom unvermeidlichen Zusammenstoß zwischen "Islam" und "Westen" ist ein Mythos, der, wie Fred Halliday anmerkt, von einer Koalition augenscheinlich gegensätzlicher Seiten beschworen wird: vom Lager derjenigen im Westen, die die islamische Welt zum neuen Feind erklären wollen, und von denjenigen in den muslimischen Staaten, die eine Konfrontation mit nicht-muslimischen, insbesondere westlichen Staaten suchen.5 Tatsächlich ist die Geschichte des modernen politischen Islam auch die Geschichte nicht immer glücklicher Bemühungen um die Aneignung und Verarbeitung westlicher politischer Konzeptionen.6 Kritik am Westen und auch antiwestliche Stereotype sind dabei weit verbreitet: Das islamistische Bild vom Westen zeigt vor allem Werteverfall, moralische Dekadenz und übertriebenen Individualismus; "Verwestlichung" beinhaltet aus islamistischer Sicht die Gefahr eines moralischen Verfalls der eigenen Gesellschaften. Darüber hinaus jedoch ist die islamistische Kritik am Westen im wesentlichen politisch, und diese Kritik unterscheidet sich allenfalls in Nuancen von der nationalistischer oder linker Kräfte: Sie verweist auf europäischen Kolonialismus, auf wirtschaftliche, politische und militärische Abhängigkeiten, auf die Zusammenarbeit westlicher Regierungen mit den Diktatoren der arabischen Welt und vor allem auf die westliche, insbesondere amerikanische Unterstützung Israels. Moderate Vertreter des politischen Islam weisen gleichzeitig darauf hin - nicht anders als besonnene Kräfte im Westen -, daß die Existenz unterschiedlicher Kulturen und daß auch politische und wirtschaftliche Interessenkonflikte Dialog, Ausgleich und Zusammenarbeit keineswegs unmöglich machen.7

Der Aufstieg des Islamismus im Gefolge der Legitimationskrisen des Staates

Die heutigen politisch-islamischen Bewegungen finden ihre geistigen Wurzeln bei den islamischen Reformern des ausgehenden 19. Jahrhunderts und bei radikal-islamistischen Denkern der 30er bis 50er Jahre, der Zeit des Kampfes um Unabhängigkeit und der frühen Unabhängigkeitsphase der führenden arabischen Staaten. Zur fast durchgängig wichtigsten Oppositionsbewegung wurden sie erst im letzten Drittel dieses Jahrhunderts, vor allem in den 90er Jahren. Ihr Bedeutungszuwachs ist in erster Linie Ergebnis der Legitimationskrise, die die meisten arabischen Regime erlebten, nicht ausschließlich zwar, aber insbesondere jene der republikanischen und ihrem Selbstverständnis nach in der ein oder anderen Form arabisch-nationalen Systeme: Ägypten, Syrien, Algerien, Irak und andere.

Legitimationskrise der arabischen Staaten und Aufstieg der politisch-islamischen Opposition sind nicht ohne einen Blick auf die politisch-ökonomischen Entwicklungen der Region zu erklären. Mit dem Ölboom der frühen 70er Jahre entwickelten die meisten arabischen Staaten sich zu Allokationsstaaten, die mittels eigener Öleinkommen oder strategischer Renten - finanziellen Leistungen, die dem Staat aufgrund seiner politischen Rolle oder seiner strategischen Position, vor allem im Nahost-Konflikt, zuflossen - Entwicklung finanzierten und Einkommen bzw. Einkommenschancen zuteilten.8 Politische Loyalität war im Zweifelsfall wichtiger als wirtschaftliche Produktivität - solange Öl und Zuschüsse flossen, konnte der Staat patriarchalisch für das Auskommen seiner Subjekte sorgen und gleichzeitig politische Zustimmung erwarten. Der demokratische Grundsatz no taxation without representation ließ sich umdrehen: Der Staat war auf die wirtschaftliche Leistung und die Steuern seiner Bürger kaum angewiesen und sah deshalb auch keine Veranlassung, sie politisch zu beteiligen. Abweichende Meinungen und politischer Protest wurden gewaltsam unterdrückt; kaum ein Staat in der Region, der nicht einen gewaltigen, vor allem nach innen gerichteten Sicherheitsapparat aufbaute.

Die Folgen der Ölkrise

Mit der eigentlichen "Ölkrise", dem Verfall der Ölpreise und dem Rückgang der Zuschüsse aus den reichen Ölstaaten Mitte der 80er Jahre zeigte sich, daß der oft beeindruckende Aufbau wirtschaftlicher und sozialer Infrastruktur keine selbsttragende Entwicklung initiiert hatte. Bestimmte gesellschaftliche und politische Erscheinungen, die die autoritär-patriarchalischen Regime in Zeiten reichlich fließender Öl- und anderer Renteneinnahmen toleriert, zum Teil sogar bewußt gefördert hatten - Korruption, eine aufgeblähte Bürokratie, die Abhängigkeit weiter Bevölkerungsschichten und eines großen Teils der privaten Wirtschaft vom Staat und von staatlichen Subventionen - wirkten nun krisenverschärfend. Dabei konnten die relativ bevölkerungsarmen Ölmonarchien am Golf den Rückgang der Öleinnahmen leichter verarbeiten als etwa ein hoch verschuldeter Produzent wie Algerien oder ein Nicht-Ölproduzent wie Jordanien, der im wesentlichen von den Zuschüssen der Ölstaaten und von Migrantenüberweisungen abhängig war. Diese Staaten, wie auch Ägypten, Syrien oder Tunesien, waren zu teilweise einschneidenden Strukturanpassungsmaßnahmen gezwungen.

Augenfälligstes Ergebnis der Strukturanpassung waren sinkende Realeinkommen und ein Rückgang staatlicher Leistungen. Betroffen waren vor allem die lohnabhängige Mittelschicht, die einst einen wesentlichen Teil der arabisch-nationalistischen Regimebasis ausgemacht hatte, und die Abgänger von weiterführenden Schulen und Hochschulen, denen nicht einmal mehr die Perspektive einer sicheren Beschäftigung im öffentlichen Sektor verblieb. Gleichzeitig kam es zur sichtbaren Bereicherung eines Teils der Regimeeliten und der mit ihnen verbundenen neuen Bourgeoisien. Obwohl die einzelnen Staaten unterschiedlich vorgingen, läßt sich generell sagen, daß versucht wurde, bestimmte wirtschaftliche Strukturreformen durchzuführen, ohne aber gleichzeitig substantielle politische Reformen einzuleiten. Einschneidende Anpassungsmaßnahmen fanden so, anders als etwa in Osteuropa, ohne Demokratisierung und ohne Regimewechsel statt; der Legitimitätsverlust, den das wirtschafts- und sozialpolitische Versagen mit sich gebracht hatte, wurde nicht politisch ausbalanciert. Nur wenige Staaten erlaubten eine Parlamentarisierung des Protests, der im wesentlichen von islamistischen Bewegungen getragen wurde.

Andere Oppositionskräfte waren zu schwach oder nicht glaubwürdig

Andere Oppositionskräfte waren zu schwach oder nicht glaubwürdig genug: Arabische Nationalisten, die bis in die 70er Jahre die massenwirksamste politische Bewegung in der arabischen Welt darstellten, hatten über ihre Zusammenarbeit mit den herrschenden Regimen und über die offenbare Erfolglosigkeit des arabischen Nationalismus viel Ansehen verloren. Die Kommunisten, die in einigen arabischen Ländern zeitweise eine Rolle gespielt hatten, verloren mit dem Zusammenbruch der UdSSR Leitbild und Attraktivität. Gewerkschaften waren entweder zu Mobilisierungsapparaten der Staatsparteien verkommen oder kämpften gegen bestimmte Effekte der Strukturanpassung, nicht für politische Veränderung. Liberale und sozialdemokratische Kräfte waren in der Regel kleine, von Freiberuflern und Intellektuellen getragene Gruppen, die sich für Bürgerrechte einsetzen, ein gewisses Ansehen, aber keinen sehr großen Anhang hatten und leichtes Opfer staatlicher Repression wurden.

Dagegen verfügten die Islamisten meist über eine gut ausgebaute Infrastruktur, zu der nicht nur Moscheen, sondern auch karitative Einrichtungen gehörten. Ihre soziale Tätigkeit, ihr Image, ehrlich und nicht korrupt zu sein, ihr religiöser Anspruch und ihre Verankerung im konservativen Milieu machten sie glaubwürdig und gaben ihnen breite Popularität. Die Botschaft der verschiedenen islamistischen Gruppen war keineswegs religiös, sondern vorwiegend politisch: Hauptthemen islamistischer Propaganda waren die Korruption der Herrschenden, soziales Elend und der Verfall öffentlicher Moral, staatliche Repression, die Forderung nach Demokratie sowie, im Nahen Osten eher als im Maghreb, die Auseinandersetzung mit Israel.

Unterschiedliche staatliche Strategien im Umgang mit der islamistischen Opposition

Die staatlichen Strategien im Umgang mit dem Protest waren, wie angesprochen, nicht einheitlich.9 In Algerien wurde Ende der 80er Jahre unter dem Druck einer hochpolitisierten Öffentlichkeit eine weitgehende Demokratisierung eingeleitet; Parteien und eine freie politische Auseinandersetzung wurden erlaubt. Als die Islamische Heilsfront (FIS) dann aber den ersten Wahlgang der Parlamentswahlen von 1991 gewann, setzte die alte Regimeelite - diejenigen also, die die Wahlen verloren hatten - den Wahlprozeß aus, verbot die FIS und trieb das Land in den anhaltenden Bürgerkrieg. Die syrische Führung ging schon Anfang der 80er Jahre mit aller Gewalt gegen die islamistische und die säkulare Opposition vor, hielt alle organisierte Opposition unter Kontrolle, erlaubte aber eine weitgehende Ausbreitung öffentlich zur Schau getragener Frömmigkeit. Die ägyptischen Regierungen spielten mit einem Wechsel von politischer Liberalisierung und Deliberalisierung, ließen eine gewisse islamistische Präsenz in den Medien und in der Politik, aber keine islamistische Partei zu und suchten militante Oppositionsgruppen mit militärischen und polizeistaatlichen Mitteln zu unterdrücken. In Saudi-Arabien fehlten die sozio-ökonomischen Voraussetzungen für die Entstehung einer oppositionellen Massenbewegung; kleinere Gruppen radikaler Islamisten wurden, wenn nötig, polizeilich unter Kontrolle gebracht. Den bislang erfolgreichsten Umgang mit islamistischer Opposition zeigten die aufgeklärt-autokratischen Führungen Jordaniens, Marokkos und des Jemen: in diesen Ländern fand eine ernsthafte Öffnung des politischen Systems statt, einschließlich regelmäßiger, wenngleich mehr oder weniger kontrollierter pluralistischer Wahlen. Islamisten wurden ins politisch-parlamentarische Spektrum integriert. Diese Integration läßt prinzipiell auch ihre Regierungsbeteiligung zu, bedingt aber die Akzeptanz des herrschenden Systems und seiner institutionellen Spielregeln.

Drei Gruppen: die konservative Hauptgruppe und ihre soziale Basis

Islamismus bezeichnet ein breites politisches Spektrum. Mit einiger Vereinfachung läßt sich von drei Gruppen sprechen: vom islamistischen Mainstream, vom Staatsislam und vom militant-extremistischen Islamismus. Zudem sind die diversen islamistischen Gruppen sehr deutlich das Produkt der spezifischen politischen Verhältnisse und der politischen Kultur ihres jeweiligen Landes: eine islamistische Internationale gibt es, trotz vieler Gemeinsamkeiten, nicht; der politische Referenzrahmen der meisten Gruppen ist der einzelne Nationalstaat.

Den auf lange Sicht bedeutendsten Teil des politischen Islam dürften jene Gruppen und Parteien ausmachen, die man dem islamistischen Mainstream zuordnen kann.10 Dazu gehören unter anderem die jordanischen, ägyptischen und syrischen Muslimbrüder, die tunesische Nahda-Partei, die jemenitische Islah und auch, zumindest zum überwiegenenden Teil, die algerische FIS, die palästinensische Hamas und seit einiger Zeit die libanesische Hizbullah. Ihrer gesellschaftlichen Verortung und politischen Ideologle nach sind diese Gruppen konservativ. Sie haben ihre soziale Basis vor allem im Mittelstand, dem "Bazar", und im Kleinbürgertum, also bei Angestellten und Beamten, sowie bei einem Teil der Arbeiter- und Handwerkerschaft. Ihre politischen Aussagen entsprechen denen sozial-konservativer Bewegungen in anderen Weltregionen: sie sind im Grunde anti-liberal, anti-sozialistisch und einigermaßen nationalistisch, sie treten für eine Wiederbelebung religiöser und moralischer Werte ein, letztlich für einen Staat, dessen Gesetzgebung den Geboten der Religion folgt, und für eine sozial verpflichtete Marktwirtschaft. Grundsätzlich sind diese Mainstream-Gruppen bereit, in den existierenden politischen Institutionen mitzuarbeiten; sie können bei freien Wahlen auf eine stabile Wählerbasis bauen; sie sind meist stark in den Berufsverbänden der Ärzte und Ingenieure und in den Handelskammern vertreten; und sie sind die wesentlichen Träger einer islamischen Infrastruktur aus Schulen, Sozialeinrichtungen und Vereinen, die den politischen Verhältnissen entsprechend mit dem Staat kooperieren oder den Kern einer Gegengesellschaft bilden können. In Bürgerkriegssituationen und dort, wo die herrschenden Regime sie in den Untergrund gedrängt haben, haben einige dieser Gruppen militärische Flügel ausgebildet, doch zum Teil - deutlichster Fall ist hier die algerische FIS - haben sie die Kontrolle darüber verloren.

Die palästinensische Hamas wie auch, seit dem Ende des Bürgerkriegs, die libanesische Hizbullah, haben durch den anhaltenden Konflikt mit Israel einen besonderen Charakter: Hamas repräsentiert eine starke Gruppe innerhalb der palästinensischen Gesellschaft, die zwar nicht jeden Friedensprozeß, aber die Kompromißstrategie Arafats ablehnt; Hizbullah ist zum wesentlichen Träger des im Grunde nationalen libanesischen Widerstands gegen die israelische Besetzung des Südlibanon geworden. Gleichzeitig vertreten beide Gruppen jedoch auch ein politisch-konservatives Projekt für ihre jeweilige Gesellschaft.

Der Staatsislam

Die Übergänge zwischen dem oppositionellen islamistischen Mainstream und dem allenfalls in Ausnahmefällen oppositionellen Staatsislam sind gelegentlich fließend. Zum Staatsislam lassen sich die Mitglieder des meist auch im Staatsdienst beschäftigten und überwiegend traditionalistischen religiösen Establishments rechnen - in dem seinem Selbstverständnis nach islamischen Staat Saudi-Arabien genauso wie in anderen Staaten. Im ersteren Fall sind die Mitglieder dieses Establishments gleichzeitig auch die Ideologen des Staates, in den anderen Fällen haben sie mit dem mehr oder weniger säkularen Staat zumindest ihren Frieden gemacht: nicht unbedingt aus Zustimmung zum herrschenden Kurs, sondern eher aus einer durchaus traditionsreichen Haltung in der islamischen Geistlichkeit, die politische Herrschaft schon dann für legitim erklärt, wenn sie von Muslimen ausgeübt wird und den Staat zusammenhält. Politische Differenzen vor allem in den Kernbereichen religiös-politischen Interesses, namentlich der Gesellschafts- und Familienpolitik, schließt das nicht aus: Ein deutliches Beispiel war die grundsätzliche Kritik des religiösen Establishments in Ägypten an der Kairoer Weltbevölkerungskonferenz von 1994, einem der staatlichen Führung ausgesprochen wichtiges Ereignis.

Die militant-extremistischen Islamisten

Anders als der konservative Mainstream und der traditionalistische Staatsislam besteht der militant-extremistische Islamismus aus minoritären Gruppen - darunter die algerische GIA, die ägyptischen Jama´at Islamiyya und andere -, die in der Regel alle Hoffnung auf Reform aufgegeben haben, die herrschenden Regime verketzern, ihnen und oft auch der Bevölkerung den Krieg erklären und sich deshalb auch nicht um gesellschaftliche Zustimmung sorgen. Der Übergang zum Banditentum ist, wie das algerische Beispiel zeigt, gerade unter anhaltenden Bürgerkriegsbedingungen fließend. So diese extrem gewaltbereiten Gruppen noch eine politische Vision haben, ist es die eines kämpferischen islamischen Staates, der in der Nachfolge des Propheten und unter Leitung eines charismatischen Führers auf dem Wege Gottes gegen das Böse der Welt kämpft.

Im allgemeinen stellen diese Gruppen zwar keine Bewegung der Marginalisierten dar, haben in diesem Sinne auch kein soziales oder wirtschaftliches Programm, rekrutieren aber einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Mitgliedschaft aus Kreisen der Strukturanpassungsverlierer. Auch ein Zusammenhang zwischen sozialer Marginalisierung und Gewalt besteht zweifellos. Viele der Kader ägyptischer islamistischer Terrorgruppen sind schlecht ausgebildete junge Akademiker ohne Berufschancen, meist aus den ärmsten Provinzen des Landes. Ein Teil der Mitgliedschaft dieser Gruppen stammt ursprünglich aus dem islamistischen Mainstream; viele der mittlerweile etwas älteren, militärisch ausgebildeten Mitglieder gehören zu den sogenannten "arabischen Afghanen" - sind also ehemalige Freiwillige, die häufig mit Wissen und Zustimmung ihrer Regierungen, wie auch des Westens, in den Reihen afghanischer Islamisten kämpften, seit deren Machtübernahme in Kabul dort nicht mehr gebraucht werden und - zum Teil jedenfalls - beschlossen, den Kampf für einen islamischen Staat in den eigenen Ländern fortzusetzen.

Ein Nachdenken über den Gewaltkurs hat begonnen

Gegenwärtig, am Ende der 90er Jahre, haben Islamisten verschiedener Coleur realisiert, daß ihre eigenen Strategien und ihre Haltung zu Staat und Gesellschaft revisionsbedürftig sind. Bei einem Teil der militanten Gruppen hat unter dem Eindruck ihrer Erfolglosigkeit ein Nachdenken über den Gewaltkurs begonnen; in Ägypten haben in diesem Sinne die sogenannten historischen Führer der militanten Gruppen einen "Waffenstillstand" erklärt und Anschläge auf Touristen verurteilt. Zu erwarten ist hier eine Spaltung in eine politische Strömung islamistischer Militanz, die terroristische Gewalt aufgibt, und einen kleinen und gesellschaftlich völlig isolierten terroristischen Kern.

Innerhalb des Mainstreams gibt es eine sehr viel breitere und auch schon länger anhaltende Debatte über Pluralismus und Demokratie und über die Haltung zu anderen politischen Kräften. Die wichtigsten Gruppen des Mainstream haben erkannt, daß sie, wenn sie als legitime Teilnehmer eines zivilen politischen Lebens akzeptiert werden wollen, mehr als ein taktisches Verhältnis zu politischer Pluralität und zu demokratischen Verfahrensweisen entwickeln müssen. In diesem Sinne hat die algerische FIS sich 1995 mit anderen politischen Gruppen in der Plattform von Sant´ Egidio unter anderem zu Parteienvielfalt und Gewaltenteilung und zum Prinzip politischen Machtwechsels durch Wahl bekannt, hat die libanesische Hizbullah den pluralistischen und multikonfessionellen Staat anerkannt, haben Vertreter verschiedener Mainstream-Islamisten sich in teils mühsamen Dialogen mit anderen politischen Kräften, insbesondere mit arabischen Nationalisten und Liberalen, um eine Annäherung bei politischen Grundfragen wie Zivilgesellschaft, Demokratie und Gewalt als Mittel der Politik bemüht.11 Ob es dem islamistischen Mainstream gelingt, sich in ein muslimisches Pendant europäisch-christdemokratischer Parteien zu verwandeln - den Vergleich bemühen einige Führer islamistischer Parteien schon heute -, hängt allerdings nicht nur von ihren inneren Diskussionsprozessen, sondern wesentlich auch von den politischen Systementwicklungen in ihren Ländern ab.

Staatliche Strategien im Umgang mit den Islamisten

Drei Faktoren vor allem dürften die Entwicklungstendenzen islamistischer Politik beeinflussen: die politische Entwicklung in den betreffenden Staaten, die soziale und wirtschaftliche Entwicklung und der Verlauf des nahöstlichen Friedensprozesses. So werden sich, wie Islamisten ihr Verhältnis zum Staat zu überprüfen haben, auch die herrschenden Regime der Frage des Umgangs mit dem politischen Islam stellen müssen. Die Strategien bewegen sich zwischen solchen der Repression, in Tunesien, Algerien und Ägypten etwa, der gezielten Integration wie in Jordanien, Jemen oder Marokko, und einer Politik taktischer Allianzen wie sie die syrische oder, in anderer Form, die palästinensische Führung zu betreiben versucht: gezieltes Zusammengehen in Fragen des nationalen Interesses, insbesondere des arabisch-israelischen Konflikts, und Repression, wo Islamisten innenpolitisch zum Rivalen werden oder den außen- und friedenspolitischen Kurs gefährden.

Die staatlichen Strategien im Umgang mit politischem Islam sind selten isoliert von allgemeinen Fragen der politischen Systementwicklung: Schritte zu mehr Pluralismus oder demokratischer Öffnung gehen auch mit einem politischen Integrationsangebot an islamistische Kräfte einher; repressive Strategien mit allgemeiner Deliberalisierung oder politischer Stagnation.12 Es ist unübersehbar, daß einige der herrschenden Regime eher eine weitere "Terrorisierung" der Politik als den pluralistischen Wettbewerb mit Oppositionsparteien zu riskieren bereit sind und islamistische Opposition deshalb auch weiter in den Untergrund drängen werden.13 Gleichzeitig ist nicht auszuschließen, daß es in einzelnen Staaten, die heute noch auf Repression der Islamisten setzen, plötzlich, nach dem Tod des Staatschefs etwa, zu einer Symbiose der herrschenden militärisch-bürokratischen Elite mit Teilen des islamistischen Mainstream kommt, zumal wenn dieser eine ernstzunehmende Basis in den unteren und mittleren Rängen der Streitkräfte hat. Der Sudan bietet heute ein Modell solch möglicher militärisch-islamistischer Allianzen. Hoffnungen auf politische Liberalisierung würde ein derartiges Zusammengehen in weite Ferne rücken.

Gezielte Armutsbekämpfung

Eine Reihe arabischer Regime hat erkannt, daß weitere wirtschaftliche Reform soziale Faktoren stärker berücksichtigen und insbesondere mit gezielter Armutsbekämpfung einhergehen muß. Eine solche Neuorientierung, die zur allgemeinen politischen Entspannung beitragen könnte, dürfte sich insbesondere in den Ländern durchsetzen, die bereits einen einigermaßen erfolgreichen makroökonomischen Anpassungsprozeß vollzogen haben - Tunesien und Marokko etwa. Staaten, die den größten Teil notwendiger wirtschaftlicher Reform noch vor sich haben, wie Syrien oder Libyen, dürften den sozialen Effekten vermutlich erst verspätet Rechnung tragen; das soziale Konfliktpotential in diesen Ländern könnte deshalb noch wachsen. Die internationalen Partner dieser Staaten werden ihrerseits darauf achten müssen, nicht nur wirtschaftliche Anpassungsleistungen zu verlangen, sondern eine nachhaltige Entwicklung zu unterstützen, die Armut reduziert und Arbeit schafft.

In Abhängigkeit vom nahöstlichen Friedensprozeß

Schließlich werden politische und ideologische Entwicklungen in der gesamten arabisch-nahöstlichen Welt vom Verlauf des arabisch-israelischen Konflikts beeinflußt. Eine Lösung, die zur Errichtung eines lebensfähigen palästinensischen Staates und zur Aufnahme politischer und wirtschaftlicher Beziehungen zwischen Israel und allen seinen Nachbarstaaten führt, wird pragmatische Tendenzen in den meisten arabischen Staaten stärken; eine Fortsetzung oder Verschärfung der Konfrontation dagegen dürfte die Popularität radikaler islamistischer Strömungen wachsen lassen. Nicht zu Unrecht erklären deshalb Vertreter der palästinensischen Führung, daß nur ein echter Friede dem Terror den Nährboden entziehen könne.

Die Länder der Region stehen heute nicht, wie einige arabische Führer dem Ausland gegenüber gern zu erklären versuchen, vor der Wahl zwischen Islamismus und Demokratie. Die verschiedenen islamistischen Kräfte müssen sich zu Recht fragen lassen, wie sie es mit der Demokratie halten; die meisten Vertreter der herrschenden Regime aber haben schon bewiesen, daß mit ihnen kein demokratischer Staat zu machen ist. Die wesentliche politische Frage, vor der die arabischen Staaten und ihre Gesellschaften heute stehen, ist die, ob es ihnen gelingt, ein pluralistisches und rechtsstaatliches System auszubilden und alle wesentlichen politischen Kräfte, darunter nicht zuletzt den islamistischen Mainstream, in dieses System und seine Spielregeln einzubinden. Staaten wie Jordanien, Marokko, der Libanon oder Jemen scheinen zu zeigen, daß dies möglich ist. Zu den beängstigend realistischen Alternativen gehört das algerische Modell: der institutionalisierte Bürgerkrieg.

 

Anmerkungen

 

1) Vgl. Olivier Roy, Lechec de l´islam politique, Paris (Le Seuil) 1992.

2) Vgl. etwa die Studie von Martin Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung. Amerikanische Protestanten (1910-28) und iranische Schiiten (1961-79) im Vergleich, Tübingen (Mohr) 1990.

3) Stefan Wild, "Der Prophet und sein Bart. Der Islam und die Moderne", in: Wirtschaft & Wissenschaft, 5 (November 1997) 4, S. 12-18 (S. 14).

4) Vgl. Sadik J. Al-Azm, Unbehagen in der Moderne. Aufklärung im Islam, Frankfurt/M (Fischer Taschenbuch Verlag) 1993.

5) Fred Halliday, Islam and the Myth of Confrontation. Religion and Politics in the Middle East, London/New York (I.B.Tauris) 1996, S. 6.

6) Vgl. vor allem das Standardwerk zur Kultur- und Ideologiegeschichte der islamischen Moderne: Reinhard Schulze, Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert, München (C.H.Beck) 1994.

7) Vgl. etwa die in diesem Sinne sehr ähnlichen Beiträge des iranischen Staatspräsidenten Mohammad Khatami in seiner Rede zur 8. Sitzung der OIC im Dezember 1997 in Teheran, in: BBC Summary World Broadcast vom 11. 12. 1997, und des deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog in seiner Rede anläßlich der Friedenspreisverleihung an Annemarie Schimmel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 10. 1995.

8) Zur Rentenökonomie der arabischen Staaten vgl. den Beitrag von Martin Beck und Oliver Schlumberger in diesem Heft. Zur politischen Ökonomie des Allokationsstaates siehe grundlegend: Giacomo Luciani, "Allocation versus Production States", in: ders (Hrsg.), The Arab State, Berkeley (California University Press) 1990; zu politischen und strategischen Renten im Nahen Osten vgl. Volker Perthes, "Kriegsdividende und Friedensrisiken: Überlegungen zu Rente und

Politik in Syrien", in: Orient, 35 (1994) 3, S. 413-424.

9) Einen guten, aktuellen Überblick über die Strategien arabischer Staaten im Umgang mit islamistischer Opposition bieten Bassma Kodmani-Darwish/May Chartouni-Dubarry (Hrsg.), Les états arabes face ˆ la contestation islamiste, Paris (Armand Colin) 1997.

10) Vgl. ausführlicher Volker Perthes, "Die Fiktion des Fundamentalismus. Von der Normalität islamistischer Bewegungen", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 38 (Februar 1993) 2, S. 188-200.

11) Vgl. beispielsweise die Schlußerklärung der Zweiten Islamisch-Nationalen Konferenz (al-mu´tamar al-qaumi al-islami), Beirut, 19. 10. 1997, in: al-Mustaqbal al-arabi (Beirut), 20 (Dez. 1997) 226, S. 75-85.

12) Zu den Entwicklungen politischer Herrschaft im arabisch-nahöstlichen Raum vgl. insgesamt Ghassan Salamé (Hrsg.), Democracy without Democrats? The Renewal of Politics in the Muslim World, London/New York (I.B.Tauris) 1994.

13) Vgl. Graham Fuller, "Some Lessons of Algeria", in: Volker Perthes (Hrsg.) Political Islam and Civil Society in Northern Africa: Four Approaches (Arbeitspapier 3071, Stiftung Wissenschaft und Politik) Ebenhausen, Mai 1998, S. 7-16.