Zeitschrift

Auf dem Wege zur
Zivilgesellschaft

 

Das politische Buch


titzivi.gif (11122 Byte)

Inhaltsverzeichnis


Auf der Suche nach der politischen Solidarität

Martin Greiffenhagen
Politische Legimität in Deutschland
Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 1997
Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung
Bonn 1998, 508 S.

Mit diesem Buch setzt Martin Greiffenhagen seine Arbeiten zur politischen Kultur, die er mit Sylvia Greifenhagen veröffentlicht hat, fort, z.B. "Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur im vereinigten Deutschland" (1993). Das neue Werk "ist Bestandteil des Projektes ,Geistige Orientierung´ der Bertelsmann Stiftung". Die Stiftung hatte Greiffenhagen beauftragt, "eine Einschätzung von Trends, Chancen und Risiken für die Entwicklung politischer Kultur Deutschlands unter legitimatorischen Gesichtspunkten vorzunehmen." (S. 50) Daraus habe sich für ihn die Stoffauswahl ergeben.

Gleich zu Beginn betont Greiffenhagen: "Das Thema ,Politische Legitimität´ entstammt der Erfahrung ihrer Krise." Dieses Buch hat "Legitimätsdefizite zum Gegenstand: gegenwärtig erfahrbare und für die Zukunft drohende." (S. 23)

Die Darstellung wende im wesentlichen David Eastons empirisch orientiertes Forschungskonzept an, in dem Legitimität entweder eine Dimension politischer Unterstützung sei oder diese selbst darstelle (S. 45). Dementsprechend fragt Greiffenhagen unter dem die empirische Forschung leitenden Gesichtspunkt nach der Stabilität des politischen Systems. Antworten sucht er in den Feldern legitimatorischer Unterstützung: politische Gemeinschaft mit der Überschrift "Patriotismus". Daran schließt er den Themenkreis "Eliten - Politische Klasse -Prominenz - Reputation und ,Think tanks´ (S. 48) an. Den Themenkomplex "politische Ordnung" teilt er in "Wohlfahrtsstaat" und "Bürgergesellschaft" auf. Zunächst behandelt er aber in einem besonderen Kapitel die Familie und die Schule, weil in diesen Institutionen wichtige Grundlagen für die politische Legitimität gelegt werden. Erst danach wendet er sich dem politischen System im engeren zu, der "Bürgergesellschaft" und dem "Staat", weil es ihm sinnvoll erscheint, erst einmal die "beunruhigenden Ergebnisse in den ökonomischen und sozialen Räumen, die zunehmend als Ressourcen für politische Legitimität gelten müssen" (S. 50), vorzustellen. In einem weiteren Kapitel befaßt sich Greiffenhagen mit "politischer Legitimität in Ost- und Westdeutschland". Im Schlußkapitel wägt er im Blick auf die Zukunft "Chancen und Risiken" für Legitimität ab. Ein Anhang bietet einen Materialteil, ein Literaturverzeichnis und ein Sachregister.

Das Buch enthält eine überreiche Fülle an Informationen, die der Autor sehr behutsam präsentiert, denn er weiß sich dem Prinzip Offenheit verpflichtet. Er zeigt durchgängig auf, wo zu den Sachverhalten und Problemen noch keine oder unterschiedliche empirische Forschungsergebnisse vorliegen und wie die vorliegenden Ergebnisse unterschiedlich vorliegen und wie die vorliegenden Ergebnisse unterschiedlich interpretiert und gedeutet werden. Besonders aufschlußreich ist sein Verfahren, wenn er die politischen Kulturen in Ost- und Westdeutschland betrachtet.

Leider läßt Greiffenhagens Darstellung nicht immer den stringenten Bezug zum eigentlich leitenden Aspekt, zur Frage nach der Legitimität, erkennen. Gar zu oft läßt sich der politische Kulturforscher sehr breit aus, er hat allerdings immer Interessantes und Bedenkenswertes zu berichten.

Das Buch ist eine Fundgrube zu vielen wesentlichen Themen, die in der politischen Bildung behandelt werden oder behandelt werden sollten. Jeder, der politische Bildung lehrt, sollte es kennen und hineinsehen, bevor er sich ein Thema vornimmt. Dies wird auch deshalb empfohlen, weil in der politischen Bildung die Tendenz zu beobachten ist, sich auf griffige, umfassende Theorien festzulegen, wie die der "Risikogesellschaft" oder des "kommunitativen Handelns". Greiffenhagen zeigt deren relative Leistungsfähigkeit und stellt ihnen plausible Gegenpositionen gegenüber.

Walter Fehling


Politische Partizipation

Hermann Trinkle:
Veränderungen politischer Partizipation.
Entwicklung eines erweiterten Analyse- und Interpretationsmodells und dessen Bedeutung für die politische Bildung
Frankfurt a.M. 1997, Peter Lang Verlag, 422 S.

Das Grundverständnis politischer Partizipation hat sich in der Bundesrepublik nach 1945 nachhaltig verändert. Nicht nur die Einstellungen zu den politischen Institutionen, den Verfahren der Entscheidungsfindung und Legitimation wandelten sich, auch die Formen politischer Beteiligung haben sich geändert.

Ziel der vorliegenden Dissertation ist es, die Veränderungen politischer Beteiligung unter verschiedenen Perspektiven zu untersuchen, um somit zu einem erweiterten Analyse- und Interpretationsmodell zur Erfassung politischer Partizipationsformen zu gelangen. Hierzu werden unterschiedliche politikwissenschaftliche Perspektiven und wissenschaftstheoretische Paradigmen herangezogen. Die Arbeit erhebt den Anspruch, einen "Beitrag zur Theoriebildung einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik auf einer Mikro- und Makroebene" (S. 14) zu leisten.

Die Struktur der Arbeit gliedert sich in mehrere, z.T. recht umfangreich dargestellte Entwicklungsschritte. In einem ersten Schritt werden grundlegende fachdidaktische Positionen referiert. Leitende Fragestellung ist es, unterschiedliche Auffassungen darüber herauszuarbeiten, welchen Zielvorstellungen politische Partizipation im Rahmen politischer Bildung dienen sollte und wie diese Ziele durch die Vermittlung entsprechender Kompetenzen erreicht werden können.

Im Folgeschritt referiert der Autor relevante Positionen der Partizipationsforschung. Da neben einer Vielzahl von Faktoren bekanntlich auch die Einstellung gegenüber einer in Frage stehenden Beteiligungsform einen gewichtigen Ausschlag für die tatsächliche politische Entscheidung spielt, werden im weiteren Fortgang Forschungsansätze der politischen Kultur sowie ausgewählte empirische Befunde und Erklärungsansätze der Wertewandlungsforschung vorgestellt. Angereichert mit Erkenntnissen, die sich aus der Erforschung neuer sozialer Bewegungen ergaben, und unter Zuhilfenahme des Lebenswelt- und Milieu-Ansatzes (Bordieu, Vester, Flaig u.a.) werden in einer ersten Gesamtschau die Dimensionen veränderter politischer Partizipation zu erfassen versucht (S. 142). "Die in den 70er und 80er Jahren entstandenen Bürger und Protestbewegungen sind Ausdruck und Ergebnis veränderter Ansprüche und Erwartungen an das politische System. Politische Partizipation ist dadurch sehr viel stärker punktuell, auf einzelne Problembereiche konzentriert, situations- und kontextabhängig. Die Formen politischer Partizipation werden stärker vor dem Hintergrund der eigenen Lebenswelt aus betrachtet, aus deren unmittelbarer Betroffenheit heraus dann gehandelt wird. [...] Es werden die Handlungsformen bevorzugt, die unmittelbaren, kurzfristigen Erfolg versprechen und die Möglichkeiten bieten, die eigenen Interessen einzubringen. Ein auf langfristige Veränderungsprozesse hin orientiertes Engagement in verfaßten organisatorischen Strukturen nimmt demgegenüber ab." (S. 142)

Im Abschluß an diese Bilanzierung entwickelt Trinkle sein eigentliches Analysemodell zur Beschreibung und Erfassung politischer Partizipationsformen. Erneut werden mehrere theoretische Bezugspunkte hierzu herangezogen. Mit den Begrifflichkeiten der Systemtheorie (Parsons, Luhmann) wird politische Partizipation vornehmlich unter der Perspektive der Systemdifferenzierung erläutert. Für die weitere begriffliche Präzision, die eine Verbindung zwischen Systemwelt und Lebenswelt herzustellen vermag, wählt Trinkle die "Theorie kommunikativen Handelns" (Habermas), die eine Verbindung zwischen sprachtheoretischen und soziologischen Fragestellungen erlaubt. Somit wird nicht nur die didaktische Ergiebigkeit dieser Theorie, die einen Weg bietet, lebensweltliche Ansätze für Systembezüge zu öffnen, erkannt, sondern auch die für den letzten Theoriebaustein notwendige Voraussetzung geschaffen: die Verbindung von Mikro- und Makrotheorie. Auf sprachwissenschaftlicher Grundlage wird ein Kommunikations- und Handlungsbegriff entwickelt, mit dessen Hilfe auf der Mikroebene eine adäquate Beschreibung und Interpretation politischer Beteiligungsformen erfolgen kann. Die ausführliche Darstellung sprachpragmatischer und sprachsoziologischer Ansätze mündet in die drei Grundmodelle der systemischen, systemreformierenden und systemkritischen Partizination (S. 278). Unter dem Begriff systemische Partizipation werden alle durch eine staatliche und verfassungsmäßige Organisationsform gegebenen Möglichkeiten der Mitbeteiligung und Mitbestimmung erfaßt. Systemreformierende Partizipation soll all die Prozesse kennzeichnen, die auf eine Veränderung des politischen Thematisierungsprozesses mit der Perspektive zielen, veränderte Verfahren der Entscheidungsfindung zu erreichen. Systemkritische Partizipation dagegen setzt grundlegender an den bestehenden Wert-, Norm- und Ordnungsvorstellungen an und versucht, diese zu verändern. Für jedes Grundmodell identifiziert Trinkle die relevanten Kommunikations- und Interaktionskompetenzen und begründet die definitorische Entscheidung in Abgrenzung zu den anderen Grundmodellen. Im Folgeschritt werden die drei Grundmodelle sowie die notwendigen Kompetenzen am Beispiel der Friedensbewegung der 80er Jahre exemplarisch dargestellt.

Der abschließend didaktische "Appendix" mag ein Zugeständnis an die Pädagogische Hochschule sein, an der Trinkle sein Promotionsstudium absolvierte, stellt aber einen inhaltlichen Bruch im Gesamtbild der Arbeit dar und bietet den hinlänglich bekannten fachdidaktischen Diskussionsstand. Die Forderung, System- und Lebenswelt als zentrale Bezugspunkte politischer Bildung zu erklären, greift das bekannte "Brückenproblem" (Gagel, Richter) auf. Die Forderung, daß es für die Gestaltung politischer Lehr- und Lernprozesse grundlegend ist, zwischen der expliziten Bezugnahme auf die Lebenswelt des Alltags bzw. Milieuwelt und der sogenannten Systemorientierung einen Spagat herzustellen, verweist auf das didaktische Problem der zu schlagenden "Brücke" zwischen Lebenswelt und Politik. Die etwas mißverständliche Forderung von Trinkle nach einer Repolitisierung politischer Bildung meint in diesem Zusammenhang die didaktische Beachtung zentraler Inhaltsdimensionen des Politischen (Massing, Kuhn).

Der Autor merkt selbst an, daß der vorliegende Stand der Ausarbeitung noch nicht hinreichend differenziert genug ist, damit operationalisierbare Einzelfragestellungen für eine empirische Untersuchung direkt abgeleitet werden können. Interessant erscheint die Frage, ob das entwickelte Analyse- und Interpretationsmodell auf andere politische Beteiligungsformen übertragbar ist. Obwohl verschiedene Anwendungs- und Politikfelder aufgezeigt werden, bleibt das vorgestellte Analyse- und Interpretationsmodell "noch weitgehend eine gedankliche Konstruktion, die erst noch falsifiziert und verifiziert werden muß". (S. 402) Die Arbeit macht jedoch deutlich, daß gerade im Bereich systemreformierender und systemkritischer Beteiligungsformen die Untersuchung des Prozesses sowie der Artikulations- und Kommunikationsformen noch ein wichtiges, weil weitgehend unerfülltes Forschungsdesiderat ist. Ohne das ernstgemeinte Anliegen des Autors und den Inhalt der Dissertation schmälern zu wollen, sei abschließend noch angemerkt, daß eine inhaltliche Verdichtung zur Lesefreundlichkeit beigetragen hätte.

Siegfried Frech


Die Europäische Union in 1000 Stichwörtern

Wolfgang W. Mickel (Hrsg.)
Handlexikon der Europäischen Union
2. überarbeitete und erweiterte Auflage
Omnia-Verlag Köln, 1998, 680 Seiten,
44 DM (kartoniert), 58 DM (gebunden)
Redaktionsschluß: Ende Juni 1998

Noch nie stand die Europäische Union hierzulande dermaßen im Zentrum des öffentlichen Interesses wie in den letzten Monaten. Vor allem die am 1. Januar 1999 in Kraft getretene Währungsunion mit ihren Unwägbarkeiten erhitzte im Vorfeld die Gemüter und rief Ängste vor einem "Verlust" der "harten" D-Mark als Symbol für den wirtschaftlichen Erfolg der Nachkriegs-Bundesrepublik hervor. Die Betrugs- und Korruptionsaffären in der EU-Kommission setzten das Europäische Parlament ins Rampenlicht der Öffentlichkeit und führten Millionen Fernsehzuschauern und Zeitungslesern dessen Kontrollaufgabe und damit auch dessen Bedeutung vor Augen. Die neue rot-grüne Bundesregierung hält im ersten Halbjahr 1999 die Ratspräsidentschaft und wird an ihren Erfolgen bei der Vorbereitung des Reformpakets "Agenda 2000", das den Weg für die Osterweiterung der EU ebnen soll, gemessen werden. Allem Anschein nach wird die integrationspolitische Debatte vor der Europawahl am 13. Juni noch einen Schub erhalten. Vieles von dem, was in den Medien über die EU und ihre Politik berichtet wird, bleibt aber selbst europapolitisch Interessierten unklar. Trotz intensiver Berichterstattung herrscht also ein großes Informationsdefizit.

Hier setzt das von Wolfgang W. Mickel herausgegebene "Handlexikon der Europäischen Union" an, das nun in einer überarbeiteten und auf rund 1000 Stichwörter erweiterten Neuauflage erschienen ist. Gegenüber der ersten Auflage von 1994 wurden etwa 200 Stichwörter neu aufgenommen, viele Artikel wurden aktualisiert und an die Veränderung der Rechtslage durch den Vertrag von Amsterdam angepaßt. Insgesamt 50 Autoren aus Universitäten, EU-Institutionen, Ministerien und internationalen Organisationen waren an dem Werk beteiligt.

Am Anfang des Buches steht eine - notwendigerweise kursorische - 30seitige, von Mickel verfaßte Einführung in die Geschichte der europäischen Integration. Sie beleuchtet nicht nur die Zeit nach 1945, sondern reicht bis ins frühe Mittelalter zurück und betrachtet auch die ideellen und kulturellen Grundlagen einer Einigung der europäischen Völker. Darüber hinaus geht sie auf aktuelle Probleme der EU-Politik ein und bringt eine Liste mit weiterführenden Literaturhinweisen. Anschließend folgt eine ausführliche, von Heinz Schmitz zusammengestellte Zeittafel der europäischen Einigung seit 1923. Neu in der zweiten Auflage sind Portraits der 15 EU-Länder. Sie informieren auf jeweils zwei Seiten über deren Geschichte, politisches System und Parteien und enthalten Grunddaten über die Bevölkerung sowie die wirtschaftliche und soziale Situation.

Das Kernstück des Buches ist das 543 Seiten umfassende Lexikon. Ein 37seitiges Register, das nicht nur auf dessen Stichwörter, sondern auch auf die historische Darstellung, die Zeittafel und die Länderportraits verweist, rundet den Band ab.

Der Lexikonteil überzeugt durch seine Vielseitigkeit Neben Artikeln über Organe, Institutionen und Entscheidungsverfahren der EU finden sich Beiträge über Politikbereiche und politische Aktionsprogramme. Internationale Organisationen, die für die EU von Bedeutung sind, werden ebenso berücksichtigt wie europapolitische Vereinigungen und Personen mit besonderer Bedeutung für den europäischen Integrationsprozeß. Ferner werden Fachbegriffe aus dem Sprachschatz von Politikern und EU-Beamten erläutert. Die Länge der Artikel richtet sich nach der Bedeutung und Vielschichtigkeit des Gegenstands: so umfaßt der Beitrag über das Europäische Parlament fast neun Seiten, während derjenige zum Konzept eines "Europa der Vaterländer" nur zehn Zeilen lang ist. In vielen Fällen ergänzen Literaturhinweise und Adressen die Erläuterungstexte. Einige größere Artikel enthalten auch Schaubilder oder Tabellen.

Das breite Spektrum von Stichwörtern erlaubt es, bestimmte Aspekte der europäischen Politik systematisch zu erschließen. Wer beispielsweise Näheres über das Programm "Agenda 2000" zur Reform der Agrar- und Strukturpolitik der EU wissen möchte, kann zunächst unter "Agenda 2000" nachschlagen. Hier findet er auf drei Seiten Informationen über die geplante Umgestaltung der Agrarpolitik sowie der Struktur- und Kohäsionsfonds. Der Artikel setzt jedoch einiges an Vorwissen voraus und ist ziemlich akademisch geschrieben. Bei Begriffen wie ,interinstitutionelle Vereinbarung", "Ausfuhrerstattungen", "Verordnung", "Subsidiarität" und "INTERREG" wird zwar mittels Pfeil auf die entsprechenden Stichwörter im Lexikon verwiesen. Begriffe - wie "Heranführungshilfe", "Preisstützung", "Direktzahlung", "Gemeinschaftsinitiativen" und "mid-term-review" werden aber nicht unmittelbar erklärt und sind auch nicht mit einem Verweispfeil versehen. Weniger sachkundige Zeitungsleser, Radiohörer und Fernsehzuschauer dürften daher aus dem Artikel bald "aussteigen". Wer die Geduld aufbringt, unter ,,Heranführungsstrategie" nachzusehen, wird auf "Osterweiterung der EU" verwiesen und erhält dort die gewünschte Auskunft. "Gemeinschaftsinitiative" ist als separates Stichwort vorhanden. Die übrigen drei Begriffe sind weder im Lexikonteil noch im Register zu finden.

Bleibt die Möglichkeit, unter "Gemeinsame Agrarpolitik", "Fonds der EU" und "Strukturpolitik" nachzuschlagen. Der vier Seiten lange Beitrag zur Gemeinsamen Agrarpolitik ist verständlicher geschrieben und übersichtlicher aufgebaut. Er geht nicht nur auf die Grundsätze, Ziele und Instrumente der EU-Landwirtschaftspolitik ein, sondern auch auf deren negativen Folgen; er bringt einige Beispiele und gibt Informationen zur "Agenda 2000". Obwohl Fachbegriffe meist direkt erläutert werden (auch diejenigen, die vorher unklar geblieben sind), kommt er nicht ganz ohne Sozialwissenschaftler-Jargon aus. Der zweieinhalbseitige Text über die Fonds der EU erklärt die Aufgaben der im Artikel "Agenda 2000" erwähnten fünf Spezialfonds: sie dienen zur Finanzierung bestimmter politischer Maßnahmen. Um ihn zu lesen, sind wiederum ausreichende Vorkenntnisse nötig. Dies gilt auch für den ausführlichen, gut sechs Seiten langen Beitrag über die Strukturpolitik der EU, der sich ebenfalls kurz mit der "Agenda 2000" befaßt. Sachkundige dürften nun ihre Fragen zu dem Reformprogramm weitgehend geklärt haben, politisch interessierte "Durchschnittsbürger" haben inzwischen wohl aufgegeben.

Die kommende Europawahl legt es nahe, sich über das Wahlverfahren und die Befugnisse des Europäischen Parlaments kundig zu machen. Wer nun das "Handlexikon" zu Rate zieht, erhält unter dem Stichwort "Direktwahl zum Europäischen Parlament" knappe, aber präzise Auskunft zur Geschichte und zum aktuellen Stand der Wahlgesetzgebung auf europäischer Ebene. Die rechtlichen Änderungen durch den Vertrag von Amsterdam sind durchweg berücksichtigt Leider geht der Beitrag nicht auf die Besonderheiten des Europawahlverfahrens in der Bundesrepublik ein, das sich vom Bundestagswahlsystem grundlegend unterscheidet.

Die Entscheidungs- und Kontrollrechte des Parlaments sind unter "Europäisches Parlament" nachzulesen. Zwei Seiten des Beitrags über das Gremium sind diesen Befugnissen gewidmet. Unterrichtet wird in aller Kürze, aber trotzdem umfassend über die Kompetenzen, die sich das Organ im Laufe der Zeit erstritten hat, und über die, die ihm noch fehlen, um eine vollwertige, mit den nationalen Parlamenten vergleichbare Volksvertretung zu sein. Vertiefende Informationen über die diversen Gesetzgebungsverfahren und die Rolle, die das Parlament dabei jeweils spielt, vermittelt ein spezieller Beitrag. Hier zeigt ein Schaubild den Ablauf des Mitentscheidungsverfahrens, das dem Parlament in den betreffenden Politikbereichen gleiche Rechtsetzungsbefugnisse wie dem Rat einräumt. Das Mitentscheidungsverfahren wird darüber hinaus in einem gesonderten Text behandelt, dessen Erläuterungen allerdings oberflächlicher sind als die unter dem Stichwort "Gesetzgebungsverfahren". Separate Artikel geben außerdem über das Demokratiedefizit sowie über Legitimationsprobleme bei der immer umfangreicheren Gesetzgebungstätigkeit der EU Auskunft.

Alles in allem überzeugt sowohl das gesamte Buch als auch der Lexikonteil durch seine Vielseitigkeit und seinen übersichtlichen Aufbau. Die thematische Vielfalt der Stichwörter ist ein großes Plus des Bandes. Die rechtlichen Neuerungen durch den Vertrag von Amsterdam sind in die Texte eingearbeitet. Leider hapert es bei vielen Beiträgen an der Allgemeinverständlichkeit: politisch interessierte "Normalbürger" werden teilweise große Schwierigkeiten haben. Ein Lexikon wie das vorliegende -kann anschaulich geschriebene, gut gegliederte Einführungsliteratur nicht ersetzen, sondern allenfalls ergänzen. Zugegeben: Über ein derart komplexes Thema wie die Strukturpolitik der EU einen Lexikonartikel zu schreiben, der einerseits allgemeinverständlich ist, andererseits aber auch Experten noch zusätzliche Informationen bieten kann, ist - auch angesichts des ausufernden transparenzfeindlichen Eurokraten-Jargons - eine kaum zu bewältigende Herkulesaufgabe. Verbesserungen sind hier aber dennoch wünschenswert und machbar.

Der Herausgeber unterläßt es, in seinem Vorwort die Zielgruppen, an die sich das Lexikon richtet, zu benennen. Gut geeignet ist es für Studenten der Rechts- und Politikwissenschaften, politische Journalisten, Mittler der politischen Bildung, Lehrer der gymnasialen Oberstufe und alle, die sich beruflich mit Recht und Politik der EU auseinandersetzen müssen. Für alle anderen empfiehlt es sich, zuerst ein leicht verdauliches Einführungswerk zu lesen und dann das Lexikon gegebenenfalls ergänzend hinzuzuziehen.

Andreas Knoll


Der Amsterdamer Vertrag

Jan Bergmann/Christofer Lenz (Hrsg.):
Der Amsterdamer Vertrag
Eine Kommentierung der Neuerungen des EU- und EG-Vertrags
Omnia-Verlag, Köln 1998, 367 S., 85 DM

Am 2. Oktober 1997 wurde der Vertrag von Amsterdam unterzeichnet. Nach der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 und dem Maastrichter Vertrag von 1992 bringt er die dritte größere Reform der EU und ihrer Gemeinschaften. Im wesentlichen ändert und ergänzt er die beiden Hauptverträge der EU, den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) und den Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag). Wenn derart wichtige Abkommen überarbeitet werden, benötigen Juristen, Studierende der Rechts- und Politikwissenschaften, politische Journalisten und Mittler der politischen Bildung, die sich näher mit dem EU-Recht befassen, baldmöglichst ausführliche und verläßliche Kommentarliteratur. Diese Lücke haben die Herausgeber Jan Bergmann und Christofer Lenz sowie ihre zehn teilweise recht jungen Mitautorinnen und Mitautoren nun geschlossen.

Das Buch ist sehr übersichtlich aufgebaut. Einem allgemeinen Literaturverzeichnis, das Standardwerke zum Europarecht und Monographien zum Amsterdamer Vertrag enthält, folgen ein Abkürzungsverzeichnis und eine Einführung des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof und früheren CDU-Europaabgeordneten Siegbert Alber. Den Kern des Bandes bilden 20 Kapitel zu einzelnen Aspekten der Politik und des politischen Systems der EU. Jedes von ihnen ist in drei Unterkapitel gegliedert. Nach einer Erläuterung der bisherigen Rechtslage werden jeweils die Neuerungen durch den Amsterdamer Vertrag analysiert. Schließlich werden diese vor dem Hintergrund der integrationspolitischen Entwicklungen und der ursprünglichen Zielsetzungen der Regierungskonferenz 1996/97 bewertet. Alle Kapitel bieten außerdem ein spezielles Literaturverzeichnis mit - auch ausländischen - rechts- und politikwissenschaftlichen Texten. Ein 20seitiges Stichwortverzeichnis rundet das Werk ab.

Nach seiner Ratifizierung durch die Parlamente der Mitgliedsstaaten wird der Amsterdamer Vertrag voraussichtlich im Frühjahr 1999 in Kraft treten - in einer Zeit, in der die EU zwei große Herausforderungen bewältigen muß. Einerseits gilt es, die wirtschafts-, finanz-, arbeitsmarkt- und

sozialpolitischen Grundlagen für die am 1. Januar 1999 erfolgte Vertiefung der EU durch die Währungsunion zu schaffen, und andererseits, die Erweiterung der Union nach Osten und Süden vorzubereiten. Trotz dieser drängenden Aufgaben ist der neue Vertrag im Gegensatz zur Einheitlichen Europäischen Akte (Binnenmarkt) und dem Vertrag von Maastricht (Währungsunion) "nicht mit einem spektakulären Projekt verbunden", wie die Herausgeber in ihrem Vorwort anmerken. Statt dessen "sei er ,in erster Linie ein Nachfolgevertrag im Sinne eines "Maastricht II´". Die "im Hinblick auf die Osterweiterung erforderliche große institutionelle Reform sei ausgeblieben. Auch Siegbert Albert betont, daß "das Hauptziel der ... Regierungskonferenz, den institutionellen und finanziellen Rahmen der Gemeinschaft zu verbessern und zu vereinfachen, ... sicher noch nicht zur vollen Zufriedenheit verwirklicht worden" sei. Dennoch habe es, darüber ist sich der Generalanwalt mit den Herausgebern einig, erhebliche Fortschritte gegeben, vor allem in den Bereichen Sozial- und Beschäftigungspolitik, Innen- und Rechtspolitik sowie bei der Stärkung des Europäischen Parlaments und der Vereinfachung der Gesetzgebungsverfahren.

In seinem Beitrag über das neue Beschäftigungskapitel des EG-Vertrags stellt Christian Roth fest, dieses sei in erster Linie wegen der "allgemeinen Legitimationsprobleme(n) der Europäischen Union" zustande gekommen. Die EU solle damit "als sozial- und beschäftigungspolitische Wohltäterin" präsentiert werden. Allerdings ist die Arbeitsmarktpolitik nach Roth weiterhin von wirtschafts- und wettbewerbspolitischen Zielsetzungen der EU abhängig. Die europäischen Organe sind nun lediglich dazu befugt, die nationalen Beschäftigungspolitiken zu koordinieren. Da eigene Mittel dafür nicht vorgesehen sind, muß auf Gelder aus den Strukturfonds und dem Kohäsionsfonds zurückgegriffen werden. Gebracht habe das neue Kapitel, so Roth, hauptsächlich "eine stärkere primärrechtliche Normierung beschäftigungspolitischer Ziele und Mittel auf europäischer Ebene". Davon abgesehen kämen ohnehin hohe Fondsmittel der Arbeitsmarktpolitik zugute, und die Aktionsprogramme der EU seien schon seit längerem umfangreich und differenziert.

Sebastian Winkler, der Kommentator des Themas "Justiz und Inneres", hält den neuen Titel IV des EG-Vertrags über "Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr" für die "weitestgehende und in Anbetracht der nationalen Widerstände erstaunlichste Neuerung im Amsterdamer Vertrag". Der Vertragstext zeige jedoch eine "Furcht der Mitgliedstaaten vor der Personenfreizügigkeit". So gelten beispielsweise für Großbritannien, Irland und Dänemark zahlreiche Sonderregelungen; Winkler spricht in diesem Zusammenhang von einer "Gemeinschaft der ,neuen Zwölf"´. Außerdem entscheidet der Rat in den ersten fünf Jahren nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags stets einstimmig und hört das Europäische Parlament nur an. Erst danach soll vorbehaltlich eines weiteren Ratsbeschlusses das Mitentscheidungsverfahren gelten. Hier liege, so Winkler, ein "demokratisches Defizit"; das Einstimmigkeitsprinzip könne sich obendrein "als Bremse erweisen". Positiv sei, daß die Kommission nun ein umfassendes Initiativrecht habe und somit als treibende Kraft auftreten könne.

Die vielen Sondervereinbarungen schaffen laut Winkler ein weiteres Problem: das Vertragswerk wird in den Bereichen Innen- und Rechtspolitik zunehmend unübersichtlich. Dies sei "zugleich Folge und Vorgeschmack dessen, was Frankreich und Deutschland als Flexibilisierung der Verträge bezeichnen: eine stärkere Zusammenarbeit einzelner Mitgliedsstaaten ohne den Zwang zur Mitwirkung aller". Die Praxis müsse zeigen, ob das Konzept die Integration vorantreibe oder "den nichteingestandenen Anfang vom Ende" des Willens, sie zu vertiefen, markiere.

Weit weniger skeptisch betrachtet Philip Hall, Referent im britischen Außenministerium, die neuen Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags zur "verstärkten Zusammenarbeit" (Flexibilisierung). Sie seien "insbesondere im Hinblick auf die anstehende Osterweiterung" ausgehandelt worden, um diese mit der Vertiefung in Einklang zu bringen. Da die verstärkte Zusammenarbeit an sehr enge rechtliche Voraussetzungen geknüpft sei, werde sie sich ,in aller Regel nur als ,fine-tuning´ erweisen". Flexibilität werde "die Ausnahme bleiben".

In ihrem Beitrag über die Kompetenzen des Europäischen Parlaments bezeichnet Ursula Johanna Wirtz den Amsterdamer Vertrag als "weitgehend ... gelungen", da "die Position" des Gremiums "gestärkt wird". Durch "den Ausbau seiner Rechte in weiten Bereichen" des EG-Vertrags werde "seine Stellung als gleichberechtigtes und gleichgewichtiges Organ neben dem Rat anerkannt." So wurde der Anwendungsbereich des Mitentscheidungsverfahrens (verbunden mit Mehrheitsentscheidungen im Rat) erheblich vergrößert und die Prozedur insgesamt vereinfacht und gestrafft. Andererseits sei, so Wirtz, das Verfahren der Zusammenarbeit nicht - wie ursprünglich vorgesehen - vollständig durch das Mitentscheidungsverfahren ersetzt worden. Außerdem habe sich der Rat "in ca. 50 Bereichen immer noch das Einstimmigkeitsprinzip vorbehalten ..., von denen einige wirklich konstitutionelle Bedeutung haben." Das Ziel, "das Parlament in sämtlichen Bereichen des Gesetzgebungsverfahrens mitwirken zu lassen", sei verfehlt worden, da "zu viele wichtige Bereiche allein in der Entscheidungsverantwortung des Rats bleiben".

Insgesamt ist das Buch sehr klar und übersichtlich gegliedert, die benötigten Informationen lassen sich leicht finden. Verglichen mit anderen Gesetzeskommentaren ist es trotz "Juristensprache" recht verständlich geschrieben; es setzt allerdings ein solides Grundwissen über Organe, Entscheidungsverfahren und Politik der EU voraus. Außer für "Praktiker in Rechtsprechung, Rechtsberatung und Wirtschaft", an die sich das Buch laut Vorwort wendet, eignet es sich auch für Studenten der Rechts- und Politikwissenschaften, politische Journalisten, Mittler der politischen Bildung und Lehrer der gymnasialen Oberstufe, die die nötigen Vorkenntnisse mitbringen.

Ihrem im Vorwort zurückhaltend formulierten Anspruch, "den Rechtsanwendern die Phase zwischen Vertragsschluß und Aufarbeitung des Vertrags in den Großkommentaren überbrücken" zu helfen, sind die Autorinnen und Autoren voll gerecht geworden. Mehr noch: das Buch ist für diejenigen, die einen "dicken Wälzer" nicht zur Verfügung haben oder dessen Detailliertheit nicht brauchen, auch später wertvoll. Ein Wermutstropfen ist der recht stolze Preis von 85 DM, der z.B. ein studentisches Budget ziemlich strapaziert. Eine Paperback-Ausgabe des Bandes wäre wünschenswert.

Andreas Knoll


Friedrich Ebert: Leben, Werk und Zeit

Friedrich Ebert. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit.
Begleitband zur ständigen Ausstellung in der Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte.
Hrsg. und bearb. im Auftrag der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Heidelberg von Walter Mühlhausen.
Kehrer Verlag Heidelberg 1999
376 Seiten, DM 19,80

"Ebert ist Süddeutscher; er ist am 4. Februar 1871 in Heidelberg geboren." So Friedrich Ebert in einer autobiographischen Skizze nach seiner Wahl zum Reichspräsidenten 1919.

70 Jahre nach dieser Wahl wurde in seinem Heidelberger Geburtshaus die Ausstellung "Friedrich Ebert - Sein Leben, sein Werk, seine Zeit" eröffnet Sie ist zentraler Bestandteil der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, die 1986 auf überparteilicher und bundesunmittelbarer Grundlage per Bundestagsbeschluß eingerichtet wurde. Zwar existierte die Gedenkstätte bereits seit 1962, aber auf neuer Rechtsgrundlage konnte sie sich zu einer Gedenkstätte mit nationalem Anspruch entwickeln. Heute ist das Haus in der Pfaffengasse neben der ständigen Ausstellung Sitz eines Archivs nebst Forschungs- und Dokumentationsstelle mit einer öffentlichen Bibliothek, die umfangreiche Dokumente und Publikationen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie beherbergt.

Nun liegt ein reich bebilderter, von Walter Mühlhausen bearbeiteter Begleitband vor, der ein kompetenter und detaillierter Begleiter durch die Ausstellung ist, aber auch als Lektüre lohnt und zum Besuch der Gedenkstätte geradezu auffordert. Auf über mehr als 350 Seiten werden die Lebensstationen Friedrich Eberts dargestellt. Es ist eine reichhaltige Vita mit den typischen Mustern für die politische Führungsspitze der deutschen Sozialdemokratie des Kaiserreichs und der Weimarer Republik: Lehre zum Sattler in Heidelberg, Wanderschaft mit Ziel Bremen, Arbeit als Redakteur und erstes parteipolitisches Engagement, Gastwirt, Mitglied der Bremischen Bürgerschaft, Arbeitersekretär und Sekretär des Parteivorstands in Berlin. 1912 bei den "roten Wahlen" dann erstmals in den Reichstag gewählt und während des Ersten Weltkriegs einer der beiden SPD-Parteivorsitzenden und Befürworter des "Burgfriedens". Eine steile Politikerkarriere mit dem Höhepunkt der Reichspräsidentschaft in einer außen- und innenpolitisch krisengeschüttelten Zeit mit einer erschöpften und gleichzeitig zutiefst gespaltenen Bevölkerung.

Unser Bewußtsein für "Systemübergänge" und verteilungspolitische Kämpfe wurde im letzten Dezennium wohl geschärft. Die Forschungskontroversen der 60er und 70er Jahre über die verpaßten Chancen der "Novemberrevolution" und über die Rolle, die Friedrich Ebert dabei spielte, sind einem weitgehenden Konsens über den Politpragmatiker Ebert gewichen. Die Kritik orientierte sich an dem idealtypischen Maßstab einer optimalen Durchsetzung sozialdemokratischer Positionen oder einer Verklärung der revolutionären Räte. Kontrovers diskutiert wird weiterhin die Frage, ob die Einleitung einschneidender Strukturreformen zur stärkeren politischen und sozialen Fundierung der neuen Staats- und Gesellschaftsordnung unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich war, ohne daß die innenpolitische Situation außer Kontrolle geraten wäre. Schärfer werden heute die Grenzen betont, die einem politischen und gesellschaftlichen Umbruch in Deutschland 1918/19 gesetzt waren, ohne die Frage auf die Alternativen "soziale und proletarische Revolution" oder "parlamentarische Republik im Bündnis mit den konservativen Kräften" zu verengen.

Ebert war als Reichspräsident das Symbol für den verfassungspolitischen Wandel. Er selbst verstand sich in diesem Amt als Mittler zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum, zwischen "vaterlandslosen Gesellen" und "Reichstreuen". Mit den Stichpunkten Ebert-Groener-Übereinkunft, "Zentralarbeitsgemeinschafts", Abkommen, "Dolchstoß"-Legende, Versailler Vertrag, Kapp-Lüttwitz-Putsch und Hyperinflation sind die Leistungen, Belastungen und Krisen der ersten Jahre der Weimarer Republik umrissen. Ebert hat die einmalige Chance zu grundlegenden Reformen erkannt, aber auch die Erschwernisse und Risiken. In einer segmentierten und krisengebeutelten Gesellschaft ohne breiten demokratischen Konsens war auch die Integrationskraft eines Politikers wie Ebert der Erosion verfallen.

Ohne jeden Zug zur Selbstinszenierung stellte er die eigene Person hinter Amt und Aufgabe zurück Sein zu früher Tod gibt darüber beredtes Zeugnis. Wie kaum ein anderer Politiker stand er als Symbol der neuen Ordnung im Zentrum der Hetze einer wiedererstarkten republikfeindlichen Rechten. Verleumdungsprozesse und öffentliche Schmierenkampagnen sind Ausdruck der vergifteten politischen Kultur der Weimarer Republik - und Ebert war eines ihrer prominentesten Opfer. 1924 wurde seine Beteiligung am Berliner Massenstreik im Januar 1918 vom "strafrechtlichen Standpunkt" aus als "Landesverrat" beurteilt Das war politischer Rufmord per Gerichtsbeschluß, kurz vor der ersten für Februar 1925 vorgesehenen Volkswahl des Reichspräsidenten. Ebert hatte sich entschieden, für diese Volkswahl nicht zu kandidieren, aber dem Berufungsprozeß wollte er sich nicht entziehen. Er sollte ihn nicht mehr erleben, denn am 28. Februar 1925 starb er an den Folgen einer verschleppten Blinddarmentzündung.

Friedrich Eberts Tod war eine Zäsur in der Zwischenkriegszeit. Mit seinem Nachfolger Paul von Hindenburg stand statt eines Verfechters der sozialen Demokratie und der demokratisch-parlamentarischen Ordnung ein adliger Militär, ein Antirepublikaner, ein Verfechter der "Dolchstoß"-Legende und ein Mann der Vergangenheit an der Spitze des Weimarer Staates.

Der Begleitband zur Ausstellung bietet - wie die Ausstellung neben der gebotenen Fokussierung auf die Person Ebert und seine außergewöhnliche Biographie aber mehr: Er ist eine profunde und gelungene Darstellung der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung während der Kaiserzeit und in den ersten Jahren der Weimarer Republik. Ein bemerkenswerter Band für eine der wenigen demokratiegeschichtlichen Gedenkstätten in Deutschland, die das Bewußtsein für die demokratischen Traditionslinien und ihre Gefährdungen in der deutschen Geschichte stärkt.

Reinhold Weber


Überleben im Holocaust

Hermann Zimmermann
Ein Engel an meiner Seite
Eine Geschichte vom Überleben im Holocaust
Universitätsverlag C. Winter Heidelberg GmbH 1997

Hermann Zimmermann erzählt die Geschichte seiner Rettung im Zweiten Weltkrieg. Aufgewachsen in einer deutschen jüdischen Familie in Köln, muß er bereits im Alter von zwölf Jahren mit seinen Verwandten die Flucht nach Belgien antreten. Ein Jahr darauf holt sie der Krieg dort ein und sie müssen erneut fliehen. Immer wieder entkommt die Familie um Haaresbreite den Truppen der Wehrmacht und den Schergen des NS-Regimes. Von der französischen Polizei des Vichy-Regimes wird Hermann Zimmermann 1942 festgenommen und mit einem großen Judentransport in Marsch gesetzt, wird aber auf abenteuerliche Weise durch das beherzte Eingreifen guter Menschen gerettet. Noch einige Male steht er dicht vor der Festnahme, dann gelingt die Flucht in die Schweiz und bringt endlich die ersehnte Sicherheit.

Nach dem Krieg lebte der Autor zunächst in Frankreich, emigrierte in die USA und kehrte schließlich nach Deutschland zurück. Doch nie in all den Jahren verließ ihn das Gefühl, vom Schicksal entgegen aller Wahrscheinlichkeit vor dem grausamen Ende der meisten seiner jüdischen Altersgenossen bewahrt worden zu sein, die damals in den Bereich des NS-Regimes geraten waren. Schließlich bewogen ihn Dankbarkeit für die wunderbare Rettung und das Gefühl einer daraus entstehenden Verpflichtung, dieses Buch zu schreiben. Hermann Zimmermann will die Geschichte der Verfolgung als Überlebender authentisch an die heutige junge Generation weitergeben und so die Bereitschaft stärken, sich extremistischen Verführungen entgegenzustellen. Nicht nur abschreckende, auch anziehende Verhaltensweisen im Bericht des Autors können als Beispiele dienen. In der Rückschau auf einige Erlebnisse zollt er denen Anerkennung, die sogar unter dem Terror des NS-Regimes ihre Menschlichkeit bewahrten. Zimmermann kennt keine pauschalen Schuldzuweisungen - deshalb fühlt er sich auch in Deutschland durchaus heimisch -, sondern faßt im Rückblick die Handlungen der einzelnen im Heer der Verbrecher, Helfershelfer, Mitläufer und Gleichgültigen scharf ins Auge.

Das Buch enthält eine große Zahl plastischer Episoden. Einige lesen sich "leicht", bilden in ihrer Abfolge ein spannendes buntes Abenteuer, sogar humorvolle Einlagen fehlen nicht. Doch immer wieder verweisen die einzelnen Szenen auf den ernsten Hintergrund. Das Verhalten der Menschen, die als handelnde Personen in diesem großen Drama auftreten, legt den Nachgeborenen die Frage nach ihren eigenen Grundsätzen und möglichen Entscheidungen zwingend nah. Gerade darum kommt der Autor mit seinen Berichten und Lesungen vor Schulklassen und Gruppen von Jugendlichen so gut an. Er ist nie in der Rolle des Lehrers, sondern läßt die Begebenheiten und die damaligen Akteure für sich sprechen, entwickelt daraus die immer lebhafte Diskussion mit der Jugend. Dieses Buch sei als Schul- und Privatlektüre dringend empfohlen, es läßt sich vielseitig einsetzen. Ein besonderes Erlebnis ist die persönliche Begegnung mit dem Autor, der auf Vermittlung der Landeszentrale für politische Bildung u.a. vor Schulklassen und anderen Jugendgruppen gerne auftritt.

Ernst Lüdemann


Persilschein und Käferkauf

Wolfgang Sannwald (Hrsg.):
Persilschein, Käferkauf und Abschlachtprämie.
Von Besatzern, Wirtschaftswunder und Reformen im Landkreis Tübingen. Ein Buchprojekt des Landkreises Tübingen.
Verlag Schwäbisches Tagblatt Tübingen 1998.
480 Seiten. Broschiert. DM 44,-

Ein Landkreis als Identifikationsraum. Kommunalpolitik im regionalen Bezugsrahmen. Das klingt nach abstrakter Verwaltungsgeschichte, aber bereits der Titel verspricht mehr - und er hält dies auch. Das Buchprojekt ist greifbarer Beleg gegen die These der "Ressourcen-Fehlsteuerung" an deutschen Hochschulen und zeigt das Ergebnis wissenschaftlicher, quellennaher und dabei pragmatischer Zusammenarbeit von Zeithistorikern und Politologen, von akademischen Lehrern und Studierenden. Hervorgegangen ist der reich bebilderte Band aus einem fächerübergreifenden Seminar zum 25. Jahrestag der kommunalen Gebiets- und Verwaltungsreform in Baden-Württemberg von 1973. Anselm Doering-Manteuffel, Hans-Georg Wehling, Hans-Joachim Lang sowie der Tübinger Kreisarchivar und Herausgeber Wolfgang Sannwald leiteten das Seminar an der Universität Tübingen. In die vom Landkreis Tübingen unterstützte Publikation der Ergebnisse sind zahlreiche Beiträge von Studierenden eingeflossen.

In drei Teilen wird der regionale Identifikationsraum "Landkreis Tübingen" facettenreich unter die Lupe genommen. Die Makrotheorien der Modernisierung, des Umbruchs zur Industrie-, Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft, die ökonomische und soziale Dynamik der letzten rund fünfzig Jahre werden im regionalen Zugriff anschaulich dargestellt. Eine oft als willkürlich empfundene Verwaltungseinheit wird hier als lebensweltlicher Bezugsrahmen und als Denkkonstante unterhalb der "großen Politik" präsentiert. Die gelungene Mischung aus Kreisarchiv- und Zeitungsauswertung sowie erfahrungsgeschichtlichen Interviews verdeutlicht den Bevölkerungswandel, den wirtschaftlichen, städtebaulichen und verkehrspolitischen Strukturwandel und die Wahrnehmung dieses Wandels in der Bevölkerung. Identifikationen werden thematisiert, die sonst eher im Verborgenen schlummern, sich bei bestimmten Anlässen aber verdichten, manifestieren und letztlich Motive für Wandel und Reform, aber auch für Beharrungskraft sind.

Der erste Teil behandelt das Trümmerjahrzehnt. Was für die einen Niederlage war, war für die anderen Aufbruch und Neubeginn. Daß es trotz nachfaschistischem demokratischem Konsens keine konfliktfreie Gesellschaft war, zeigt die Bandbreite der Themen: Militärverwaltung und Schwarzmarkt, Entnazifizierung und "Displaced Persons", Heimatvertriebene und Erinnerungskultur an den Krieg. Der örtliche und regionale Rahmen war in dieser Zeit Strukturierungseinheit - sei es bei der Bewältigung der existentiellen Sorgen um ein Dach über dem Kopf oder der "Verwaltung" des Bildungshungers der studierenden Jugend.

Die Multiperspektivität der zeitgenössischen Wahrnehmung und die "kleinen Quellen des Alltags" - ob Carepaket oder der Zichorien-Malz-Ersatzkaffee berühmt als "Muckefuck" (,moka faux´) veranschaulichen die "kleinen Genüsse" in der Not. Die Beiträge zu den Heimatvertriebenen etwa belegen, daß trotz des kollektiven Ärmelhochkrempelns, Zusammenrückens und Aufbauens auch traditionelle konfessionelle Vorbehalte und lokale Egoismen überwunden werden mußten, letztlich aber eine erfolgreiche Integrations- und Aufbauleistung der Einheimischen und der "Reingeschmeckten" unter den Stichpunkten "Lastenausgleich" und "Eigenheim" ihren Anfang nahm. Der Blick in die kirchlichen Visitationsberichte ist hier für die Ausleuchtung der konfessionellen Integration sicherlich als interessante Bereicherung zu bewerten.

Der zweite Teil unter dem Titel "Wirtschaftlicher und sozialer Umbruch" thematisiert das kollektive Gedächtnis der Westdeutschen und die Währungsreform als "Mythos vom Ursprung des goldenen Zeitalters". Motorroller und "Käfer" sind zu Ikonen des Aufbruchs in die Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft geworden. Aber die thematisch reichen Beiträge sind nicht harmonisierend: Auch die problematischen Aspekte der Spirale der Bedürfnisbefriedigung werden angesprochen - sei es beim Stichpunkt "Massenmotorisierung", "Strukturwandel der Landwirtschaft" oder "Armut im Wohlstand". Die Untertitel zweier Beiträge mögen paradigmatisch dafür stehen: "Wirtschaftswunder, Krisen und Neuorientierung" sowie "Wohnraumnot und Häuslebau".

Der dritte Teil des Buches, der sich mit der Kreis- und Kommunalreform der siebziger Jahre beschäftigt, rückt nochmals den Landkreis in den Mittelpunkt. Zwar war die Gebietsreform von 1973 nicht die erste in der Geschichte, aber gerade der lokale Zugriff zeigt, daß sich der "verwaltete Bürger" auch in einer hochentwickelten und mobilen Gesellschaft in den regionalen historischen Kontinuitätslinien der politischen und kulturellen Traditionen bewegt. Die Verwaltungseinheit ist hier "Raum" - Raum des Denkens, Raum des Bewußtseins und Wahrnehmungszusammenhang.

Wolfgang Sannwald arbeitet anhand der Gemeinde Ammerbuch, einer Kunstschöpfung der Gemeindereform, die Identifikationen jenseits von Verwaltung und politischer Dimension heraus. Eine leichte Geburt war die Gemeinde Ammerbuch nicht: Gewachsene geschichtliche, konfessionelle, kulturelle und verwandtschaftliche Beziehungen sowie nicht zuletzt die Dialektgrenze zwischen dem Neckarschwäbischen und dem "katholischen" Hohenbergischen bildeten Hürden. "Freiwillig und dezentral" war letztlich die Devise, aber der "Goldene Zügel" als finanzpolitisches Steuerungsinstrument mußte doch auch kräftig mithelfen - von der Landesregierung als "Fusionsprämie" bezeichnet, von Kritikern als "Abschlachtprämie" tituliert.

Die Aufsätze des dritten Teils sind ein gelungener Beitrag zur Problematik der "reflexiven Globalisierung" und zeigen, daß die Kategorie der heimatlichen und lebensweltlichen Region als Orientierungsraum auch im "global village" (in seinem doppelten Sinn) von Bedeutung ist.

Das Buch, dem bereits 1995 vom selben Herausgeber ein Band über "Einmarsch, Umsturz, Befreiung" vorausging, ist eine empfehlenswerte Vogelschau mit Adleraugen auf eine regionale Einheit. Konzeptionelle Schärfe des Herausgebers und thematische Vielfalt lassen dem "Buchprojekt" viele Leser und eine Nachfolge wünschen. Kleiner Mangel: Ein Autorenverzeichnis hätte Lesern (und Verfassern) gut getan.

Reinhold Weber


Zivilcourage

Gerd Meyer/Angela Hermann
" ...normalerweise hätt´ da schon jemand eingreifen müssen." Zivilcourage im Alltag von BerufsschülerInnen
Studien zu Politik und Wissenschaft, Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts. 1999, 238 Seiten, DM 54,-

Zivilcourage als sozialen Mut und zivile Tapferkeit bräuchten wir dringend für das Leben in einer bedrohten Welt. Seit den Anfängen der Ethik gehört Tapferkeit - neben Klugheit, Gerechtigkeit, Besonnenheit - zu den Kardinaltugenden.

Die Studie von Gerd Meyer und Angela Hermann untersucht Motive, Chance und Hindernisse für Zivilcourage oder sozial mutiges Handeln. Zwar grenzen die Autoren ihre Untersuchung auf junge Menschen ein; aber dieser Anspruch wird übertroffen: Der Leser findet fundierte Erkenntnisse über die Tugend bürgermutigen Handelns, die unsere ganze Gesellschaft betreffen.

Gerd Meyer und seine Mitarbeiterinnen arbeiten deutlich heraus, was unter Zivilcourage zu verstehen ist: eingreifen - sich wehren - sich einsetzen. Sie grenzen den sozialen Mut gegen andere mutige Handlungsweisen ab: als öffentliches, mit persönlichen Risiken behaftetes Handeln innerhalb eines Macht-Ungleichgewichts, mit dem aus freien Stücken für Wertüberzeugungen eingetreten und Mitmenschen geholfen wird.

Die Autoren beziehen vielerlei Lebensbereiche ein, in denen ziviler Mut praktiziert werden kann. In ausführlichen Interviews und Gesprächen mit Jugendlichen einer Berufsschule sammelten die Befrager Fallgeschichten, in denen Jugendliche im Alltag mutig eingriffen, sich wehrten oder sich für etwas Wertvolles einsetzten. Die Zitate aus den Gesprächen und Befragungen machen das Buch lebendig und interessant.

Anschauliche Beispiele zeigen, was es schwer macht, öffentlich mutig zu sein und was Zivilcourage begünstigt. In den Intensiv-lnterviews werden 40 Beispiele analysiert: was zu sozialem Mut bewegt, welche Motive die Jugendlichen zum Eingreifen antreiben, was sie daran hinderte, mutig zu sein, unter welchen Bedingungen sozialer Mut gewagt wurde.

Angela Hermann und Gerd Meyer zeigen psychologisch und tiefenpsychologisch kenntnisreich auf, was die Entwicklung sozialen Mutes fördert: zum Beispiel ein Familienklima, in dem die Kinder früh üben können, Eigenständigkeit zu entwickeln; in dem ihr Ich gestärkt wird und Selbstbewußtsein wachsen kann; in dem Ängste zugelassen und überwunden werden können; in dem innere Stärke und persönliche Freiheit entstehen und zum Kern der Person werden können. Sozialer Mut kann sich entwickeln, wenn Eltern zum Widerspruch ermuntern, selbst Vorbild sind, eine haltgebende Beziehung zu den Kindern haben, Toleranz vorleben.

Die Studie ist eine unaufdringliche soziale Tugendlehre. Diese fordert zu einem Überdenken der üblichen Erziehungspraktiken heraus. Besonders in Institutionen, in denen ein Macht-Ungleichgewicht gegeben ist, zum Beispiel in Ausbildung, Arbeitsplatz und Schule, werden unter dem Aspekt sozialen Mutes moralische Versäumnisse offenkundig. Beim Lesen der Studie erwächst aus der Frage nach der Zivilcourage immer wieder die Frage nach der öffentlichen Moral und deren niedrigem Niveau in der Gesellschaft: der mangelnden Fähigkeit, Anteilnahme und Mitleid zu spüren, der geringen Bereitschaft, für menschliche Grundwerte einzutreten und der gleichgültigen Weigerung, sich für andere, insbesondere Schwache einzumischen.

Es liegt im Wesen der wissenschaftlichen Untersuchung, daß die Autoren Tatbestände wiederholen, weil sie sich um eine Verzahnung der einzelnen Elemente bemühen; ich selbst habe diese Wiederholungen aus einer jeweils anderen Perspektive gern gelesen, weil sie immer wieder das Wichtige vertiefen.

Die Autoren schaffen mit großer Sorgfalt begriffliche Klarheit; die ist notwendig bei dem derzeit inflationären Gebrauch und Mißbrauch des Wortes "Zivilcourage". Sie bedienen sich einer durchsichtigen Sprache, die dem wissenschaftlichen Anspruch wie der Allgemeinverständlichkeit zu Gute kommt. Ich erlebte als Leser klärend, wie die verschiedenen Aspekte der Zivilcourage immer greifbarer wurden - im Sinne von Bertolt Brecht: "Die Begriffe, die man sich von was macht, sind sehr wichtig; sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann." In der Studie taucht kein grundlegender Begriff auf, der nicht verdeutlicht und durch Beispiele veranschaulicht wurde.

Überall wo danach gefragt wird, wie in jungen Menschen sozialer Mut wachsen kann, wird der Leser zur Erziehungskritik herausgefordert: Die Heranwachsenden bräuchten mehr Ermutigung zu Nonkonformität, größeren familiären Rückhalt bei "Eigen-Sinn" und Widerspruchsmut, Vorbilder für Zivilcourage. Die Lektüre des Forschungsberichtes regt dazu an, sich in Jugendliche einzufühlen, Verständnis für sie zu entwickeln - und sie stößt dazu an, nach eigenen Erinnerungen und aktuellen Verhaltensweisen zu fragen - also sich selbst im Hinblick auf sozialen Mut aufmerksamer wahrzunehmen.

Das Buch ist ein hervorragender Beitrag zur politischen Bildung und zur Menschenbildung insgesamt. Es schränkt Zivilcourage nicht auf das Politische im engeren Sinn ein, sondern umfaßt alle sozialen Bereiche des Alltags, verbindet individuelle und soziale Verantwortung, das Private und das Öffentliche.

Alle, die die Frage bewegt, wie Menschen mit Menschen humaner umgehen können, werden das Buch als bereichernd erleben: Erzieher, Lehrer, Politiker, Sozialpädagogen, Pfarrer, Psychologen und andere, die sich um mehr Menschlichkeit in unserer Gesellschaft mit der Erde bemühen.

Kurt Singer


Der östliche Mittelmeerraum

Peter Trummer, Sabine Fleischerl, Wolfgang Pühs (Hrsg.)
Die Lage im östlichen Mittelmeerraum als Aspekt deutscher Sicherheitspolitik
Nomos Verlag Baden-Baden. 1997, ISBN 3-7890-4765-1, 170 Seiten, DM 48,-

Die Einschätzung, daß "der östliche Mittelmeerraum als Region von wachsender sicherheitspolitischer Bedeutung" zu beachten sei, hat sich seit dem Erscheinen dieses Sammelbandes in dramatischer Weise bestätigt, seit Präsident Clinton in seiner "Kriegsrede" am 23. März 1999 das bevorstehende Eingreifen der Nato im Kosovo zu einem guten Teil mit der Gefährdung der Stabilität Europas an seiner Südostflanke begründete. Die Herausgeber haben den Balkankonflikt, die Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei und die Ausläufer der Krisenregion Naher Osten im Blick, ebenso die Herausforderung des Westens durch den Islamismus, die im arabisch-persischen Raum entsteht und auch auf den östlichen Mittelmeerraum ausstrahlt. Der Konflikt in und um Israel, die strategischen Verbindungen der USA mit diesem Staat, bilden in diesem Band allerdings kein eigenes Thema, sondern werden als Funktion der genannten Konflikte einbezogen.

Peter Trummer, langjähriger Vorsitzender des Bundesverbandes Studierender Reservisten und Fachmann für Sicherheitspolitik, u.a. Leiter der von ihm selbst gegründeten Studiengruppe Internationale Sicherheitspolitik in Mannheim, führt den Sammelband, der auf eine Veranstaltung der Bundesarbeitsgemeinschaft Studierender Reservisten zurückgeht, ein, indem er "den östlichen Mittelmeerraum als Region von wachsender sicherheitspolitischer Bedeutung" betrachtet und dabei den Balkankonflikt, die griechisch-türkischen Spannungen und die "Ausläufer der Krisenregion Naher Osten" zu einem Gesamtkomplex bündelt.

Volker Rühe behandelt die deutsche Sicherheitspolitik und die Rolle der Bundeswehr vor den künftigen Aufgaben der "neuen NATO". Anstelle der Abwehr einer Bedrohung - so sieht es Rühe - trete nun die Schaffung einer gesamteuropäischen stabilen Ordnung mit Hilfe der sich erweiternden EU und der sich ebenfalls ausdehnenden NATO. Im Idealfall soll Russland als Partner in dieses Konzept einbezogen werden, ebenso wie die Ukraine, deren Mittlerstellung zum eurasischen Russland Rühe einige interessante Bemerkungen widmet. Dennoch: Der Krieg im Kosovo hat gezeigt, daß manches in diesem Idealbild auf Wunschdenken beruht. Das Lob des Abkommens von Dayton, das Rühe als Beweis für den gemeinsam mit Russland vollbrachten "Stabilitätstransfer" anführt, klingt 1999 hohl: Einer der Unterzeichner war der serbische Präsident.

Ekkehard Kraft, ausgewiesener Balkanfachmann und Osteuropa-Spezialist, widmet seinen Beitrag der Lage auf dem Balkan nach Dayton und lenkt den Blick auf die einzelnen Staaten dieser Region (ohne die Türkei). Klarsichtig stellt er dabei das Kosovo und den Gegensatz zwischen Griechenland und der Türkei als die wesentlichen Konfliktherde heraus. Die griechische und die türkische Außenpolitik - nicht nur in den Beziehungen zueinander - werden in den Beiträgen von Gürbey und Kramer analysiert. Außer dem Streit um die Ägäis und um Zypern, der traditionellen Wahrnehmung Griechenlands und der Türkei als gegenseitige "Erbfeinde" durch die Bevölkerung beider Staaten werden auch die Haltung Griechenlands zum serbischen Konfliktherd, das Kurden-Problem und die Rolle der Türkei im Nahen Osten, in der Kaukasus-Region und in Zentralasien behandelt. Weitere Beiträge erörtern die Beziehungen der Europäischen Union zur Türkei (Sakellariou) und die Außenpolitik der Regierung Erbakan (Sen). Dass der reputierte Islamkenner Udo Steinbach den Band mit Überlegungen zum islamischen Fundamentalismus abschließt, erhöht noch den Wert und die Aktualität der Publikation und zeigt erneut, welche vielschichtigen Konfliktlinien: staatenpolitische, wirtschaftliche, ethnische und religiöse den östlichen Mittelmeerraum prägen.

Ernst Lüdemann


Moral und das evolutionäre Erbe des Menschen

Klaus Dehner
Lust an Moral: die natürliche Sehnsucht nach Werten
Darmstadt: Primus Verlag, 1998, ISBN 3-89678-079-4, 184 Seiten, DM 26,90

Atomstrom, Schwangerschaftsabbrüche, Organtransplantationen, Gentherapie, Euthanasie... Moralisch-ethische Fragen bilden den Kern der Auseinandersetzungen, die die modernen demokratischen Gesellschaften am meisten aufwühlen. Dies war nicht anders in den frühen 80er Jahren, als Rüstungsgegner den demokratisch-legitimierten Ansprüchen des Staates "ein höheres" ethisches Verständnis entgegensetzten, und es betrifft auch 1999 wieder die moralischen Gründe für oder gegen den Einsatz von Waffengewalt. In der politischen Bildung lebte die Frage nach den Werten und der Moral in den 90er Jahren wieder auf, nachdem fremdenfeindliche Ausschreitungen und Orientierungslosigkeit innerhalb der jungen Generation Schlagzeilen machten. Der Ruf nach einer neuen Werte-Erziehung wurde lauter.

Der Erziehungswissenschaftler Klaus Dehner, ein Schüler Felix von Cubes, bringt einen wichtigen Beitrag in die Debatte ein. Wesentlicher Ansatzpunkt Dehners ist das evolutionäre Erbe des Menschen. "Moralisches" Verhalten deutet er somit zunächst als Befolgung von Regeln, die einer Sozietät das Überleben und die Durchsetzung lebenswichtiger Ziele in der Konkurrenz mit anderen ermöglichen. Dehners Konzeption ist gleichwohl weder vordergründig-utilitaristisch noch deterministisch im Sinne biologisch vorgegebener Unterordnung unter den Gruppenzwang, sondern im Gegenteil: der selbstverantwortlich entscheidende Mensch, der sich durch diese Fähigkeit von den instinktiv handelnden anderen Lebewesen unterscheidet, ist der Träger jeglicher Ethik und Moral. Zudem kennt Dehner die Diskussion um eine "Moralerziehung" genau und weiß sie richtig in den geistesgeschichtlichen Kontext einzuordnen.

Das Überleben und Funktionieren von Gemeinschaften ist sicherlich ein Axiom, von dem ausgehend "richtige" Verhaltensweisen hergeleitet werden können. Dies gilt zunächst auch für menschliche Gruppen: Staaten, Gesellschaften und kleinere Einheiten. Die Binnenverhältnisse von Wirtschaftsunternehmen und die Beziehungen zwischen ihnen untersucht Dehner als ein besonders sprechendes Beispiel. Doch damit ist noch keine Moral im eigentlichen Sinne geschaffen, denn der Konkurrenzkampf zwischen Tiersozietäten der gleichen Art ist hart und wird gnadenlos ausgetragen, und schwache Individuen, die eine Belastung für die jeweilige Gruppe sein könnten, werden in der Regel nicht geduldet. Eben diese Forderungen, Moral auch gegenüber Menschen fremder Sippe, ethnischer, religiöser oder sonstiger verbindender Zuordnung walten zu lassen und insgesamt das Nutzprinzip nicht über moralisch-ethische Erwägungen zu stellen, prägen die menschliche Moral. Diesen wichtigen weiteren Unterschied des Menschen zum Tierreich unterstreicht Dehner und erteilt damit jeglichem Sozialdarwinismus eine Absage. Die Fixierung auf die eigene Gruppe will er ausdrücklich aufheben zu Gunsten eines universalen moralischen Prinzips, das "alle Menschen in den Schutzraum seiner Regeln stellt".

Dehner arbeitet evolutionäre Grundlagen der Moral heraus, indem er den Blick auf das Triebverhalten von Tieren, insbesondere Primaten, lenkt: Die "Gesamtfitness" der Gruppe, also der Zustand, der nicht nur der übergeordneten Einheit das Überleben sichert, sondern auch dem Individuum innerhalb des Ganzen ein Maximum an Sicherheit und Erfüllung seiner Triebe gewährt, ist das Ziel. Eigennützig motivierte Verstöße gegen das Regelwerk werden zwar beobachtet und können evolutionstheoretisch als Vorstufe "amoralischen" Verhaltens gedeutet werden, gefährden jedoch nie den Bestand der Sozietät und kommen in existienziellen Notlagen der Gruppe nicht vor. Auch Ansätze einer "Moralerziehung" können im Tierreich ausgemacht werden, wenn nämlich Fehlverhalten, das der Gruppe schaden könnte, sanktioniert wird. Dehner plädiert für eine Moralerziehung, die nicht "moralisiert", sondern sich andere evolutionäre Anlagen des Menschen zu Nutze macht, als die bisher gezeigten: Das Streben nach Anerkennung einer Gemeinschaft, mit dem der Bindungstrieb verstärkt wird und das auf ebenso lustvolle Weise befriedigt werden kann wie das natürliche Bestreben, durch Leistung eine bestimmte Position innerhalb einer Gruppe zu erringen.

Man kommt also weit mit dieser Konzeption, und der verdienstvolle Beitrag, den Felix von Cube und seine Schüler, fußend auf der Evolutionstheorie, in die Erziehungswissenschaft eingebracht haben, soll hier keineswegs geschmälert werden. Dennoch muß mit Blick auf den breiten und tiefen Strom der philosophischen Ethik - ein Teil davon ist nach klassischer Lehre die Politik - festgestellt werden, daß dieses beachtenswerte Erklärungsmodell natürlich auch an seine Grenzen stößt. Die seit der Stoa überlieferten klassischen Beispiele der Auseinandersetzung zwischen einer rein utilitaristischen oder vom Wesen des Menschseins her begründeten philosophischen Ethik, die Fragen nach einer zeitbedingten oder unveränderlichen Wertordnung, nach dem Wesen des Guten und Bösen, nach der metaphysischen oder religiösen Begründung der Würde des Menschen, werden an einigen Stellen berührt, aber nicht eingehender erörtert.

Dennoch: Ein lesenswertes Buch, ein wichtiger, in sich schlüssiger Ansatz, für den Ethik-Unterricht sehr zu empfehlen.

Ernst Lüdemann


Extremismus und Demokratie

Uwe Backes/Eckhard Hesse (Hrsg.)
Extremismus und Demokratie
10. Jahrgang 1998, Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden, 1998. 520 S., DM 68,-

Der vorliegende Band ist der zehnte in der Reihe der Jahrbücher unter diesem Titel, die sich unter der Herausgeberschaft von Uwe Backes und Eckhard Jesse inzwischen einen festen Platz unter den politikwissenschaftlichen Periodika in Deutschland erworben haben. Kritiken und Angriffe von interessierter Seite, hier werde das - angeblich überholte - Schema "freiheitliche Demokratie contra Totalitarismus" unter neuen Etiketten fortgesetzt auf Kosten des wirklichen Gegensatzes "Faschismus - Antifaschismus" sind nicht ausgeblieben. Den Herausgebern ist es aber stets gelungen, das Jahrbuch mit Vernunft und Sorgfalt durch die Kontroversen des Tages und des Marktes zu steuern.

Im Aufbau der Rubriken folgt auch diese Ausgabe den vorangegangenen. In der Rubrik Analysen finden sich die Essays "Neue Formen des politischen Extremismus?" (Backes/Jesse); "Jenseits von rechts und links? Zum Bedeutungswandel der politischen Richtungsbegriffe" (Frank Deckert); "Rückblick auf das tragische Jahrhundert" (Volker Kronenberg) und "Demokratie und Demokratietypen" (Juan L. Linz). Kronenberg vergleicht die Deutungen des totalitären Zeitalters von Franèois Furet und Ernst Nolte. Bei manchen Unterschieden stimmen die beiden Epochendarstellungen darin überein, daß die totalitären Ideologien an die Stelle Gottes die Geschichte rückten mit dem Anspruch absoluten Wissens um deren Weg und Ziel, woraus die sich darauf berufenden Bewegungen und Staaten den Anspruch auf eine grundlegende "Veränderung der Welt", ja der "Weltherrschaft" ableiteten. Furet und Nolte stimmen auch darin überein, daß die radikale Aufklärung und bestimmte Entwicklungen in der Französischen Revolution als gemeinsamer "Wurzelgrund" der Totalitarismen in ihren beiden wichtigsten Ausprägungen als sozialistischer und nationalistisch-rassistischer "Messianismus" verstanden werden müssen, so daß ihr "Vergleich" sich aus der Sache selbst und der gemeinsamen Genese ergibt und die "dialektische Beziehung zwischen Kommunismus und Faschismus ins Zentrum der Tragödien des (20.) Jahrhunderts" führt (Furet). Die Konsequenz aus der Bilanz des totalitären Zeitalters ist der Abschied von der enthusiastischen Zukunftsgewißheit der totalitären Geschichtsideologien, ihre Einordnung in den "weltgeschichtlichen Zusammenhang" (Klaus Hildebrandt) "ohne Rechthaberei, gesinnungsethische Verinselung unbequemer Fragen oder gar deren volkspädagogische Zurichtung".

In der Rubrik Forum geht es dann um die Scientology-Kirche (SC), zu der Hans-Gerd Jaschke Fragen formuliert, auf die Angelika Köster-Lösack (MdB, Grüne), Helmut Rannacher (Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz Baden-Württemberg), Sabine Weber (Scientology-Kirche Deutschland) und Jaschke selbst antworten. In der Rubrik Daten - Dokumente - Dossiers berichten Eckhard Jesse über die Wahlen 1997, Uwe Backes über den aktuellen Stand links- und rechtsextremistischer Organisationen, Uta Stoll über Joachim Gauck und seine Behörde, Stefan Mayer über "Zehn Jahre Deutsche Volksunion", Bettina Blank über die Proteste gegen die Castor-Transporte, Reinhard Rupprecht über das Instrumentarium der "streitbaren Demokratie" und den behördlichen Verfassungsschutz sowie Tobias Wunschik über den Prominenten bundesdeutschen Linksterroristen Till Eberhard Meyer, wobei einmal mehr deutlich wird, wie wichtig die genaue Erfassung der Biographie und Sozialisation zum Verständnis von Extremisten und Extremismus ist. In allen genannten Essays ist jedenfalls viel informationsreiche deutsche Gegenwartsgeschichte enthalten.

Gleiches gilt für die zumeist lesenswerten Literaturberichte und Sammelrezensionen über Antisemitismus und deutsch-jüdische Geschichte, den "Deutschen Herbst" des Terrorismus vor zwanzig Jahren, über Ungarn und die einstige DDR-Opposition. Unter "Wieder gelesen" berichtet Boris Orlov über Wolfgang Leonhards "Die Revolution entläßt ihre Kinder" und Uwe Backes über Franz Schönhubers Biographie Le Pens.

Unter den Hauptbesprechungen finden wir das "Schwarzbuch des Kommunismus" (Gerhard Hirscher), Anthony Giddens´ "Jenseits von Links und Rechts" (Bassam Tibi), Eric Hobsbawms´ "Zeitalter der Extreme" (Ernst Nolte), Noltes "Europäischer Bürgerkrieg" (Jens Reich), den Sammelband von Alfred Söllner u.a. (Hrsg.): "Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts" (Klaus Georg Riegel) und eine Darstellung des Kalten Krieges aus russischer Sicht (Wladislaw Subok und Konstantin Pleschakow: "Der Kreml im Kalten Krieg. Von 1945 bis zur Kubakrise", 1997 (Wolfgang Leonhardt). Es folgen noch Kurz- und Sammelbesprechungen (60 Druckseiten) (wobei die Zuweisung zu diesen oder zu den Hauptbesprechungen nicht immer einleuchtet), eine kommentierte Bibliographie (35 Druckseiten) und einige Kurzrezensionen einschlägiger Zeitschriftenaufsätze (Deutschland-Archiv, Zeitschrift für Politik, Leviathan und Beilage zum "Parlament" "Aus Politik und Zeitgeschichte").

Auch dieses Jahrbuch dokumentiert erneut, daß es Herausgebern und Autoren nicht um vordergründige Tagespolitik und politische Auftragsforschung geht, sondern in wissenschaftlicher Unabhängigkeit ein sorgfältiges Röntgenbild der Gesellschaft und Politik in Deutschland vermittelt wird, so daß es in der Reihe der wissenschaftlichen Publikationen auch weiterhin unentbehrlich erscheint.

Klaus Hornung


"Stressgesellschaft"

K. Peter Fritzsche
Die Stressgesellschaft
Vom schwierigen Umgang mit rasanten gesellschaftlichen Veränderungen
Kösel Verlag München 1998, 181 Seiten, DM 29,90

Der Untertitel des Buches sagt schon worum es geht: Wie können Menschen die Herausforderungen weitreichenden gesellschaftlichen Wandels und den damit verbundenen sozialen Stress bewältigen? Der Begriff wird aus der Arbeitsmedizin und Psychologie auf den sozialen Bereich übertragen und dient als Schlüsselbegriff, um neue Befindlichkeiten zwischen Herausforderungen, Entfaltungschancen und Tendenzen zur Überforderung zu bezeichnen. Stress werde vor allem erzeugt durch Schübe der Pluralisierung, Individualisierung und Mobilität, durch Arbeitslosigkeit und die Begegnung mit fremden Kulturen, durch die neuen Freiheiten in den einst sozialistischen Gesellschaften und Prozesse der Globalisierung. Stress-Reaktionen zeigten sich in neuen mentalen und sozialen Grenzziehungen aus Furcht vor den neuen Freiheiten, als Abwehr und Suche nach Sicherheit vor Fremdem und Bedrohlichem. Doch nicht diese Entwicklungstendenzen selbst, sondern das, was sie in den Menschen auslösen und wie sie damit umgehen, ist das Thema dieses Bändchens.

Eine Kernthese des Autors lautet: "Stress wird nie allein durch objektive Bedingungen verursacht, sondern bleibt immer abhängig von der Einschätzung und Bewertung der Betroffenen." (S. 12) Stress ist bestimmt durch das "Gefühl der Überforderung", wenn Ressourcen und Kompetenzen fehlen, um die Stress erzeugenden Momente positiv zu bewältigen (coping). So wird vielfach aus der neuen Freiheit eine Belastung, die in Flucht oder Furcht vor der "Qual der Wahl" enden kann, aber nicht muß. Denn Fritzsche will auch zeigen, daß Lernprozesse und ein Wachstum der Kompetenzen möglich und organisierbar sind, die uns helfen, den rasanten sozialen Wandel zu bewältigen und unsere Rolle als Bürger in der Demokratie neu zu definieren.

Der schmale, konzentriert und gut lesbar geschriebene Band analysiert - nach einer Klärung des Stress-Konzeptes - das Verhältnis von Heraus- und Überforderung, von erfolgreichen und misslingenden oder verfehlten Strategien der Stressbewältigung unter mehreren Aspekten. Er skizziert zunächst "Dimensionen stressigen Wandels" und deckt dann in kritisch-aufklärerischer Absicht "lrrwege gestresster Bürger auf der Suche nach ,neuen´ Sicherheiten" auf: Intoleranz gegenüber Fremden, die Sehnsucht nach einer festen kollektiven Identität (gerade auch der Nation), nach sicheren normativen, religiösen Fundamenten. Drei großen Gruppen schenkt der Verfasser besondere Aufmerksamkeit: Ausländern und der Schwierigkeit besonders der Jugend unter ihnen, "zwischen zwei Kulturen zu leben"; den gestressten Ostdeutschen (der Autor lehrt Politikwissenschaft in Mageburg und kann so seine Landsleute aus der Nähe beobachten); schließlich die "Jugend zwischen Stress und Spaß". Hier stützt sich der Verfasser u.a. auf eine höchst interessante Befragung von 100 SchülerInnen aus verschiedenen Schularten in Ost und West aus dem Jahre 1994, die zugleich ein besonderes Anliegen des Autors verdeutlichen: die Förderung kultureller Toleranz und die Überwindung von Fremdenfeindlichkeit.

Denn diese Analyse der Stressgesellschaft will nicht nur kritisch die Schere zwischen Herausforderungen und Bewältigungsdefiziten aufzeigen, sondern auch konstruktiv ermutigen, Wege zu suchen und zu gehen, wie man "Stresskompetenz" erwerben kann. "Was sich ändern läßt, ist der Umgang mit den Anforderungen, ist die Einschätzung der bedrohlichen Anforderungen in ihrem Verhältnis zu den eigenen Möglichkeiten. Was sich beeinflussen lässt, ist die Bereitschaft, sich auf riskante Freiheit einzulassen, um ihre Chancen wahrzunehmen. Und was sich schließlich auch ändern läßt, sind die Reaktionen im Fall von Stressangst. Stress muß nicht zu blockiertem Verhalten oder zu Ersatzlösungen führen, sondern kann in einen Lernprozess münden.... Wir können Stress nicht abschaffen, aber wir können versuchen, ihn zu kontrollieren und zu transformieren." (S. 146) Die Schule sei "eine Scharnierstelle für den Übergang der Stress- in eine Lerngesellschaft". (S. 147) Konkret und einleuchtend beschreibt Fritzsche am Ende, was nötig ist für eine wirksame Menschenrechtserziehung und vor allem für die Forderung von Toleranz als politisch-sozialer Handlungskompetenz.

Viele Probleme der Modernisierung in Ost und West werden hier - manchmal allzu summarisch - aufgegriffen und in Beziehung gesetzt zu Einstellungen und Verhaltensweisen, die im wesentlichen als Einsatz oder Fehlen von Ressourcen und Kompetenzen, als gangbarer Weg oder als Irrweg verstanden werden, unter je unterschiedlichen strukturellen, gruppenspezifischen oder situativen Bedingungen. Das Stress-Konzept erweist sich als fruchtbar und analytisch plausibel, wo es um relativ präzise beschriebene Prozesse der (Nicht-)Bewältigung von sozialem Stress, wo es um konkretes Handeln und die Entwicklung von Handlungsperspektiven geht. Das Konzept wäre allerdings überstrapaziert, wollte man Stress ohne weiteres als Schlüsselbegriff für eine allgemeine Sozialpsychologie der modernen Gesellschaft verwenden oder sozialen Stress zu ihrem Haupt-Charakteristikum erklären.

Der Band ist lesenswert, weil er vielfältige Anstöße zum Aufmerken und Nachdenken über alltäglich erfahrbare soziale Widersprüche gibt. Manchmal werden allerdings zu viele Aspekte aufgegriffen oder allzu Bekanntes festgestellt, wo komplexere Erklärungen nötig und möglich wären. So vorzugehen rechtfertigt sich vor allem im Blick auf die Zielsetzung des Bandes, nämlich die Begründung und Ermunterung, die individuellen und gesellschaftlichen Kompetenzen für einen besseren Umgang mit allgegenwärtigem Stress zu entwickeln. Doch dann wäre es vielleicht gut gewesen, jene allgemeinen Tendenzen sozialen Wandels noch mehr auf konkrete Alltags- und Arbeitssituationen zu beziehen. In ihnen ist mancher Stress ja auch selbst gemacht und nicht nur gesellschaftlich bedingt. Wie häufig sagen wir z.B. von Vorgesetzten oder Lehrenden: "der macht sich doch nur selbst Stress" oder der macht "uns allen ständig Stress". Und wir selbst? Viele von uns kommen vor lauter Stress "zu gar nichts mehr", wir haben keine Zeit mehr füreinander, und so reiht sich "ein stressiger Tag" an den anderen. Ist das alles notwendig so?

Gefragt ist also eine spezifische Eigenverantwortung, wenn es um die Bewältigung von individuell oder gesellschaftlich-strukturell erzeugtem Stress im Umgang mit sich selbst und anderen geht. Der Autor will unseren Blick schärfen für soziale Situationen und Probleme, wo Verantwortung und Kompetenz gefordert sind - und zugleich besser wahrgenommen werden könnten als bisher.

Gerd Meyer


Eine neue Chance für den Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule

Karl Ernst Nipkow
Bildung in einer pluralen Welt
Band 1: Moralpädagogik im Pluralismus
Band 2: Religionspädagogik im Pluralismus
Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1998
Bd. 1: 329 Seiten, Gebunden DM 98,-
Bd. 2: 610 Seiten, Gebunden DM 128,-
Bei Bezug des Gesamtwerks: DM 178,-

Dem emeritierten Tübinger Ordinarius für Pädagogik und Religionspädagogik ist ein großer Wurf gelungen. Sein zweibändiges Werk geht alle an, denen Erziehung und Bildung am Herzen liegen, besonders diejenigen, die sich nach dem Erziehungs- und Bildungsauftrag

der Schule verpflichtet fühlen. Nicht nur Ethiklehrer und Religionslehrer also sind als Leser gefragt, sondern ebenso Schulleiter, Lehrerkollegien und Lehrerverbände, Elternvertreter, Bildungspolitiker und interessierte Bürgerinnen und Bürger im Staat.

Wer mit der Schule zu tun hat, erlebt hautnah "ein strukturelles gesellschaftliches Dilemma...Schulen sind mit der Doppelaufgabe beauftragt, auf ihre Weise ...für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und für lebens- und handlungsbestimmende orientierende Maßstäbe zu sorgen, damit von den produzierten Mitteln ein verantwortlicher Gebrauch gemacht wird. In dieser Spannung sind die politischen und ökonomischen Eliten in der Bundesrepublik versucht, entgegen ihren Beteuerungen die Erhöhung der wirtschaftlichen Effektivität faktisch mit höchster Priorität zu fördern und für die ethische Selbstreflexivität der Gesellschaft viel weniger Ressourcen bereitzustellen. (1,23) Davon können nicht nur die Ethiklehrer ein Lied singen; auch Lehrerkollegien, die seit langem dafür plädieren, die Schule als Lebensraum zu gestalten, stoßen ständig an Rahmenbedingungen, die den Erziehungsauftrag der Schule behindern oder sogar blockieren. "Um so lautstärker ergeht der Ruf nach einer Abfederung der ...strukturellen moralischen Schwächen der Gesellschaft durch ,Werte´ und ,Werteerziehung´ mit Hilfe der Schule. Dies gilt unabhängig von den jeweils die Regierung stellenden Parteien von Stuttgart bis Kiel und Potsdam bis München." (1,70) Das

wäre freilich nicht mehr so leicht möglich, wenn das Grundproblem in Angriff genommen würde, eine von Nipkow diagnostizierte "philosophisch-ethische(n) und moralpädagogische(n) Problemblindheit" bis hinein in die Erziehungswissenschaft. Worum es heute geht, "wird theoretisch nicht gründlich genug durchdacht, was vielleicht den Bildungspolitikern, aber nicht der professionellen Pädagogik nachgesehen werden kann." (1,147) Diesem Mangel will Nipkow, selbst professioneller Pädagoge, abhelfen, und es gelingt ihm auf bewundernswerte Weise.

Sein Werk erscheint in einem Augenblick, in dem die Politik in unserm Lande mit drei Absichtserklärungen ein bemerkenswertes Problembewußtsein signalisiert hat:

1. Maßgebliche Abgeordnete des Landtages befürworten die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts.

2. Der Ethikunterricht soll zu seinem Recht kommen und einen regulären Ausbildungsgang erhalten.

3. Der Lernort Schule soll "zu einem Lebensort für alle Kinder und Jugendlichen" werden - so CDU-Fraktionschef Oettinger im Staatsanzeiger vom 12. April 1999.

Damit ist eine neue bildungspolitische Runde eingeläutet. Nun sind Argumente nötig, um Schritte nach vorn zu legitimieren und Gelder umzulenken. Die Akteure brauchen Kriterien und Ideen zur Verständigung auf Ziele und strukturelle Veränderungen. Dafür bietet Nipkows zweibändiges Werk Hilfen in beeindruckender Fülle.

Zwar geht es ihm primär um die Behebung des erwähnten theoretischen Defizits: ",Moralpädagogik´ sei als Theorie sittlicher oder ethischer Erziehung und Bildung verstanden." (1,73) Das hat aber nichts mit dem Bau von Luftschlössern in einem praxisfernen Elfenbeinturm zu tun. Seine Theorie greift politische Rahmenbedingungen ebenso auf wie pädagogisch-philosophische Grundsatzfragen. Die aktuelle Schulentwicklung in beiden Teilen Deutschlands wird ebenso berücksichtigt wie etwa das von manchen als Vorbild betrachtete Fach Religious Education in den Schulen Englands. Reformprogramme werden dargestellt und bewertet: natürlich solche, die den Religions- oder Ethikunterricht betreffen, aber auch schulische Reformprogramme, vornehmlich im Bereich der Grundschule. Wen reizte nicht die Überschrift "Beispiel Grundschule: progressive Praxis - defizitäre moralpädagogische Theorie"? (1,144ff) Das gemeinsame Grundproblem aller Aspekte zeigt der Titel des Gesamtwerkes an: "Bildung in einer pluralen Welt".

Ganz scharf muß man fragen: Ist angesichts des gesellschaftlichen Pluralismus Erziehung in staatlichen Schulen überhaupt möglich, wenn damit nicht nur Anpassung an die jeweiligen Verhältnisse gemeint sein soll, sondern die Bildung selbständiger, d.h. urteilsfähiger, handlungsfähiger und verantwortungsbewußter Bürgerinnen und Bürger? Wenn es also nicht nur um gesichertes Faktenwissen, sondern auch um ethische, ja sogar um religiöse Erziehung und Bildung gehen soll? Wenn somit der "Übergang von der Wissensvermittlung zur Handlungsbefähigung" (1,166) nicht nur beim Lesen, Schreiben und Rechnen angestrebt werden soll, sondern auch im Bereich von Moral und Ethik, ja sogar im Bereich von Religion?

Nipkow stellt sich den Fragen und verzichtet auf drei mögliche Auswege:

- auf den eines "ethischen Relativismus" (1,74), der es für unmöglich hält, daß "zwischen Menschen, die verschieden sind, ein gemeinsames Ganzes möglich ist" (1,180). Die Konsequenz wäre der Verzicht auf jegliche religiös-weltanschauliche und ethische Erziehung und Bildung in der Schule.

- Der zweite Ausweg wäre der Versuch, "den faktischen eigengesellschaftlichen und selbst den kulturellen Pluralismus im interkulturellen Vergleich zu begrenzen, im äußersten Falle geradezu zu leugnen" und statt dessen "von der objektiv vorhandenen einen Sittlichkeit im Singular" auszugehen, wie dies z.B. nach dem Kriege in den Verfassungen von Rheinland-Pfalz und Bayern mit dem Rückgriff auf die "allgemein anerkannten Grundsätze(n) des natürlichen Sittengesetzes" versucht worden ist (1,74). Dieser Versuch tendiert heute dazu, alles von der Schule fernzuhalten, was der "christlich-abendländischen Tradition" Konkurrenz machen könnte.

- Ein dritter Ausweg wird in Brandenburg mit dem staatlichen Pflichtfach "Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde" versucht. Dieses Fach soll objektiv und neutral Wissen vermitteln. In Wahrheit handelt es sich um eine militante ideologische Variante des zweiten Auswegs: ",Was Werte sind, bestimmen wir´, so die bereits zum geflügelten Wort gewordene, verbürgte Äußerung von staatlicher Seite in Brandenburg É" (1,53). Immerhin ist hier deutlich geworden, daß die Beschränkung auf "bloße Information", die frei ist von parteilichen Interessen, grundsätzlich nicht möglich ist.

Nipkow kommt es darauf an, dem Pluralismusproblem wirklich standzuhalten. "Pluralität ist in ihrem Kern Differenz; darum bildet der Umgang mit Differenz den Knoten des Pluralismusproblems." (1,176) Dies klingt, so theoretisch formuliert, ganz harmlos. Wenn wir jedoch "ausdrücklich und systematisch den einzelnen konkreten anderen Menschen zum Thema" machen, rückt uns "die ,Anderheit´ bzw. das ,Anderssein´ des anderen auf den Leib" (1,177). "Der andere Mensch und sein Anderssein werden ...verschärft zum moralischen Problem, wenn die anderen die Fremden sind." (1,178) Und wie erst, wenn aus Fremden Feinde werden! In Erziehung und Bildung gilt es, "auf die Schärfe des ethischen Problems im Gegenüber zu den anderen Menschen als Fremden und Feinden zu antworten" (1,180). Wer mit Gewalt zu tun hat, wer interkulturelles Lernen und Friedenserziehung als Aufgaben der Schule akzeptiert, wird Nipkow zustimmen, wenn er sagt, wir könnten nur mit einem "harten Pluralismusbild" (1,125) der pädagogischen Herausforderung gerecht werden. Zwar ist dies besonders mit Blick auf den Ethik- und erst recht auf den Religionsunterricht gesagt (2,361); es gilt aber für einen realitätsgerechten Umgang mit dem gesellschaftlichen Pluralismus überhaupt.

Es ist gewiß kein Zufall, daß ausgerechnet ein Pädagoge, der zugleich Religionspädagoge ist, sich dem Thema zugewandt hat. Wer sich ein Berufsleben lang mit Fragen des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen befaßt hat, war ständig mit dem Pluralismusproblem konfrontiert. Nipkow ist pädagogisch motiviert und argumentiert auch so. Mit Nachdruck betont er: "Ich verfolge keine geheimen Hintergedanken, die auf kirchliche Bevormundung abzielen." (1,25) Im Gegenteil: "Als Theologe habe ich früh von mir selbst als einem Pädagogen gelernt, daß die Pädagogik ihr eigenes Recht und ihre eigene Würde hat. Als Pädagoge wurde ich komplementär darauf aufmerksam, daß die Pädagogik an ihren Grenzen offen ist. Das ist durch die pädagogischen Sachverhalte selbst bedingt, die laufend auf gesellschaftstheoretische und anthropologische Voraussetzungsfragen stoßen" (1,12).

Weil jeder Ethik unausweichlich eine weltanschaulich-religiöse Interpretation des Lebens vorausgeht, sah Nipkow sich genötigt, weiter auszuholen, als es bisher üblich war und "fünf Paradigmen der Praktischen Philosophie systematisch in ihrem Für und Wider" zu erörtern. (1,17) Mit dem ersten Band hat er einen bedeutsamen Beitrag für Theorie und Praxis des Ethikunterrichts geleistet.

Der zweite Band ist für Theorie und Praxis des Religionsunterrichts in einer pluralen Gesellschaft von ähnlicher Bedeutung. Nipkow wählt den Weg einer "pluralen bzw. pluralisierenden Hermeneutik und Didaktik" (2,603). Andere Konfessionen, Religionen oder weltanschauliche Positionen werden nicht übergreifenden religionswissenschaftlichen Kategorien unterworfen oder in die eigenen theologischen Vorstellungen gezwängt. Jeweils eigene Kapitel werden dem Verhältnis Katholisch - Evangelisch (Kap. 8), Juden und Christen (Kap. 9), Christentum und Islam (Kap. 10), Ethikunterricht und Religionsunterricht (Kap. 12) gewidmet, und Nipkow bemüht sich jeweils um die dem Gegenüber entsprechenden Dialogregeln und um substantielle inhaltliche Antworten: "Jedes Sprechen mit und Lernen von anderen im Felde der Religionen hat es jeweils mit einem so eigenen Gegenüber zu tun, und das gilt gegenseitig, daß jedes historisch entstandene besondere Verhältnis auf spezifische Weise hermeneutisch und religionsdidaktisch gewürdigt werden muß" (2,390) Daß Pluralismus nicht nur ein externes, sondern auch ein innerprotestantisches Problem darstellt, mit dem pädagogisch und theologisch verantwortlich umzugehen ist, versteht sich für Nipkow von selbst. Für Theorie und Praxis einer zukunftsfähigen Schule sind beide Bände von Bedeutung: "Die Antwort auf den ethischen und weltanschaulich-religiösen Pluralismus muß auf der Basis einer zukunftsorientierten und pluralismusfähigen Schulphilosophie und kraft einer wirksamen Schulkultur von der ganzen Schule gegeben werden." (2,460) Es geht also um "die Gestaltung der Schule als Ort von Unterricht und Erfahrung, Lehre und Leben." (1,144) "Die schulische Aufgabe ethischer Erziehung und Bildung darf nicht auf den Ethikunterricht beschränkt bleiben, um dadurch die anderen Fächer in fataler Weise zu entlasten" (1,160). "Es hängt von der Schulleitung und dem Kollegium ab, sodann von der Beteiligung der Schülerschaft, Elternschaft und besonnenen Vertretern der Schulverwaltung, ob über den Ethik- und Religionsunterricht hinaus auch die anderen Unterrichtsfächer mit zunehmend zu fördernden fächerübergreifenden Projekten an der ethischen Erziehung und Bildung teilnehmen, getragen von einem gemeinsamen Konzept, einem "Schulprogramm", einer Philosophie der Einzelschule, durch die sie ein eigenes Gesicht erhält - plurale Schulentwicklung als Antwort auf plurale Herausforderungen, Pluralität als Chance, nicht als defensiv abgewehrte Gefahr." (1,289) "Wenn unsere Schule zu einer menschlicheren Bildung beitragen möchte, zu deren Signatur es gehört, konsequent und radikal zu fragen, muß sie ethische und religiöse Urteilsbildung fördern. Sie braucht ...beides, Philosophie-/Ethikunterricht und Religionsunterricht." (1,289) Im Streit um die angemessene schulische Realisierung tritt Nipkow mit der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1994, "Identität und Verständigung", für eine "Fächergruppe" ein, in welcher "der evangelische und katholische Religionsunterricht, der Unterricht in Ethik bzw. Praktischer Philosophie und ein islamischer Religionsunterricht miteinander kooperieren" (1,15). Ein letzter Hinweis, der die Leserinnen und Leser als Personen betrifft: Selten habe ich mich beim Lesen eines pädagogischen Werkes persönlich so stark involviert gefühlt. Wenn Nipkow z.B. im Kapitel über Christentum und Islam die Wahrheitsfrage behandelt, wird es ganz klar: Es ist unmöglich, nicht Stellung zu nehmen. (2,406ff "Charakter und Ebenen der Wahrheitsfrage") Der ganze Ernst des Pluralismusproblems wäre sofort deutlich, wenn in einem Lehrerzimmer jeder und jede seine bzw. ihre persönliche Überzeugung zu einigen alltäglichen Fragen offenbaren würde, etwa zur Integration von Ausländern, zum Umgang mit Gewalttätern oder zu einem islamischen Religionsunterricht, und wenn jeder und jede daraus ganz ehrlich die Konsequenzen zöge für die Aufgabe der Friedenserziehung und fürs persönliche Verhalten.

Wahrhaftig: Nipkows zweibändiges Werk ist nicht nur ein bedeutendes pädagogisches, es ist im besten Sinne ein "politisches Buch". Es gehört in jede Lehrerbücherei.

Gerhard Martin


Exemplarische Lebensläufe aus dem "Ländle"

Karl Moersch
Es gehet seltsam zu in Württemberg
Von außergewöhnlichen Ideen und Lebensläufen
DRW-Verlag Leinfelden-Echterdingen, 1998
296 Seiten mit 79 Abbildungen. DM 49,-

Karl Moersch schreibt dem Land Württemberg eine "bemerkenswerte historische Kontinuität" zu, deren Beginn im 16. Jahrhundert zu finden sei. Die Reformation, die er eine "große Revolution" nennt, habe allerdings nur für das alte, mit der Reformation evangelisch gewordene Herzogtum Württemberg, nicht jedoch für die katholischen Landesteile des vor knapp 200 Jahren entstandenen Königreiches Württemberg gegolten. Bis in unsere Zeit widmeten sich württembergische Geschichtsdarstellungen vorwiegend der altwürttembergischen Historie, die Geschichte Neuwürttembergs wurde eher am Rande behandelt. Umso erstaunlicher sei dies, als die Anfänge der demokratischen Bewegung und der republikanischen Idee - dabei erinnert er an 1848 - ohne reichsstädtische Wurzeln überhaupt nicht denkbar sei. Auch die Besonderheit des Bistums Rottenburg werde viel zu wenig berücksichtigt; das katholische Württemberg lasse sich mit den bayerischen und badischen Nachbarn nicht ohne Vorbehalt vergleichen.

Immer wieder verknüpft der Autor seine Ausführungen mit persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen, um die Bewertung zu erleichtern. Als gelernter Journalist hat er ein geübtes Auge für alles Bemerkenswerte. Anhand einiger Persönlichkeiten gibt Moersch beispielhaft Einblicke in die politische und kulturelle Entwicklung Württembergs. Die Lebensläufe, die Karl Moersch beschreibt, umfassen einen Zeitraum zwischen Reformation und dem 20. Jahrhundert und zeigen gleichzeitig die Verbindung zwischen Gegenwart und Geschichte. Die 15 ganz unterschiedlich langen Kapitel beginnen mit dem "pietistischen Erbe" Württembergs: mit Johannes Brenz, Johann Valentin Andreä, Johann Albrecht Bengel und

den Auswirkungen der Religion auf den Alltag in Württemberg bis ins 20. Jahrhundert.

Unter dem Titel "Als Württemberg den Teufel verabschiedete" berichtet Moersch über Bengels Urenkel Friedrich Gottlieb Süßkind, der theologisch bekannt wurde, weil er Friedrich von Württemberg - zunächst Großherzog, später König - bei der Modernisierung der evanglisch-lutherischen Landeskirche zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterstützte. Hierzu gehörte auch die Abänderung des Tauf-Ritus mit der Abschaffung der Frage an den Täufling, ob er dem Teufel widersage. Wegen seiner Meinung zum Ehestreit König Wilhelms I. ließ sich das gute Verhältnis Süßkinds mit dem nächsten Herrscher nicht fortsetzen.

Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 wurde sehr bald ein "neuer Pietismus" mit politischen Zielen zum vielleicht wichtigsten Machtfaktor im Staat, dessen Repräsentant Sixt Carl von Kapff war. Von 1850 bis zu seinem Tod 1879 sprach er, der sich berufen fühlte als "christlicher Bote aus Schwaben", entscheidend mit im Konsistorium und hatte im Landtag

auf der Bank der Prälaten Sitz und Stimme.

Ein Aufsatz über Ludwig Uhland, dem entschiedenen Anwalt alter württembergischer Rechte, schließt sich an. Moersch sieht in Uhlands Werk eine wichtige Wurzel des württembergischen Selbstbewußtseins. Im Vormärz und zur Zeit der Revolution von 1848/49 verbanden auch andere Männer Politik und Literatur: so Ludwig Pfau, Georg Herwegh, Wilhelm Zimmermann und Ludwig Seeger, dessen Leben im nächsten Kapitel beschrieben wird. Seeger war eng befreundet mit Hermann Kurz aus Reutlingen, dem Redakteur des "Hochwächter" Rudolf Lohbauer und kam auf politische Veränderung hoffend im Sommer 1848 nach mehrjährigem Schweiz-Aufenthalt nach Württemberg zurück. Lohbauers Bruder Adolph war als Jurist Mitbegründer der "Lebensversicherungs- und Ersparnisbank". Einige Jahre saßen beide Brüder gleichzeitig im Landtag. Neben ausführlichen Beschreibungen von Lebensläufen findet man auch kürzere Aufsätze wie den "Hinweis auf Karl August Fetzer", der ebenfalls Politik und Literatur in seiner Person verband.

Als entschiedener Verfechter einer republikanischen Staatsform setzte sich Gottlieb Rau neben politischen auch für soziale und wirtschaftliche Reformen ein. Im September 1848 versuchte er von Rottweil aus, in einem ähnlichen Marsch nach Stuttgart zu ziehen, wie dies gleichzeitig Gustav Struve in Südbaden tat. Ziel war das Cannstatter Volksfest, doch nach der Nachricht vom Scheitern Struves brach auch Rau seinen Zug ab. Er selbst büßte für sein revolutionäres Tun auf dem Hohen Asperg, wo zu jener Zeit viele Demokraten einsaßen. Karl Moersch knüpft an die Biographie Raus allgemeine Betrachtungen zur Revolution von 1848/49 in Württemberg an. Als durch die Revolution errungene Besonderheit führt er die Geschworenengerichte an, die bereits über die Revolutionäre zu Gericht saßen.

Den Sohn von Justinus Kerner, Theobald Kerner, stellt Moersch als "vorbestraften Hofrat" vor. Der 48er-Demokrat, dessen einer Pate Ludwig Uhland, dessen Mitschüler Ludwig Pfau und dessen späterer Freund Ferdinand Freiligrath waren, erzählte im hohen Alter von etwa 90 Jahren um die Jahrhundertwende dem jungen Theodor Heuß von den Ereignissen 1848/49. Dieser brachte später die Vorstellungen der 48er in das Grundgesetz ein. Parallel zur Geschichte Kerners schildert Moersch die weitere Entwicklung der Revolution.

Einziger Handwerker in der Paulskirche war der wortgewaltige Schlossermeister Ferdinand Nägele aus Murrhardt, den der Wahlkreis Backnang-Weinsberg entsandte. Bereits in jungen Jahren war er politisch interessiert gewesen und hatte sich 1829 an der Gründung des Murrhardter Liederkranzes beteiligt - auch dies eine politische Entscheidung, denn Gesangvereine und Turnvereine pflegten zu jener Zeit intensiv die politische Diskussion und pochten auf politische Freiheitsrechte. In den 1840er Jahren saß Nägele auch im Murrhardter Gemeinderat sowie im Stuttgarter Landtag und engagierte sich publizistisch. Er war jedoch nicht nur kritisch gegenüber der weltlichen Obrigkeit, sondern auch gegenüber der geistlichen.

Als den "anderen" Neurath bezeichnet Moersch den Ratgeber zweier Könige Konstantin von Neurath, da sein Enkel u.a. in den 1930er Jahren Reichsaußenminister war. Sowohl Wilhelm I. als auch König Karl hat Neurath als Ratgeber und Minister gedient und beide Male um seine Entlassung gebeten, als seine Vorstellungen von württembergischer Politik nicht genügend beachtet wurden. Dennoch blieb er bei beiden Königen angesehen. Obwohl er während der Hungersnot 1847 von Metternich in Wien eine Aufhebung des dortigen Ausfuhrverbotes für Lebensmittel erreichte, war er in der Öffentlichkeit weniger beliebt, weil das Außenministerium für die Zensur zuständig war.

Nach "außergewöhnlichen Ideen und Lebensläufen" aus der Religion und aus der Politik widmet sich Moersch wirtschaftlich herausragenden Biographien. Zunächst geht es um Ludwigsburg als "Hauptstadt der Cichoria". Der aus den Kolonien kommende Bohnenkaffee war zu teuer und wurde als Luxus angesehen. Johann Heinrich Franck brachte die Idee, Ersatzkaffee herzustellen, aus Frankreich mit und baute zunächst in Vaihingen jene Pflanzen an, die für die Cichorie-Produktion notwendig war. Besonders erfolgreich war Franck, weil er mit Schaffung eines ersten Markenartikels "ein Pioneer des modernen Marketing" war - ohne daß der Begriff damals bekannt war. Auch im Vertrieb der Waren war die später nach Ludwigsburg verlegte Firma äußerst innovativ.

Unter der Überschrift "Kerner, Dornfelder und ihre Namensgeber" informiert Moersch über württembergische Weine. So wurde der Kerner, als Kreuzung aus Trollinger und Riesling eine echt württembergische Züchtung, nach dem berühmten Dichter Justinus Kerner benannt, der viele Trinklieder und Weingedichte geschrieben hatte und dessen Name für Weinsberg stand. Vom selben Züchter wie der Kerner stammt auch der Dornfelder, ein Rotwein aus Heroldrebe und Helfensteiner, der seinen Namen von einem

königlich-württembergischen Verwaltungsbeamten erhielt, der die Weinbauschule in Weinsberg initiiert hatte.

Auch die im Jahr 1938 erfolgte Neuordnung der Verwaltungseinteilung in Württemberg mit der Umgestaltung von Oberämtern zu Kreisen führt Moersch als "außergewöhnliche Idee" an, hatten doch die alten Oberämter 121 Jahre unverändert bestanden und mehrfache Modernisierungsversuche waren gescheitert. Die Veränderungen des Jahres 1938 waren einschneidender als jene der Kreisreform 1972. Als Ergänzung zu den Veränderungen 1938 beschreibt Moersch die Verwaltungsentwicklung der Zeit ab der ersten württembergischen Verfassung 1819, dabei geht er vor allem auf den Großraum Ludwigsburg-Heilbronn ein.

"Nachkriegsträume, Nachkriegspläne und Nachkriegsrealitäten" schließen den Band ab. Ausgehend von der gegen die ehemaligen Staaten Baden und Württemberg gezogenen Grenzen der Besatzungszonen erläutert Moersch die verschiedenen Modelle südwestdeutscher Neugestaltung. Die interessanten Informationen über die unmittelbare Nachkriegszeit werden für viele Aktivitäten zum im Jahr 2002 bevorstehenden 50jährigen Landesjubiläum wichtig sein. Mit der Gründung Baden-Württembergs überträgt Moersch seinen Titel "Es gehet seltsam zu" auf den gesamten Südweststaat.

Insgesamt ist das Buch von Karl Moersch nicht einfach ein weiterer Beitrag zur langen Bibliographie zum 150. Jahrestag der Revolution von 1848/49, sondern ein wichtiges Werk mit detaillierter Analyse vieler Einzelbiographien aus Württemberg, die zum einen "im Land der Vettern und Basen" in Verbindung zueinander gestellt, zum andern mit Aspekten der Gegenwart verknüpft werden. Mit dem Buch zeigt Moersch deutlich auf, daß auch in Württemberg über die Jahrhunderte hinweg stets Menschen "aufmüpfig" waren und einen revolutionären Geist zeigten.

Angelika Hauser-Hauswirth


    Copyright ©   1999  LpB Baden-Württemberg   HOME

Kontakt / Vorschläge / Verbesserungen bitte an: lpb@lpb-bw.de