Zeitschrift

Auf dem Wege zur
Zivilgesellschaft

 

Vorwort


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Inhaltsverzeichnis


Eigentlich grenzt es an ein Wunder: der Aufbau einer Demokratie in Deutschland nach 1945, die sich nun schon über 50 Jahre hinweg als außerordentlich stabil erwiesen hat, mit gut funktionierenden Institutionen, die letztlich von gemeinsamen Grundüberzeugungen und vom Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land getragen werden. Von der Ausgangslage her war das nicht unbedingt zu erwarten, angesichts der Trümmer, die das "Dritte Reich" in jeder Beziehung hinterlassen hatte. Skeptisch waren nicht nur Beobachter von außen, wenn sie die politischen Traditionen in Deutschland bedachten, die ihnen ganz und gar nicht demokratieförderlich erscheinen konnten.

Dass Deutschland wirtschaftlich so schnell wieder auf die Beine kam, ja ausgesprochen weltweit erfolgreich war, war eher zu erwarten, angesichts der viel gerühmten "deutschen Tugenden". Trotzdem wurde vom "Wirtschaftswunder" gesprochen. Sehr viel angebrachter wäre es, von einem politischen Wunder zu reden, mehr noch von einem politisch-kulturellen Wunder. Denn was sich seit dem Ende von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg in den Köpfen und im politischen und sozialen Verhalten der Deutschen entwickelt hat, war völlig unvorhersehbar, hat ein Deutschland geschaffen, das es so nie gab und das mit allem vorher Gegebenen nichts zu tun hat - ein durch und durch demokratisches Deutschland, ein Deutschland der guten Nachbarschaft, ein Deutschland, vor dem niemand in der Welt sich mehr zu fürchten braucht. Dieses "Wunder" gilt es zu konstatieren und - ein Stück weit wenigstens - auch zu erklären.

An erster Stelle, zumindest zeitlich, steht die Erfahrung von "Drittem Reich" und Krieg. Das System des Nationalsozialismus hatte sich so gründlich diskreditiert, dass nach 1945 ihm niemand mehr nachtrauerte. Der Boden für einen völligen Neuanfang war damit vorbereitet. Die politischen Eliten im engeren Sinne des Wortes waren umfassend ausgetauscht: die des "Dritten Reiches" hatten Selbstmord begangen, saßen im Gefängnis, waren amtsenthoben oder waren untergetaucht. Die Eliten der anderen Sektoren der deutschen Gesellschaft - in Verwaltung und Justiz, in Massenmedien und in den Hochschulen sowie in der Wirtschaft - hatten, wenn sie allzu exponiert gewesen waren, ihre Stellen verloren. Ansonsten hatten sich die deutschen Eliten sehr schnell auf die neuen Verhältnisse eingestellt, nicht nur aus Opportunismus, sondern gerade weil das alte System sich auch in ihren Augen diskreditiert hatte. Hier liegt ein bemerkenswerter Unterschied zur Situation nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Untergang des Kaiserreiches. Als Funktionseliten konnten sie nun ihr Wissen und ihre Erfahrung in den materiellen Wiederaufbau einbringen. Der rasche Erfolg Deutschlands nach dem totalen Zusammenbruch nach 1945 beruhte gerade auch darauf, dass es außerhalb von Politik und politischer Kultur keine Stunde Null gab. Die spezifisch deutsche Situation bestand also darin, dass auf dem Gebiet von Staat, Politik und politischer Kultur ein umfassender Neubeginn stattfand, auf den anderen Gebieten wie Verwaltung, Bildung und vor allem Wirtschaft eben gerade nicht. Diskontinuität und Kontinuität in geschickter, ja in "richtiger" Weise gekoppelt - das war das Erfolgsrezept. Deutlich wird das auch in Hinblick auf den anderen Teil Deutschlands, der von einer solchen Entwicklung ausgeschlossen blieb.

An zweiter Stelle genannt zu werden verdient eine "geschickte Verfassungsgebung", wie das Martin und Sylvia Greiffenhagen bezeichnet haben. Das Grundgesetz, das bewusst aus den Erfahrungen von "Weimar" zu lernen versucht hat, darf mit guten Gründen als eine Meisterleistung bezeichnet werden. Insbesondere das Arrangement funktionstüchtiger Institutionen war wichtig für den Erfolg des Grundgesetzes - so bedeutend es natürlich auch ist, dass in dieser Verfassung die Grundrechte demonstrativ an erster Stelle stehen. Gerade wegen dieser hohen Qualität der Verfassungsgebung vor nunmehr 50 Jahren war es durchaus naheliegend, es nach der deutschen Vereinigung bei diesem Grundgesetz zu belassen.

Eine Verfassung, und sei sie noch so gut, lebt davon, dass sie verstanden und akzeptiert und dass nach ihr gehandelt wird, nicht nur dem Buchstaben, sondern vor allem dem Geist nach. Das gilt nicht nur für die handelnden Politiker, das gilt für alle. Von daher ist es wichtig, dass die Menschen im Geist dieser Verfassung erzogen werden, dass sie den Sinn ihrer Institutionen verstehen und dann die Politiker daran messen, inwieweit sie sich institutionengerecht verhalten. Hier liegt eine zentrale Aufgabe der politischen Bildung, in Form des Gemeinschaftskundeunterrichts der Schulen, in Polizei und Bundeswehr, in der freien Jugend- und Erwachsenenbildung. Wobei die Aufgabe von Bundeszentrale und Landeszentralen für politische Bildung darin besteht, die Qualität der politischen Bildungsarbeit in den verschiedenen Sektoren der Gesellschaft zu gewährleisten - durch Publikationen und durch Veranstaltungen. Die Institutionalisierung politischer Bildung verdient somit an dritter Stelle genannt zu werden, wenn nach den Gründen für das politische Wunder Deutschland gefragt wird.

Demokratie setzt den informierten und engagierten Bürger voraus, der willens und in der Lage ist, sich politisch einzumischen. Nicht nur wenn er ausdrücklich gefragt ist wie bei Wahlen und Abstimmungen, sondern immer dann, wenn es notwendig ist, aber selbstverständlich auch, wenn er seine Interessen berührt sieht. In einer Massendemokratie bedarf es dafür der Massenmedien, die die Informationen für den konkreten Fall liefern. Politische Bildung und Massenmedien arbeiten letztlich dabei Hand in Hand. Eine freie Presse sicherzustellen, gehört zu den Grunderfordernissen der Demokratie. Der regierungsunabhängige Rundfunk als Informationsmedium ist in Deutschland ein Novum. Die Weimarer Republik kannte nur den Regierungsrundfunk, die deutschen Nachkriegspolitiker aus der Weimarer Zeit versuchten daran anzuknüpfen, wurden aber von den alliierten Kulturoffizieren daran gehindert, die auf der öffentlich-rechtlichen Konstruktion mit der Kontrolle durch die gesellschaftlich relevanten Gruppen bestanden. Die hohe Qualität einer freien, demokratischen und unabhängigen Medienlandschaft lässt sich als vierte Voraussetzung anführen.

Damit ist zugleich eine fünfte Voraussetzung angesprochen, die das demokratische Wunder Deutschland ermöglicht hat: die Hilfestellung der Alliierten, die entscheidende Weichenstellungen im Medienbereich trafen, die im Bereich der Kulturpolitik deutsche Politiker aus der Weimarer Zeit dazu brachten, autoritäre Staatsvorstellungen zu verlassen und den mündigen Bürger ernst zu nehmen. Ihre "re-education"-Politik wurde anfänglich gerne diffamiert, letztlich mündete sie aber doch in der allgemein als unverzichtbar angesehenen politischen Bildung.

Natürlich konnte sich die junge Demokratie in den Augen der Bevölkerung langfristig dadurch legitimieren, dass sie erfolgreich war. Dabei steht der wirtschaftliche Erfolg zweifellos obenan. Politische Systeme müssen sich messen lassen an dem, was sie für den Bürger leisten: für die persönliche und soziale Entfaltung, für die Freiheit im Denken und Handeln, aber eben auch für das wirtschaftliche Wohlergehen, in der Hilfe bei Notlagen wie Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit. Die neue Bundesrepublik konnte sich als demokratischer Rechtsstaat und als Staat mit sozialer Marktwirtschaft gleichermaßen etablieren und legitimieren. Als sechste Voraussetzung ist damit die Leistungsfähigkeit des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland benannt.

Ob ein Land in guter Verfassung ist, hängt mithin davon ab, ob die politischen Institutionen im Rahmen der geschriebenen Verfassung funktionieren, ob die Wertvorstellungen und Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger diese Verfassung stützen und schließlich ob die ökonomischen und sozialen Gegebenheiten so beschaffen sind, dass jeder seine Chance sieht und niemand befürchten muss, in der Not alleine gelassen zu werden.

Die Verfasstheit eines Landes weist also drei Dimensionen auf: Erstens geht es um die politisch-institutionelle Verfassung, die Verfassung im engeren Wortsinn, die wir bei uns in der Bundesrepublik als Grundgesetz kennen. Sie wird unterstützt, ja getragen, zweitens von der geistig-seelisch-moralischen Verfassung eines Landes, die wir mit dem Begriff der politischen Kultur benennen. Kurz gesagt liegt die Bedeutung der politischen Kultur darin, dass eine Demokratie ohne Demokraten langfristig keinen Bestand haben kann. Das ist die Lehre von Weimar. Als Drittes schließlich kommt die gesellschaftlich-ökonomische Verfassung hinzu. Sie beinhaltet die Wirtschafts- und Sozialordnung, die Eigentumsstruktur, die Arbeitsbeziehungen, das System der sozialen Sicherheit. Alle drei "Verfassungs"-Bereiche sind eng miteinander verwoben, müssen nicht nur in sich, sondern auch untereinander "stimmen", sich wechselseitig stützen und machen insgesamt die Verfasstheit eines Landes aus.

Die Bedeutung der politischen Kultur für das Schicksal eines Landes ist am Beispiel Deutschland von der Wissenschaft entdeckt worden, die sich für die Erfolgsbedingungen von politischer Stabilität und Demokratie interessiert. Die Ergebnisse der Politischen-Kultur-Forschung sind für alle die Länder von Bedeutung, die sich nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme im Übergang zur westlichen Demokratie befinden. So sind die Beiträge des vorliegenden Heftes der Zeitschrift "Der Bürger im Staat" nicht zufällig zum Teil aus einer Tagung hervorgegangen, die die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg mit Partnern aus Russland veranstaltet hatte.

Der Aufbau einer breitgefächerten, leistungsfähigen Zivilgesellschaft sei als siebte Bedingung genannt, die in Deutschland den Aufbau einer dauerhaften Demokratie ermöglicht hat. Denn Demokratie basiert nicht nur auf der individuellen Zustimmung, sondern benötigt die soziale Verankerung, braucht einen Unterbau von Organisationen, die, demokratisch ausgerichtet, ihr unterstützend zu Hilfe kommen: ein breit gefächertes Geflecht von Parteien, Verbänden und vor allem Vereinen sowie anderen Formen von Vereinigungen, in denen Menschen sich zusammenfinden, um selbst etwas zu tun, ihr Schicksal - ein Stück weit wenigstens - in die eigenen Hände zu nehmen. Bürgerinitiativen jedweder Art gehören dazu. Ein demokratisches politisches System kann auf Dauer auf einen solchen Unterbau von Verantwortlichkeit und Freiwilligkeit nicht verzichten, den wir mit dem Begriff der Zivilgesellschaft belegen.

Institutioneller Ausdruck der Zivilgesellschaft in Deutschland mit großer Tradition ist die Kommunale Selbstverwaltung, die eben dies meint: sich nicht auf den Staat verlassen, sondern selbst die Angelegenheiten vor Ort regeln. Von daher ist es nicht abwegig, im Kontext der Zivilgesellschaft von der Kommunalen Selbstverwaltung als der "Schule der Demokratie" zu sprechen.

Zu den gesellschaftlichen Organisationen gehören Parteien, Verbände, Vereine, Bürgerinitiativen. Allerdings sind die Deutschen bis zum heutigen Tage nur schwer zu bewegen, in Parteien einzutreten. Der prozentuale Anteil der Bevölkerung, der Mitglied einer Partei ist, schwankt nach Bundesländern zwischen 5,9% im Saarland und 1,4% in Sachsen. Wobei Baden-Württemberg mit 1,5% auf der ausgesprochen niedrigen Linie der neuen Bundesländer liegt - Ausdruck seiner eher individualistischen, stärker an Persönlichkeiten orientierten, organisationsfeindlichen, allen Ideologien gegenüber abholden politischen Kultur. Von den eingeschriebenen Parteimitgliedern sind wiederum überall nur rund 10% ständig aktiv. Die anderen lassen sich allenfalls in politisch aufgeregten Zeiten wie Wahlkämpfen zur Mitarbeit bewegen.

Die Mitgliedschaft in überörtlich organisierten Verbänden wird weitgehend instrumentell, unter Nützlichkeitsgesichtspunkten gesehen: seien es Berufsverbände oder die Mitgliedschaft in einem Automobilklub.

Um so wichtiger ist die Mitgliedschaft in Vereinen. Im Schnitt ist jeder zweite Deutsche Mitglied in mindest einem Verein, in den alten Bundesländern deutlich häufiger als in den neuen. Vereine sind freiwillige, auf Dauer angelegte Zusammenschlüsse von Individuen zur Erreichung von Zielen, die gemeinsam besser verfolgt werden können. Das deutsche Vereinswesen ist nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus - im doppelten Wortsinn - reformiert worden, mit dem Zurückdrängen weltanschaulich ausgerichteter Vereine in Richtung auf solche Vereine, die allen offen stehen und sozial-ideologische Abschottung zu vermeiden suchen.

Vereine haben eine wichtige Sozialisationsfunktion: Hier lernt man Fertigkeiten, die das Berufsleben vielfach versagt, wie freies Reden, Argumentieren, Organisieren, Versammlungen leiten, Taktieren, sich durchsetzen, Kompromisse finden. Genau so wichtig ist selbstverständlich das Vermitteln von Werthaltungen, wobei es darauf ankommt, dass diese demokratiekonform, ja demokratieunterstützend sind - was in der Vergangenheit nicht immer der Fall war. Das Ansehen, das Vereinsmitgliedschaft und Vereinsfunktion verleihen, lässt sich politisch umsetzen, in ein kommunales Mandat beispielsweise. Die Parteien sind scharf darauf, angesehene Vereinsmitglieder für ihre Listen zu gewinnen. Das gilt vor allem dann, wenn die Wählerinnen und Wähler die Listen durch Stimmenhäufung (Kumulieren) und Listenwechsel (Panaschieren) verändern können. Damit üben die Vereine auf der Ebene der Kommunalpolitik die Selektions- und Orientierungsfunktion anstelle der Parteien aus, wie bereits die Sozialisationsfunktion. Das Vereinsmitglied trägt die Muster von Ausgleich und Harmonie in den Gemeinderat und wird dadurch der vorherrschenden Bürgererwartung an die Kommunalpolitik sehr viel besser gerecht. Die starke Stellung der Vereine ist auch inhaltlich nicht ohne Folgen: "Bedürfnisse, die sich nicht in Vereinsform darstellen, werden nicht sichtbar und gelten als unwichtig", stellen Hiltrud und Karl-Heinz Nassmacher zutreffend fest.

Vereine sind historisch eine moderne Erscheinung, ein Kind der Aufklärung, die das Individuum von traditionellen Bindungen und Zwängen freisetzte. Es suchte sich neu zu gesellen, auf freiwilliger Basis, im Verein. Kein Wunder, dass der Verein von der Stadt auf das Land kam. Neue Entwicklungen scheinen sich abzuzeichnen, wenn heute der Verein eher als ein ländliches Merkmal erscheint. Denn Städter beginnen, sich lockerer zu binden, neue Formen der Gesellung zu finden und auszuprobieren. Dazu gehören auch die Bürgerinitiativen, die keine formelle Mitgliedschaft kennen und zumeist auf ein Ziel ausgerichtet sind.

Verein und Emanzipation hängen nicht nur für das Individuum zusammen. Ganze Gruppen wurden über das Vereinswesen erfolgreich in die Gesellschaft integriert, so Katholiken und Arbeiter, für die sich im 19. Jahrhundert ein hochdifferenziertes Vereinswesen herausbildete, das alle Bedürfnisse des Lebens umfasste: zum Schutz, zur Förderung, zur Wahrung gemeinsamer Ideale, allerdings auch zur ideologischen Kontrolle. Kein Lebensbereich und kein Interesse, das nicht vom milieueigenen Verein organisiert wurde. - Auch die Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg schlossen sich ganz selbstverständlich in eigenen Vereinen zusammen - um ihre Identität zu wahren und um ihre Interessen in einer neuen Umgebung wirksam durchsetzen zu können.

Befürchtungen, die neue deutsche Demokratie sei eine "Schönwetterdemokratie, die letztlich dem Ansturm schwerwiegender Probleme nicht standhalten werde, haben sich als unbegründet erwiesen - man denke nur an die Herausforderungen von Terrorismus, wirtschaftlichen Krisen und Arbeitslosigkeit. Die deutsche Demokratie ist fest verankert: in den sie tragenden Menschen und im sozialen Geflecht unseres politischen Systems. Doch sie bedarf weiterhin der Pflege!

Hans-Georg Wehling


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