Zeitschrift Deutschland Ost - Trennung durch Vereinigung? Zwei politische Kulturen? |
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Wissenschaftliche und politische Unsicherheiten im Umgang
mit der deutschen Vereinigung
Von Martin und Sylvia Greiffenhagen Prof. Dr. Martin Greiffenhagen lehrte bis zu seiner Emeritierung Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart. Prof. Dr. Sylvia Greiffenhagen lehrt Politikwissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg. Auch einem breiteren Publikum bekannt geworden sind beide durch ihr Buch: "Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur im vereinigten Deutschland" (München 1993). "Wächst zusammen, was zusammengehört"?
Angemessener wären die Fragen: Welche Unterschiede
- oder Gemeinsamkeiten - gibt es auf welchen Gebieten? Werden
sie geringer oder weiten sie sich noch aus? Gibt es gar
Unterschiede, die sich erst durch die Vereinigung ergeben
haben? Weiter wäre zu fragen: Gibt es überhaupt
ein einheitliches Ganzes, von dem aus gemessen werden darf?
Antworten auf solche Fragen hängen ab von den wissenschaftlichen
Zugängen, aber auch von politischen Wertungen und Zielvorstellungen.
Der Vergleich von gestern und heute, hier und dort Politische Kulturforschung entsteht unter Bedingungen
gesellschaftlicher Umbrüche. Erst wenn die Verhältnisse
sich dramatisch ändern, wird der Blick frei für
den Vergleich von heute und gestern, von hier und dort.
Rascher gesellschaftlicher Wandel führt zum Streit
über die Verbindlichkeit überkommener Traditionen,
über die Fortgeltung ethischer Normen und bisher unbefragter
Erziehungsziele. Politische Kulturforschung ist in diesem
Sinne stets auch Krisenforschung. Die Frage nach der "Mauer in den Köpfen" löst auch heiße Diskussionen in der Wissenschaft aus Seit 1989 bietet die deutsche Vereinigung ein neues Experimentierfeld
für die politische Kulturforschung. Wieder ist es eine
Krise, wieder sind es Bedingungen raschen sozialen Wandels,
die zu Fragen zwingen: Stimmt es, dass der raschen und problemlosen
Angleichung der politischen Institutionen eine "innere Einheit"
noch nicht gefolgt ist? Gibt es eine "Mauer in den Köpfen"
zwischen Ost- und Westdeutschen? Handelt es sich gar um
zwei unterschiedliche politische Kulturen in einem Staat?
Und schlimmer: Wächst die politisch- kulturelle Distanz
zwischen beiden Bevölkerungsteilen vielleicht sogar
im Laufe und unter Bedingungen des Vereinigungsprozesses
selbst? Sind die Unterschiede nur "folkloristischer" Natur? Wir beginnen mit dem schon erwähnten politischen
bias. Ein Beispiel dafür liefert eine eklatante Differenz
in den Forschungsergebnissen der Konrad-Adenauer-Stiftung
auf der einen und den jüngeren Analysen von Elisabeth
Noelle-Neumann (1996) auf der anderen Seite: "Für
die einen ist bereits zu einem Gutteil zusammengewachsen,
was zusammengehört; für die andere trennen West
und Ost noch Welten." (Brunner/Walz 1998, 229). Wie
kommt es zu diesen Unterschieden? Hans-Joachim Veen
von der Konrad-Adenauer-Stiftung hält politische Einstellungs-
und Werthaltungskriterien, die zum Kernbestand der politischen
Kulturforschung gehören, im Blick auf Ost- und Westdeutsche
für unerheblich, wirft den mit solchen Faktoren arbeitenden
Wissenschaftlern antipluralistischen Gemeinschaftsmythos
vor und verweist auf kulturelle Unterschiede zwischen Nord-
und Süddeutschen, die immer bestanden hätten,
ohne dass deshalb eine gesellschaftliche und politische
Einheit der Bundesrepublik je in Frage gestellt sei. Max
Kaase und Petra Bauer-Kaase kritisieren diese
Sicht, welche ernsthafte politische Einstellungsunterschiede
zu regionalen Folklorismen herunterspiele: Politische Einschätzungen schlagen auf wissenschaftliche Diagnosen durch Solche durch Hoffnung oder Skepsis eingefärbten
Prognosen werden dadurch nicht einfacher einzuschätzen,
dass es sich bei ihnen teilweise um politischen Zweckoptimismus
bzw. Zweckpessismismus handelt: in einer durchaus achtbaren
Einschätzung der Wirkungen solcher Prognosen (Greiffenhagen
1997). Ihr wissenschaftlicher Aussagewert aber leidet beträchtlich
unter solchen Strategien, weil mindestens für den Laien
oft schwer erkennbar ist, welche theoretischen und methodischen
Verkürzungen und Einseitigkeiten ihnen jeweils dienen.
Wertewandel: ja oder nein? Als Beispiel dafür, wie stark politische Einschätzungen auf wissenschaftliche Diagnosen durchschlagen, resümieren wir die Auseinandersetzung von Thomas Gensicke mit zwei Theorien Elisabeth Noelle-Neumanns, dazu seinen eigenen Vermittlungsvorschlag: Gensicke (selber ein Vertreter der optimistischen Version einer eher problemlosen Vereinigung) kritisiert Noelle-Neumann mit ihrer Meinung, in der DDR habe jener Wertewandel nicht stattgefunden, der die Bundesrepublik in den 60er-Jahren erschüttert, die alten Tugenden und Werte außer Kraft gesetzt und die Westdeutschen "verweichlicht" hätte. Die Ostdeutschen könnten deshalb, "ausgestattet mit einer Art ,Kernigkeit', die die Westdeutschen in den 50ern noch besaßen, den Umbruch gut bewältigen". Im Unterschied zu den Ostdeutschen, die durch eine eigene Revolution das diktatorische Regime überwunden hätten, sei das politische Selbstbewusstsein der Westdeutschen durch die ständige Beschäftigung mit den deutschen Verbrechen in der Nazi-Zeit "gebrochen". Klages und Gensicke sind dagegen der Meinung, dass es der Wertewandel war, der auch in der DDR stattgefunden und den Aufstand in der DDR motiviert hat (Gensicke 1995, 134). Einerlei also, wie die Prognose für eine rasche oder längerwährende Vereinigung ausfällt, politische Einschätzungen und Strategien wollen bei allen wissenschaftlichen Ergebnissen mit berücksichtigt sein. Politische Kulturforschung ist nie unpolitisch, und dieser Einsicht gilt es, besonders bei einem sich so wissenschaftlich gebenden Umgang mit dem deutschen Vereinigungsproblem, zu berücksichtigen. Der politische Zweck des Vergleichs ist Angleichung Politische Kulturforschung lebt vom Vergleich. Dabei kreuzen sich verschiedene Vergleichsebenen und -dimensionen. Man vergleicht verschiedene politikgeschichtliche Phasen eines Volkes, um Einblicke in Wandlungsprozesse des politischen Bewusstseins zu bekommen. Gleichzeitig vergleicht man verschiedene nationale Kulturen. Zwischen beiden Vergleichen gibt es Querverbindungen, da auch nationale Vergleiche nur sinnvoll sind unter Berücksichtigung politikgeschichtlicher Faktoren. Es kommt auf diese Weise zu einer doppelten Verschränkung, und erst diese ermöglicht die Beschreibung der eigenen politischen Kultur: im Blick auf die eigene Geschichte und die Entwicklung anderer nationaler Kulturen (Greiffenhagen/Greiffenhagen 1997, 169 und dies. 2000). Der Vergleich zwischen den alten und den neuen Bundesländern bietet über die theoretischen und methodischen Probleme solcher aspektreichen Vergleichung hinaus besonders verwickelte Schwierigkeiten: Der politische Zweck dieser wissenschaftlichen Vergleichung ist Angleichung. Diese Angleichung steht unter dem Vorzeichen einer essentiellen Einheit, die historisch und ethnisch verbürgt ist. Worum es also geht und worum der Streit geht, ist das Maß an zeit- und regimebedingter Entfremdung und um die Zeitspanne, die zwei Teile eines Volkes benötigen, damit wieder zusammenwächst, was immer zusammengehörte. Oder sollte man überhaupt nicht von Zusammenwachsen, sondern lediglich einer wachsenden Erkenntnis sprechen: dass man nie getrennt war? Andere aus dem sowjetischen Block entlassene Bevölkerungen kennen dieses Problem nicht. Ihre politische Identitätsarbeit ist frei von der zusätzlichen Aufgabe einer Vergleichung und Angleichung mit einem anderen Volksteil. Diese Völker kennen auch nicht die der Vereinigung nachfolgenden Probleme liberaldemokratischer Vormundschaft, fragloser Einführung liberal-wirtschaftlicher Prinzipien und eines Elitenimports auf fast allen Gebieten. Die Konfrontation mit dem Liberalismus in Politik, Wirtschaft und auf der Werte-Ebene bleibt dort deshalb in gewisser Weise "abstrakt" und der Umbau ihrer politischen Kultur in Richtung Westen ihre eigene Aufgabe. Ihre nationale Identität wird dabei nicht in Frage gestellt, wenn man von ethnischen Konflikten absieht, die aber ihrerseits lang zurückliegende historische Wurzeln haben. "Innere Einheit" als Zentralbegriff?
In Deutschland hat dagegen der politikwissenschaftliche
Terminus "Vergleich"
immer auch einen politischen Akzent. Alle
Vergleiche der beiden Bevölkerungsteile
stehen unter der meist auch ausgesprochenen
Frage, unter welchen Bedingungen und innerhalb welchen Zeitrahmens
man auf politische Angleichung hoffen
kann. Das zeigt sich schon in der Wortwahl
für diesen Prozess:
Wie immer der Vereinigungsprozess genannt
wird, die große Mehrheit der wissenschaftlichen
Diagnostiker sind sich darin einig,
dass von einem Abschluss dieses
Prozesses noch nicht die Rede sein kann,
und schlimmer: dass sich seit Jahren Tendenzen
einer neuerlichen Entfremdung
zeigen. Da ist die Rede von einer "Mauer in
den Köpfen" (Greiffenhagen/Greiffenhagen
1993, 369 ff), da trifft man auf die Frage,
"ob die Gefahr der Desintegration besteht
und Deutschland eingereiht werden
muss in die Reihe der "zerrissenen Länder",
die kulturell geteilt sind und nie zur Ruhe
kommen." (Liebig/Wegener 1999, 263 f).
Das Beunruhigende an diesen Einschätzungen
ist die von allen Forschern bestätigte
Beobachtung, dass die Kluft zwischen Ostdeutschen
und Westdeutschen sich seit Jahren
vertieft. Dabei handelt es sich um eine
auf den ersten Blick paradoxe Entwicklung.
Da der Vergleichsmaßstab, nach dem die
Ostdeutschen ihre Situation beurteilten, innerhalb
weniger Jahre wechselte und nun
die Verhältnisse der alten Bundesrepublik
statt der alten DDR die neuen Kriterien zur
Beurteilung der gegenwärtigen Lage lieferten
(Gabriel 1997 b, 23), empfanden sich
viele Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse
(Brunner/Walz 1998, 231 ff) und stärker als
Ostdeutsche denn als Deutsche. Peter
Schmitt (1998, 279 f) resümiert:
Bevor wir uns den Diskussionen über einzelne
Ursachenzuschreibungen und ihre
theoretischen und methodischen Voraussetzungen
zuwenden, berichten wir noch
über Prognosen, die im Blick auf den Zeitrahmen
einer wirtschaftlichen Angleichung
ins Auge gefasst werden, von dem
man vermuten muss, dass er eine Ursache
für das mentale Auseinanderdriften der
beiden Bevölkerungsteile ist.
Wir kommen nun zu den unterschiedlichen
Theorien und Methoden, mit deren
Hilfe der Transitionsprozess mit seinen Ursachen
und Bedingungen, mit unterschiedlichen
Verlaufsphasen und Perspektiven,
erklärt und dargestellt wird. Hier
kann es sich, wie gesagt, nur um eine beispielhafte
Darstellung handeln, die für
sich selbst wenig Wert hat, sondern vornehmlich
dem Ziel dient, die Komplexität
und Widersprüchlichkeit des wissenschaftlichen
Szenarios zu veranschaulichen. Die deutschdeutschen Transitionsprozesse
haben bereits zu einer eigenen
Forschungsgeschichte geführt, die
Alexander Thumfart in seiner Habilitationsschrift
(2000) ausführlich referiert. Diese als Königsweg zur Integration Ostdeutschlands
geltende Modernisierung
hat in Theorie und Praxis aber offenbar
selber zu Desintegrationsprozessen geführt
und Tendenzen zu einer "dualistischen
Gesellschaft" gefördert. Ihre Kritik
führte zu einer Ausweitung methodisch-heuristischer
Konzepte und "zu einer
massiven Umorientierung im forschungsleitenden
Zugang. Den entscheidenden
(ersten) Schritt stellte dabei die Ergänzung
eines rein auf institutionell-organisatorische
Strukturen gerichteten Blicks
durch die Aufblendung einer politisch-kulturellen
Dimension dar" (Ebd. 21). Dabei
erfuhren die Forscher auf Schritt und
Tritt, dass westliche Ableitungs- und Zuschreibungsmuster
auf ostdeutsche Mentalitäten
nicht anzuwenden sind. So versagte
z. B. im Einstellungsfeld sozialer
Gleichheit und Gerechtigkeit das westlich
geprägte Analyse- und Interpretationsinstrumentarium.
Ostdeutsche Einstellungen
erschienen dem westdeutschen Forscher
auf den ersten Blick als diffus, auch
mit früheren westdeutschen Phasen nicht
vergleichbar. Die Politikgeschichte der
DDR hat im Blick auf das Feld des Sozialen
offenbar eigene Profile hinterlassen, die
man hinsichtlich der unterschiedlichen
Generationen, Bildungsgruppen, Berufe
und Schichten erforschen muss. Ähnliches
gilt für das Maß an sozialem Vertrauen,
das innerhalb liberaldemokratischer Bevölkerungen
zusammen mit Ich-Stärke
und Teamgeist eine gut fassbare Kategorie
abgibt, in Ostdeutschland jedoch nicht
ohne weiteres zu ermitteln ist. Soweit
man sieht, zerfiel soziales Vertrauen bei
den Ostdeutschen in zwei nicht ohne weiteres
vermittelte Teile: auf der einen Seite
eine ausgeprägte praktische Hilfsbereitschaft,
auf der anderen Seite eine große
Zurückhaltung bei der Erörterung weltanschaulicher
und politischer Fragen. Was
den Teamgeist angeht, so entsprach das
sozialistische "Kollektiv" nicht dem west-europäisch-
nordamerikanischen Modell
von "Team", das eine stärker individualistische
und konfliktorientierte Vorstellung
von Kooperation einschließt (Greiffenhagen/
Greiffenhagen 1997, 188).
Worauf es ankam, war somit die Aufgabe,
die "Endogenität" von Einflussfaktoren
zu akzeptieren (Thumfart 2000, 865 ff).
Das bedeutete auch Veränderungen des
methodischen Zugriffs. Nicht nur aus Mangel an zuverlässigen Zeitreihen
und
überhaupt Ergebnissen der Umfrageforschung,
sondern aus grundsätzlichen
theoretischen Überlegungen gerieten
neue Disziplinen in den Blickkreis dieser
politischen Vergleichsforschung. Teilweise
ergab sich diese Hinwendung zu historisch-
hermeneutischen Ansätzen (Thumfart
2000, 33 ff) aus den Erfahrungen der
Unbrauchbarkeit westeuropäischer Methoden,
z. B. der ahistorischen rational-choice-
Methode. Sie ist ungeeignet, regionale
Eigenheiten in die Analyse mit
einzubeziehen (ebd. 866). Aber auch ohne
solche negativen Erfahrungen öffnete
sich das Spektrum wissenschaftlicher Zugangsweisen
erheblich. Auf diese Weise
kamen Ansätze der politischen Kulturforschung
zum Tragen, die es bis dahin
schwer hatten, sich gegen die Umfrageforschung
zu behaupten. Statt der unbefragten
Vorrangigkeit aktueller Einstellungen
wurden nun historisch tief
verankerte Vorstellungen wichtig, die
kurzfristige Einstellungen überhaupt erst
verstehbar machen. Karl Rohe spricht in
dieser Hinsicht von einer Art politischer
Partitur, einem Weltbild von Gruppen, die
denselben politischen Code und in der
Folge vielleicht auch dasselbe Verhaltensmuster
teilen (Rohe 1990 und 1994).
Bekannt und forschungsstrategisch relevant
ist die Unterscheidung zwischen den
Aspekten "Sozialisation" und "Situation".
Dabei handelt es sich nicht nur um
theoretisch und methodisch unterschiedliche
Forschungsansätze, sondern zugleich
um forschungsgeschichtlich neue
Schwerpunkte im Umgang mit dem Vereinigungsproblem.
Inzwischen ergänzen
die beiden Theorien einander, nach Ausdifferenzierungen
auf jeder Seite. Wir
schildern zunächst die Grundpositionen
und geben dann Beispiele für Verfeinerungen
und Modifikationen:
Wie subtil solche Untersuchungen sind, zeigt die sich nicht zuletzt im Wege dieser Forschungen selbst ausdifferenzierende neue Disziplin der so genannten "Zeitsoziologie". Gesellschaften unterscheiden sich danach erheblich durch verschiedene Zeitverständnisse: . Das okkasionelle Zeitbewusstsein richtet sich ausschließlich auf die Gegenwart des Hier und Jetzt. Vergangenheit und Zukunft haben keine Bedeutung, das Handeln wird so strukturiert, dass lediglich dessen aktuelles Moment berücksichtigt wird.
Ostdeutsche Zukunftsvorstellungen waren durch Vorhersehbarkeit, Fremdbestimmung und Fortschreibung der Gegenwart geprägt. Den Gegenpol bildet die westdeutsche individuelle Suche nach neuen Zukunftshorizonten, an denen sich konkrete Handlungsabsichten orientieren. Einstellungsforschungen zeigen, in welchem Maße unterschiedliche Generationen Ostdeutscher einem linear geschlossenen bzw. einen zyklischen Zeitbewusstsein anhängen (das seinerseits mit niedriger Lebenszufriedenheit und pessimistischen Zukunftserwartungen korreliert) oder sich bereits einem linear offenen Zeitbewusstsein geöffnet haben (Häder 1996). Je nach der Stärke solcher biografischer Prägungen lassen sich dann Prognosen unter den Kriterien wie "Fatalismus", "Dezisionismus" oder "Kompromissfähigkeit" entwickeln (Greiffenhagen 1999, 118 ff). Aus der Situation heraus als "Bürger zweiter Klasse" empfundenUnter dem Erklärungsdruck einer seit Mitte der 90er-Jahre sich öffnenden Schere ost- und westdeutscher Mentalitäten und einer damit einhergehenden gegenseitigen Schuldzuweisung dafür verstärkte sich der Einfluss der "Situationstheorie". An Stelle der mit der Sozialisationstheorie einhergehenden Persistenzvermutung erklärt sie die wachsende Selbstidentifikation der Ostdeutschen, verbunden mit einer gewissen nostalgischen Verklärung der DDR-Verhältnisse, aus situativen Erfahrungen während des Vereinigungsprozesses selbst. Die zunehmende "Selbstkategorisierung als Ostdeutsche" hat unterschiedliche Quellen: ökonomische Differenzen, Arbeitslosigkeit, persönliche Erfahrungen mit "Besserwessis" etc. Als Hauptnenner dieser Deklassierungserfahrungen erscheint immer mehr die wachsende Zustimmung zu der in Interviews formulierten Frage, ob man sich als "Bürger zweiter Klasse" fühle (Brunner/Walz 1998, Greiffenhagen, M. u. S. 1993 und 1997). Das Resultat von Vergessen und ErinnernMehr noch als bei der Sozialisationstheorie
muss man bei der Situationstheorie davor
auf der Hut sein, sich nicht bedenkenlos einer ihrer vielen Ausformulierungen
auszuliefern. Was alles in die Rechnung
eingehen muss, das ist inzwischen nicht
nur kontrovers geworden, sondern nur
noch für Fachleute überschaubar. Detlef
Pollack ist deshalb nachdrücklich zuzustimmen,
wenn er bei dem Forschungsobjekt
"Deutsche Vereinigung" von einem
"multidimensionalen Gebilde" spricht:
Damit ist evident, dass die Verbindung
zwischen "Struktur" und "Kultur" prekär
ist und ständiger Ausdeutung unterliegt.
Die wirtschaftsbezogenen Wahrnehmungen
"politisieren" sich zunehmend,
d. h. sie können sich von strukturellen
Daten des Haushaltsnettoeinkommens
oder der allgemeinen Wirtschaftslage teilweise
stark entfernen (Brunner/Walz 1998,
242 ff).
So verwickelt die Forschungsstrategien
für eine Diagnose des Vereinigungsprozesses
sind, so verschieden fallen die
Prognosen aus. Das gilt für theoretische
Versuchsanordnungen ebenso wie für
politische Strategien. Ein sprechendes
Beispiel für einen tief greifenden Unterschied
im theoretischen Zugang beschreibt
Hans W. Bierhoff. Die vergleichende
Kulturpsychologie unterscheidet
im Blick auf Ost- West-Vergleiche einen
monokulturellen Ansatz, der universelle
Gemeinsamkeiten betont und von einer
gemeinsamen Grundgesamtheit ausgeht,
von der Hypothese zweier unabhängiger
Grundgesamtheiten, die sich strukturell
prinzipiell unterscheiden (Bierhoff 1999,
45 f). Kein Wunder, dass die beiden Ansätze
unterschiedliche Ergebnisse und
Prognosen zur Folge haben.
Die Folgerungen, welche die politische
Kulturforschung ebenso wie die praktische
Politik aus dieser so unsicheren diagnostischen
Lage ziehen sollten, ist dieselbe:
Offenheit gegenüber neuen Erkenntnissen
bzw. neuen Strategien.
Unterschiedliche Akkulturationsergebnisse
führen zu unterschiedlichen "Anpassungsformen
an die andere Kultur aufgrund von eigener kultureller Identität
einerseits
und Interaktionspräferenz mit
den Angehörigen der anderen Kultur
oder Gruppe andererseits ." (Trommsdorff
1999, 316) Dabei empfiehlt sich eine
Verstärkung des sich in den letzten Jahren
ankündigenden "ethnologischen Umgangs"
miteinander. Die Ethnologie wusste
immer schon zwischen endogenen und
exogenen Effekten zu unterscheiden und
Integrationsprozessen als solchen eigene
ursächliche Wirkungen zuzuschreiben.
Eine verstärkte Aufmerksamkeit dafür
scheint sowohl theoretisch wie politisch
geboten. Das bedeutet eine stärkere
Berücksichtigung endogener ostdeutscher
Prämissen und Eigenständigkeiten
im Vereinigungsprozess selbst. Die Prävalenz
Westdeutschlands hatte zu Dominanzen
geführt, die im Theoretischen
die Gefahr verengter Blickweisen und
im Politischen dysfunktionale Resultate
mit sich brachten. Alexander Thumfart
tritt für eine solche Änderung des Blickwinkels
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