Zeitschrift 

Der Sozialstaat in der Diskussion

 

Heft 4 / 2003

Hrsg.: LpB

 

Inhaltsverzeichnis

  Zukunfts- und gerechtigkeitsorientierte Beschäftigungsstrategien
 

Arbeitsmarkt, Beschäftigungspolitik und soziale Gerechtigkeit

Von Wolfgang Merkel

Prof. Dr. Wolfgang Merkel hatte von 1994 bis 1999 eine Professur für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Mainz inne. 1999 wurde er auf eine Professur für Politische Wissenschaft an die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg berufen. Ab 2004 wird Wolfgang Merkel Direktor der Abteilung "Demokratie: Strukturen, Herausforderungen, Leistungsprofile" am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte sind: 
Demokratieforschung, Systemtransformation, Parteienforschung, vergleichende Analysen zur Regierungspolitik sozialdemokratischer Regierungen in Europa, Soziale Gerechtigkeit und Europäische Integration.

Die Beschaffung von Arbeit, die Verlängerung der Lebensarbeitszeit bei gleichzeitiger Flexibilisierung und die sozialverträgliche Deregulierung der Arbeitsmärkte sind wesentliche Diskussionspunkte der aktuellen Debatte. Wolfgang Merkel legt in seinem Beitrag eine umfassende Zwischenbilanz dieser Diskussion vor. In einer so genannten Gerechtigkeitsbilanz, die im internationalen Vergleich für die Jahre 1990 bis 2000 vorgenommen wird, schneidet die Bundesrepublik Deutschland nur mäßig ab. Nimmt man eine differenzierte Beschäftigungsbilanz im internationalen Vergleich noch dazu, werden die Defizite der Beschäftigungspolitik offenkundig. Die Ergebnisse beider Bilanzen münden in Vorschläge, wie eine zukünftige Beschäftigungspolitik, die die soziale Balance wahrt, aussehen könnte. Ein besonderes Augenmerk wird hierbei auf deregulierende Maßnahmen in folgenden Bereichen gerichtet: Einstellungs- und Kündigungskosten, Lohn- und Arbeitszeitflexibilität, Bildung und Ausbildung sowie Zuwanderung von Arbeitskräften. 

Red.


Geht uns wirklich die Arbeit aus?

Als in der ersten Hälfte der 70er-Jahre Währungsturbulenzen und der erste Ölpreisschock die Weltwirtschaft erschütterten, zerbrach der kapitalistische Traum "immerwährender Prosperität". Dramatisch sinkende Wachstumsraten bei gleichzeitiger Inflation und wachsender Arbeitslosigkeit schienen das Konzept der Globalsteuerung von John Maynard Keynes zu entwerten. Das keynesianisch- sozialdemokratische Konzept Vollbeschäftigung über die fiskalisch stimulierte Steuerung der aggregierten Nachfrage herzustellen, wurde obsolet. Der letzte historische Großversuch, Beschäftigung und soziale Wohlfahrt auf diese Weise zu garantieren, scheiterte. Die Europäisierung der Güter- und die Internationalisierung der Kapitalmärkte zwangen 1982 Francois Mitterand zum raschen Abbruch seines links-keynesianischen "Experimentes". Vollbeschäftigung schien der Vergangenheit, den nun im Nachhinein als "golden" bezeichneten Jahren des Kapitalismus (1960-1974) anzugehören.1

Wie so oft setzte die wirtschaftliche Krise die soziologische Fantasie frei. Das "Ende der Arbeitsgesellschaft" wurde ausgerufen. Der hastig erfundene, aber dennoch mit säkularem Anspruch auftretende Slogan, der "Arbeitsgesellschaft gehe die Arbeit aus"2, machte Karriere. André Gorz avancierte mit dünner Theorie und eigenwilliger Empirie zum Guru der Nacharbeitsgesellschaft und animierte grün-alternative Politiker, das erwerbsunabhängige Grundeinkommen als "linken" Ausweg aus der Krise zu propagieren. Die von Karl Marx entworfene Utopie eines postkapitalistischen Reiches der Freiheit, in der "jeder nach seinen Bedürfnissen" arbeiten oder nicht arbeiten, Jäger, Fischer oder kritischer Kritiker sein darf, sollte inmitten eines sich globalisierenden Kapitalismus verwirklicht werden. Marx hätte wohl als erster über diese theoriearme und realitätsfremde Naivität gespottet. Die Wirklichkeit der kapitalistischen Entwicklung, der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung und der politischen Programme hat die Idee weitgehend aus dem politischen wie wirtschaftlichen Diskurs verdrängt. Daniel Cohens jüngstes Buch "Unsere modernen Zeiten" (2001) trägt in der deutschen Übersetzung nicht zu Unrecht den Untertitel "Fehldiagnose: Ende der Arbeit". Denn der enorme Produktivitätszuwachs bedeute nicht das "Ende der Arbeit", sondern vielmehr einen extensiveren Zugriff der Arbeit auf die gut ausgebildeten Menschen, während der andere, schlecht ausgebildete Bevölkerungsteil aus der Erwerbsarbeit gedrängt und gesellschaftlich marginalisiert werde. Es gelte also, über die Verbesserung der Arbeitsmarktintegration, die soziale Inklusion und die größere Wahlfreiheit der Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt nachzudenken. Dazu gehören auch die Fragen der "Auszeit", des leichteren Aus- und Wiedereintritts in den Arbeitsmarkt, "Sabbat-" und Familienjahre oder eine flexiblere Bestimmung der Lebensarbeitszeit.

Spätestens in den 90er-Jahren rückte in Wissenschaft und Politik nicht mehr die Befreiung von der Arbeit, sondern deren Beschaffung und moderne Regulierung wieder ins Blickfeld. Nicht die Verkürzung der Lebensarbeitszeit, sondern deren Verlängerung bei gleichzeitiger Flexibilisierung, nicht die Regulierung, sondern die sozialverträgliche Deregulierung der Arbeitsmärkte beginnt nun auch, die deutsche Debatte zunehmend zu prägen. Grund genug, eine Zwischenbilanz dieser Diskussion vorzulegen.3

 

Die Bedeutung der Erwerbstätigkeit

Arbeitslosigkeit ist nicht nur ein ökonomisches Problem, das allein durch großzügige Transferzahlungen zu lösen ist. Es ist vor allem eine ethische Herausforderung (Kersting 2000, 81; Sen 2000). Denn Arbeitslosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit zumal, beschädigt die individuelle Autonomie, führt zu einer Verletzung des Selbstwertgefühls und in der Regel auch zu nicht mehr auszugleichenden Nachteilen bei der Wahrnehmung zukünftiger Lebenschancen. Solange in den entwickelten Gesellschaften nicht nur Einkommen, sondern auch Status, Selbstwertgefühl und soziale Zugehörigkeit primär über die Erwerbsarbeit verteilt werden, muss der Inklusion in den Arbeitsmarkt die besondere politische Aufmerksamkeit gelten. Überzeugend argumentiert Amartya Sen, dass auch eine großzügige sozialstaatliche Kompensation die negativen Folgen der Arbeitslosigkeit nicht annähernd ausgleichen oder gar verhindern kann. Sen (vgl. Sen 1998, 19ff.; Sen 2000) kann auch empirisch nachweisen, dass Arbeitslosigkeit zu sozialer Ausgrenzung, einer dramatischen Abnahme der individuellen Entscheidungsfreiheit und zu Langzeitschäden durch den Verlust von Fertigkeiten, kognitiven Fähigkeiten und Motivation führt. Sie vermehrt psychisches Leid durch gesellschaftliche Diskriminierung und provoziert höhere Krankheits- und Sterblichkeitsraten. Arbeitslosigkeit beschleunigt den Verlust menschlicher Bindungen und gefährdet den Zusammenhalt in der Familie. Sie verschärft ethnische und geschlechtliche Ungleichheit, da Frauen und ethnische Minderheiten stets überproportional von der Arbeitslosigkeit betroffen sind.

Ein Sozialstaat, der über Grundeinkommen, großzügige Sozialhilfen und locker definierte Zumutbarkeitskriterien die Nichtaufnahme von Erwerbsarbeit ermöglicht oder dazu anreizt und gleichzeitig durch vermeintlich soziale Regulierungen den Arbeitsmarkt gegenüber den Outsiders abriegelt, muss aus dieser Perspektive als ungerecht angesehen werden. Soziale Sicherungsstandards müssen deshalb dort, wo sie die Dynamisierung der Arbeitsmärkte schwächen und den Eintritt in die Erwerbsarbeit behindern und damit Langzeitarbeitslosigkeit erzeugen, auf ihre Kompatibilität mit den Erfordernissen dynamischer Arbeitsmärkte und gesellschaftlicher Einbindung überprüft und gegebenenfalls reformiert werden. Dies gilt nicht nur aus Gründen der ökonomischen Effizienz, sondern vor allem auch der sozialen Gerechtigkeit.

Argumentiert man mit der zentralen Bedeutung der Erwerbsarbeit für die Inklusion in hoch entwickelte "kapitalistische" Gesellschaften, wird man unter gerechtigkeitstheoretischen Gesichtspunkten der arbeitsmarktpolitischen Bilanz eines Landes besondere Bedeutung zumessen müssen. In einer Analyse zur sozialen Gerechtigkeit unter den OECD-Ländern lässt sich die Position der Bundesrepublik aus vergleichender Perspektive näher bestimmen.

 

Soziale Gerechtigkeit im internationalen Vergleich 1990-2000 

Zur Analyse des Zustands sozialer Gerechtigkeit für ganze Gesellschaften lassen sich Indikatoren auf folgenden fünf Dimensionen heranziehen: der Armutsforschung, der Bildung, des Arbeitsmarktes, der Sozialstaatsausgaben sowie der Einkommensverteilung. Insbesondere in die Bereiche Armut, Bildung und Arbeitsmarkt können dabei auch Indikatoren zur Erfassung der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und Generationen integriert werden. Ein Vergleich von 17 OECD-Staaten zeigt Deutschland bei einer solchen gerechtigkeitstheoretischen Gesamtschau auf einem mittleren zehnten Platz im Gesamtranking (Merkel 2001).4 Positiv zu bewerten ist dabei die relativ geringe Armutsquote Deutschlands im internationalen Vergleich. Die Sozialausgaben sind überdurchschnittlich hoch, die Ausgaben für die Alterssicherung zählen mit jenen Frankreichs zu den höchsten im gesamten OECD-Bereich. Die Spreizung der Einkommensverteilung ist in Deutschland unterdurchschnittlich, und Einkommensdifferenzen sind geringer als in den meisten entwickelten Staaten Europas, Nordamerikas und Asiens. Soweit die guten Nachrichten. Die schlechten Nachrichten sind: Deutschland liegt im untersten Viertel der OECD-Staaten bei den öffentlichen Bildungsausgaben (vgl. Schmidt 2002, 4) und weist eine schlechte Bilanz auf dem Arbeitsmarkt auf. Der gerechtigkeitstheoretische "Skandal" ist, aus der Perspektive des internationalen Vergleichs, weniger die Einkommensverteilung als die seit zwei Jahrzehnten anhaltend schlechte Beschäftigungsbilanz in Deutschland.

Geprägt durch den Bismarckschen Sozialversicherungsstaat, eine starke Regulierung des Arbeitsmarktes und eine hohe Abgabenbelastung des Faktors Arbeit, weisen die kontinentaleuropäischen Staaten im Allgemeinen und die Bundesrepublik Deutschland im Besonderen eine vergleichsweise niedrige Inklusion in den Arbeitsmarkt auf. Die Erwerbsquoten, insbesondere die Frauenbeschäftigungsquote, liegen nicht nur unter jenen Skandinaviens, sondern auch deutlich unter denen Großbritanniens und der USA. Die Arbeitslosigkeit und insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit ist in Deutschland wesentlich höher als in den skandinavischen und angelsächsischen Ländern, aber auch höher als in Österreich und den Niederlanden (OECD 2001).

 

Tabelle 1: Die westlichen Industrienationen im Ranking Sozialer Gerechtigkeit (gewichtet)

  Armut
(5)
Bildung 
(4) 
Arbeits-
markt (3)
Sozial-
staat (2)
Einkommens-
verteilung 
Multi-
plikator-
summe(1) 
Finnland 75 64 28,1 32 17 216,1
Norwegen 65 68 45 24 13 215,0
Dänemark 55 58 40 30 12 195,5
Schweden 42,5 58 42,8 34 14 191,3
Belgien 85 34 14,3 22 16 171,3
Österreich 60 42 34,5 18 15 169,5
Frankreich 50 48 19,5 26   8 151,5
Niederlande 70 16 19,5 28 10 143,5
Schweiz 42,5 42 43,9   8   5 141,4
Deutschland 80   4 23,3 20 11 138,3
Kanada 20 52 33,4   6   9 120,4
USA   5 34 40,9   4   1   84,9
Großbritannien 10 24 27,8 14   2   77,8
Spanien 35 16   7,5 12   6   76,5
Italien 30 16   6 16   7   75,0
Irland 25 28   9 10   3   75,0
Australien 15   8 25,5   2   4   54,5

Anmerkungen: Die Werte in Klammern geben die Multiplikatoren an, d.h. die jeweiligen Werte ergeben sich aus der Gewichtung des Rangplatzes mit dem jeweiligen Multiplikator.

 

Beschäftigungsbilanz im internationalen Vergleich 1990-2000

Um jedoch eine differenziertere Arbeitsmarktbilanz zu erstellen, sollen für den Zeitraum von 1990 bis 2000 folgende Indikatoren berücksichtigt werden: (1.) die allgemeine Erwerbsquote, (2.) die Frauenerwerbsquote, (3.) die Arbeitslosenquote, (4.) die Langzeitarbeitslosenquote und (5.) die Frauenarbeitslosenquote, (6.) die Jugendarbeitslosenquote sowie (7.) die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik

 

Erwerbsquote und Frauenerwerbsquote

Sowohl bei der allgemeinen Beschäftigungsquote als auch bei der Frauenbeschäftigung liegt Deutschland unter 20 OECD-Staaten jeweils nur auf dem 13. Rang. Bei der Frauenerwerbsquote rangieren nur die katholischen Länder Europas hinter Deutschland. Dort prägt noch ein stark katholisch-traditionalistisches Frauenbild die Arbeitsmärkte. In Deutschland sind die Frauen nach wie vor wirtschaftlich stärker vom Einkommen ihrer Ehepartner abhängig als in allen skandinavischen und angelsächsischen Ländern - nimmt man das katholische Irland aus. Frauenbeschäftigung ist in hohem Maße mit Teilzeitarbeit verknüpft. In Deutschland, in dem stärker als in der Mehrzahl der OECD-Staaten das traditionelle Normalarbeitsverhältnis dominiert, waren 1998 19,6 Prozent aller abhängigen Erwerbstätigen teilzeitbeschäftigt. Nur 4,9 Prozent der Männer, aber 38,1 Prozent der Frauen unter den Beschäftigten gingen einer Teilzeitarbeit nach (vgl. Alber 2000, 542f.). Sowohl bei der allgemeinen Beschäftigungsquote als auch bei der Frauenerwerbstätigkeit weist die Bundesrepublik ein christdemokratisch-konservatives Beschäftigungsprofil auf.

 

Arbeitslosenquoten

Auch bei der Arbeitslosenquote findet sich Deutschland in der hinteren Hälfte der OECD-Welt, nämlich auf dem 13. Platz wieder. Es fällt auf, dass es vor allem die traditionellen kontinentalen Sozialversicherungsstaaten wie Belgien, Deutschland und Frankreich sind, welche die Plätze im letzten Drittel belegen. Natürlich stellt Deutschland mit der Wiedervereinigung einen besonderen Fall dar. Die Sonderbelastungen sind erheblich. Sie wurden aus arbeitsmarktpolitischer Perspektive noch "belastender", da Teile der Finanzierung der deutschen Einheit über die Sozialversicherungskassen abgewickelt wurden. Aber über diese Sonderlasten hinaus ist es nicht zuletzt die Finanzierungsstruktur des Sozialstaates durch die auf die Arbeitseinkommen entrichteten Sozialbeiträge, die das Beschäftigungswachstum in Deutschland behindern (Esping-Andersen 1996, 1999; Scharpf 2000; Merkel 2001). Im Durchschnitt machen die Sozialbeiträge in den kontinentalen Wohlfahrtsstaaten Bismarckscher Prägung 16,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus, während diese Quote in den skandinavischen und angelsächsischen Ländern nur bei zehn Prozent bzw. vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegt. Die hohe Abgabenbelastung trifft dabei weniger die Ausdehnungsfähigkeit der qualifizierten und hoch qualifizierten Berufe. Sie lastet vielmehr vor allem auf den Dienstleistungsjobs im gering qualifizierten und wenig produktiven Bereich. Aber gerade hier läge ein erhebliches Beschäftigungspotenzial für die von gesellschaftlicher Ausgrenzung bedrohten Modernisierungsverlierer und einem Großteil der Langzeitarbeitslosen. Esping-Andersen (1999) und Fritz Scharpf (2000) sprechen deshalb mit guten empirischen Gründen von einer Arbeitslosigkeitsfalle der kontinentaleuropäischen Sozialversicherungsstaaten.

Noch schlechter als bei den allgemeinen Arbeitslosenquoten schneidet Deutschland im internationalen Vergleich bei der Frauen- und Langzeitarbeitslosigkeit ab. Bei Ersterem nimmt die Bundesrepublik den 14. Rang, bei Letzterem gar nur den 16. Rang ein. Dies weist auf eine erhebliche Segmentierung des Arbeitsmarktes in Insiders und Outsiders hin. Die besonders Geschädigten unter den Outsiders sind Frauen und Langzeitarbeitslose. Produziert wird diese Segmentierung auch durch die spezifische Art der Arbeitsmarktregulierung in Deutschland, Frankreich, Belgien und den meisten südeuropäischen Ländern. Wenn es einen Trade off zwischen der Regulierung der Arbeitsmärkte und den Arbeitslosenquoten, also zwischen "Schutz" und "Dynamik" geben sollte, wovon die überwiegende Mehrheit der Arbeitsmarktforscher ausgeht, muss vor dem Hintergrund der Insider-Outsider-Problematik erneut über eine sozial gerechte Balance zwischen intelligenter, sozialverträglicher Deregulierung für die Insider und den Jobchancen für Outsider nachgedacht werden. Ein Beharren auf der Arbeitsmarktregulierung "so wie sie ist", droht in Verbindung mit der Steuergesetzgebung (Haushalts- anstelle von Individualbesteuerung) und Sozialstaatsfinanzierung einseitig zu Lasten der Frauen und Langzeitarbeitslosen zu gehen.

 

Tabelle 2: Gesamtranking der Beschäftigungspolitik

  Gesamt  Erwerbsquote  Frauen-
erwerbsquote
Arbeits-
losigkeit
Norwegen   0,83   1,31   1,32   1,09
Dänemark   0,83   1,18   1,2   0,51
Schweiz   0,71   1,50   0,97   1,33
Schweden   0,69   0,99   1,35   0,11
USA   0,44   0,74   0,68   0,84
Niederlande   0,28  -0,07  -0,26   0,77
Neuseeland   0,21   0,42   0,29   0,23
Kanada   0,19   0,45   0,49  -0,21
Österreich   0,10  -0,29  0,31   0,77
Großbritannien   0, 09   0,61   0,37   0,29
Finnland   0,06   0,11   0,72  -0,84
Deutschland  -0,07  -0,29  -0,31  -0,27
Australien  -0,08   0,03  -0,16   0,03
Portugal  -0,11  -0,57  -0,47   0,63
Frankreich  -0,54  -0,96  -0,56  -1,09
Belgien  -0,68  -1,60  -1,27  -0,3
Griechenland  -1,35  -1,86  -2,02  -0,77
Spanien  -1,61  -1,70  2,03  -3,11

 

  Langzeit- arbeits-
losigkeit 
Frauen- arbeits-
losigkeit 
Jugend- arbeits-
losigkeit
aktive Arbeits-
marktpolitik
Norwegen   1,46   0,19   0,57 -0,11
Dänemark   0,53   0,07   0,78   1,52
Schweiz   0,22   0,2   1,28 -0,52
Schweden   0,39   0,07   0,09   1,82
USA   1,69   0,15   0,55 -1,55
Niederlande -0,73   0,08   0,82   1,34
Neuseeland   0,85   0,08   0,09 -0,5
Kanada   1,37   0,03   0,04 -0,86
Österreich   0,24   0,14   1,04 -0,91
Großbritannien   0,03   0,12   0,33 -1,13
Finnland   0,53 -0,07 -0,81   0,81
Deutschland -1,12 -0,02   0,85   0,7
Australien   0,29   0,06   0,07 -0,85
Portugal -0,82   0,08   0,57 -0,2
Frankreich -0,52 -0,18 -1,33   0,86
Belgien -1,83 -0,08 -0,61   0,92
Griechenland -1,37 -0,27 -2,02 -1,11
Spanien -1,24 -0,64 -2,3 -0,25

Quelle: Eigene Berechnungen. Die Daten wurden einer Z-Transformation unterzogen. Der Durchschnitt für die Verteilung jedes Indikators ist 0, die Standardabweichung 1. Die Kolonne „Gesamt" gibt das Gesamtranking wieder. Es setzt sich aus dem Durchschnittswert aller 7 Einzelindikatoren zusammen. Den Einzelindikatoren wurde dabei gleiches Gewicht zugemessen.

 

Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik  

Die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik sind ein nicht unproblematischer Indikator für die Performanz eines Landes in der Beschäftigungspolitik. Neoklassiker oder auch Ordoliberale argumentieren nicht zu Unrecht, dass eine erfolgreiche Rahmensetzung für die Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt sich gerade dadurch auszeichne, dass sie nur wenige Ausgaben für eine aktive Arbeitsmarktpolitik notwendig mache. Aber es lässt sich ebenfalls argumentieren, dass bei hoher Arbeitslosigkeit deren Rückgang nicht den "freien" Marktkräften alleine überantwortet werden kann, zumal der Arbeitsmarkt stärker vermachtet ist als alle anderen Märkte und das Hoffen auf ein Gleichgewicht selbst von Neoklassikern unter diesen Bedingungen kaum erwartet wird. Zudem haben die vergangenen drei Jahrzehnte im Falle der skandinavischen Länder gezeigt, wie erfolgreich eine solche Politik sein kann. Schweden und Dänemark, die traditionell die höchsten Ausgaben für die aktive Arbeitsmarktpolitik aufweisen, haben dies noch einmal in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre demonstriert, indem sie die individuelle Betreuung der Arbeitslosen ("Case Management") verstärkt und eine bessere Balance zwischen Rechten und Pflichten hergestellt haben. Für Deutschland ist es neben der niedrigen Jugendarbeitslosigkeit auch der einzige Bereich, in dem es einen Rang in der besseren Hälfte (hier Platz 7) aufweist. Mit aller ceteris paribus Vorsicht ließe sich deshalb argumentieren, dass die mäßige bis schlechte Bilanz auf dem deutschen Arbeitsmarkt kaum auf das Ausgabenvolumen der aktiven Beschäftigungspolitik zurückzuführen ist.

Integriert man diese sieben Dimensionen der Beschäftigungsbilanz zu einem synthetischen Gesamtindikator, schneidet Deutschland mäßig ab. Unter 18 OECD-Ländern5 belegt es den zwölften Platz, liegt also am Ende des zweiten Drittels aller Staaten. Vor einem weiteren Abrutschen wird die Bundesrepublik durch ihr gutes Abschneiden bei der Jugendarbeitslosigkeit (dritter Rang) und den Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik (siebter Rang, jedoch problematischer Indikator) bewahrt. Mit den im Ergebnis diskriminierenden Strukturen der Arbeitsmärkte für Frauen, Zuwanderer, Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose in Deutschland werden aber Bereiche berührt, die für eine sozial-integrative und faire 6Politik eine besondere Bedeutung haben. Ihrer Aufhebung - oder zumindest Abmilderung - müsste das besondere Augenmerk einer auch gerechtigkeitsorientierten Politik gelten.

 

Vorschläge für eine gerechtigkeitsorientierte Beschäftigungspolitik

Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist Vollbeschäftigungspolitik immer ein "Kuppelprodukt" von makro- und mikroökonomischen Maßnahmen: vor allem der Geld- und Währungspolitik, der Finanz-, der Sozial-, Lohn- und Arbeitsmarktpolitik (Rürup/Sesselmeier 2001, 278; Benchmarking 2001). Im Lichte der besonderen Schwächen des deutschen Arbeitsmarktes und des "magischen beschäftigungspolitischen Vierecks" von hoher allgemeiner Beschäftigung, einer hohen Frauenerwerbsquote, einer niedrigen Arbeitslosen- und insbesondere einer geringen Langzeitarbeitslosenquote sollen im Folgenden Reformvorschläge für eine gerechtigkeitsorientierte Beschäftigungspolitik gemacht werden, die die soziale Balance bewahrt und die Ziele des magischen, weil sich selbst verstärkenden, Vierecks erfüllt.

 

Makroökonomische Maßnahmen

Es kann kein Zweifel bestehen, dass bei den makroökonomischen Beschäftigungsmaßnahmen die Handlungsräume im letzten Jahrzehnt enger geworden sind. Dies ist weniger auf die viel zitierte Globalisierung als auf die fiskalkonservative und monetär restriktive Selbstbindung der europäischen Staaten im Rahmen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) und den von der letzten Kohl-Regierung forciert durchgesetzten Stabilitätspakt zurückzuführen.

Die Geldpolitik wurde mit der Etablierung der Europäischen Zentralbank (EZB) der unilateralen nationalstaatlichen Gestaltungsmöglichkeit entzogen. Die einseitige Ausrichtung der EZB (wie der Bundesbank zuvor) an der Preisstabilität verhinderte die konjunktur- und wachstumspolitische Indienstnahme der Geldpolitik. Ausgerechnet hier spielte das "Vorbild Amerika" keine Rolle. Die weniger monetaristisch-restriktive Geldpolitik der Federal Reserve Bank trug in den USA zum Wirtschaftswachstum bei, während innerhalb der EWWU die Wachstumspotenziale geldpolitisch nicht ausgeschöpft werden. Die Bundesregierung sollte stärker die Initiativen der französischen Regierung unterstützen, dem ECOFIN (Economic and Financial Affairs/Rat der europäischen Wirtschafts- und Finanzminister) größere Mitspracherechte in der europäischen Geldpolitik einzuräumen. Dafür sprächen auch demokratietheoretische Argumente: Denn warum sollte mit der Geldpolitik ausgerechnet ein zentrales politisches Entscheidungsfeld der demokratischen Repräsentationskette weitgehend entzogen werden, das erhebliche Auswirkung auf die Lebenswirklichkeit der Bürger, also des demokratischen Souveräns hat?

Auch in der Fiskalpolitik sind die Handlungsrestriktionen sperriger geworden. Dies ist zweifellos auf die Internationalisierung der Kapitalmärkte, aber auch auf den Europäischen Stabilitätspakt (1996) zurückzuführen. Der Stabilitätspakt birgt erhebliche konjunkturpolitische Risiken, indem er etwa im Wirtschaftsabschwung bei einer Neuverschuldung von drei Prozent eine prozyklische Konsolidierungspolitik vorschreibt. Auch hier gäbe es von französischer Seite Bereitschaft, über den fiskalkonservativen Stabilitätspakt nachzudenken. Die Regierungskoalition von SPD und Grünen scheint den Stabilitätspakt eher informell unterlaufen zu wollen, als offen über seinen Sinn und Unsinn zu diskutieren. Erst im Herbst 2002 wurde vorsichtige Kritik laut; Kritik, die im Übrigen vom Präsidenten der Europäischen Kommission, dem Wirtschaftswissenschaftler Romano Prodi, schon viel dezidierter formuliert wurde. Die Ausgabenseite wurde in der ersten Legislatur (1998-2002) der rot-grünen Regierungskoalition insbesondere bei investiven Ausgaben zu stark unter Sparvorbehalt gestellt. Dies gilt vor allem für den Bildungsbereich. Die Entlastung im Zuge der Steuerreform hätte für die unteren Einkommensgruppen großzügiger ausfallen können. Dies hätte unmittelbar die Binnennachfrage gestärkt, da Einkommenszuwächse bei unteren Einkommen überproportional in den Konsum und weniger in Sparanlagen fließen.

Die makroökonomischen Spielräume sind in der Beschäftigungspolitik enger geworden. Allerdings sind die verbliebenen Spielräume in den ersten vier Jahren der rot-grünen Bundesregierung nicht hinreichend genutzt worden. Das Haushaltskonsolidierungsgesetz (1999) und die nachfolgende Sparpolitik haben die aggregierte Nachfrage reduziert und damit der Binnenkonjunktur und der Beschäftigungsausweitung geschadet. Es wurde in die Rezession "hineingespart". Dennoch kann kein Zweifel bestehen, dass die eigentlichen Reformen im mikroökonomischen Bereich ansetzen müssen.

 

Mikroökonomische Maßnahmen

In Zeiten der Globalisierung ist der Arbeitsmarkt von allen Märkten am stärksten durch nationalstaatliche Politik zu beeinflussen. Langfristig wirksame Beschäftigungseffekte können deshalb am ehesten in der angebotsorientierten Mikroökonomik der Arbeitsmärkte erzielt werden. Unter Wirtschaftswissenschaftlern und Arbeitsmarktforschern gilt der deutsche Arbeitsmarkt als einer der am stärksten regulierten Märkte in der OECD-Welt (Benchmarking 2001, 170). Im Allgemeinen belohnt die Regulierung der Arbeitsmärkte die Insider (Jobsicherheit, Sicherheit am Arbeitsplatz, Mitbestimmung, Lohnhöhe, Überstunden) und bestraft die Outsider (hohe Eintrittsschwellen in den Arbeitsmarkt, insbesondere für Frauen und gering Qualifizierte). Es ist deshalb eine Arbeitsmarktpolitik zu entwickeln, die den Arbeitsmarkt flexibilisiert, das Outsider-Problem entschärft, ohne den Schutz der Insider zu weit aufzulösen. Stärker als bisher müssen zugunsten der Outsider die Arbeitsmärkte geöffnet werden. Das Beispiel Dänemark zeigt, dass eine sozial ausgewogene Flexibilisierung über die Arbeitsmarktregulierung allein nicht zu leisten ist. Nur durch die Intensivierung der aktiven und aktivierenden Arbeitsmarktpolitik und die Einschließung einer Sozialpolitik mit dicht gestaffelten Dienstleistungen und konditionierten, zeitlich enger begrenzten, aber auch generösen Transfers, kann eine breitere Akzeptanz für flexiblere Arbeitsmärkte erreicht werden.

Deregulierungsmaßnahmen sollten insbesondere in folgenden Bereichen verstärkt werden (vgl. Rürup/Sesselmeier 2001): Einstellungs- und Kündigungskosten, Lohnflexibilität, Arbeitszeitflexibilität, qualifikatorische Flexibilität und Zuwanderung von Arbeitskräften. Ich will dies erklären.

 

Einstellungs- und Kündigungskosten

Es lässt sich nicht bestreiten, dass leichtere Entlassungsmöglichkeiten auch wieder zu schnelleren Einstellungen führen. Zusätzlich würde auch das rationale Unternehmerkalkül zugunsten von Überstunden und zulasten von Neueinstellungen an Bedeutung verlieren. Allerdings lässt sich eine Politik der Entlassungserleichterungen aus gerechtigkeitsorientierter Sicht nur dann rechtfertigen, wenn dadurch die Verweildauer in der Arbeitslosigkeit drastisch gesenkt werden kann, die Requalifizierungsprogramme der aktiven Arbeitsmarktpolitik ausgebaut sind, eine effiziente Arbeitsvermittlungsorganisation existiert und die Arbeitslosenunterstützung in ausreichender Höhe gewährt wird.7 All diese Komponenten sind gegenwärtig in der Bundesrepublik nicht hinreichend entwickelt. Dass sie in Marktgesellschaften entwickelt werden können, zeigen die Beispiele Schwedens und Dänemarks.

 

Lohnflexibilität

Dieser Bereich betrifft das Lohnverhandlungssystem, eventuelle Mindestlöhne, Lohnersatzleistungen, Lohnsteuern und Sozialabgaben. Das Flächentarifsystem hat sich für die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer als positiv bewährt und hat zweifellos zum Arbeitsfrieden in der Bundesrepublik beigetragen. Seine Erosion sollte, soweit dies möglich ist, gestoppt werden. Verhandlungen auf Unternehmensebene würden - wie nicht zuletzt auch weitsichtigere Arbeitgeber fürchten - Tarifkonflikte von der Branchen- auf die Firmenebene verlagern und dort zu erheblichen Reibungen zwischen Unternehmensführung und Belegschaft sowie zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Beschäftigten selbst führen (Fuchs/Schettkat 2000, 224). Lohnöffnungsklauseln nach unten, etwa zur notwendigen Förderung von Dienstleistungsjobs im unteren Qualifikationsbereich, sollten verstärkt werden. Sie müssen aber mit Lohnsubventionen, Kombilohnmodellen und vergleichbaren Maßnahmen verbunden werden, wenn Deutschland das angelsächsische Problem der Working poors vermeiden will. Dafür kämen direkte Subventionen für die Beschäftigten, die Arbeitgeber, die Sozialabgaben oder auch Formen der negativen Einkommenssteuer in Betracht (vgl. auch Scharpf 1993). Gleichzeitig sollten die Lohnsteuern im unteren Einkommensbereich weiter gesenkt und die Reduzierung von Lohnnebenkosten effektiver verfolgt werden. Langfristig muss die Sozialversicherungskomponente im deutschen Sozialstaat abgeschwächt werden. Dies soll jedoch nicht einseitig zugunsten von Privatversicherungen, sondern über eine stärkere Steuerfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme unter Einbeziehung der Kapitaleinkünfte und indirekter Verbrauchssteuern ermöglicht werden.

 

Im Arbeitsamt von Cottbus liest eine Frau in ihren Unterlagen vom Arbeitsvermittler. Frauen sind ein qualifiziertes Potenzial von Arbeitskräften, das gerade in Deutschland völlig unzureichend ausgeschöpft wird. Immer noch wird ihnen Eintritt, Karriere und Verbleib in den und im Arbeitsmarkt nicht hinreichend ermöglicht. 

Foto: dpa

 

Arbeitszeitflexibilität

Hier müssen insbesondere zwei Bereiche verbessert werden: die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit und die Flexibilisierung der Lebensarbeitszeit. Insbesondere im privatwirtschaftlichen Bereich sind die Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit trotz des "Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge" (21.12.2000) nicht ausreichend. Nach wie vor befindet sich die Bundesrepublik bei der Nutzung der Teilzeitbeschäftigung im letzten Drittel der OECD-Länder. Möglichkeiten zur Teilzeitbeschäftigung erhöhen aber die Wahlfreiheit der einzelnen Arbeitnehmer und können zur gesellschaftlichen Umverteilung der Arbeit beitragen (Niederlande). Zudem ermöglicht die Teilzeitbeschäftigung, in bestimmten Lebensabschnitten Erwerbsarbeit und Familienpflichten besser zu kombinieren. Teilzeitarbeit muss jedoch sozialpolitisch durch die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen für Kinder, Erziehung und Gesundheit sowie die steuerliche Subventionierung von Sozialversicherungsleistungen flankiert werden. Profitieren würden davon in erster Linie die Frauen.

Die Tendenz zu einer immer früheren Verrentung muss gestoppt werden. Das einstige Interessenkartell von Staat, Gewerkschaften und Arbeitgebern zu einem frühen Arbeitsausschluss älterer Arbeitnehmer ging zu Lasten der Rentenkassen, des Steueraufkommens und des Bruttosozialprodukts. Die "altersselektive jugendzentrierte Personalpolitik" (Rürup/Sesselmeier 2001) der Unternehmen wurde zwar erleichtert, der Glauben, das Problem der Arbeitslosigkeit mit der Frühverrentung teilweise lösen zu können, jedoch enttäuscht. Es müssen flexiblere Altersregelungen gefunden werden, die insbesondere jenen, die länger arbeiten wollen und können, dies auch ermöglichen. Die gerade im Vergleich zu den angelsächsischen und skandinavischen Ländern ausgeprägte deutsche und kontinentaleuropäische Tendenz zur Passivierung älterer Erwerbspersonen ist eine schwere Hypothek für die Finanzierung des sozialen Sicherungssystems. Auch hier zeigen die skandinavischen Länder, dass eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit keineswegs zu weniger sozialer Gerechtigkeit oder höherer Arbeitslosigkeit führt.

 

Qualifikatorische Flexibilität

Die Flexibilität von Arbeitnehmern, sich den wandelnden Anforderungsprofilen des Arbeitsmarktes erfolgreich stellen zu können, muss erhöht werden. Dies ist insbesondere in der postindustriellen Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft von elementarer Bedeutung. Bildung und Ausbildung ist deshalb zu einem zentralen Parameter gerade in der Beschäftigungspolitik geworden. Gemessen an den Gesamtbildungsausgaben wie auch den Bildungsausgaben pro Kopf, liegt Deutschland am unteren Ende der OECD-Staaten (Merkel 2001). Evaluationen des Bildungsstandes, wie etwa die PISA-Studie, zeigen klar, dass eine positive Korrelation zwischen niedrigen Bildungsausgaben und niedrigem Bildungsniveau besteht (Schmidt 2002). Es muss sowohl im privaten als auch im unternehmerischen und staatlichen Bereich deutlich mehr für Bildung ausgegeben werden, um nachhaltige Beschäftigungszuwächse zu erzielen. Auch hier gilt: Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts.

An dieser Stelle muss auf ein qualifiziertes Potenzial von Arbeitskräften verwiesen werden, das gerade in Deutschland völlig unzureichend ausgeschöpft wird: die Frauen. Obwohl diese mittlerweile in fast allen Schularten und Universitäten bessere Abschlüsse als Männer aufweisen, wird ihnen Eintritt, Karriere und Verbleib in den und im Arbeitsmarkt nicht hinreichend ermöglicht. Sozialstaatliche Dienstleistungen zur Erleichterung von familiären Betreuungs- und Erziehungsaufgaben in Kindergärten, Kindertagesstätten und Ganztagsschulen sind, anders als in Skandinavien und selbst in Südeuropa, in Deutschland unzureichend ausgebaut. Familien- und Arbeitsmarktpolitik müssen besser in ihren wechselseitigen Bedürfnissen aufeinander abgestimmt werden. Haushalts- anstelle von Individualbesteuerung "bestraft" steuerlich ein zweites Familieneinkommen, d.h. meist jenes der Frauen; es lässt diese zögern, in den Arbeitsmarkt einzutreten. Eine Politik, die das qualifizierte Beschäftigungspotenzial der Frauen viel stärker nutzen will, muss beides anstreben: ausreichende sozialstaatliche Dienstleistungen und einen Umstieg von der Haushalts- auf die Individualbesteuerung.

 

Zuwanderung von Arbeitskräften

Aus beschäftigungspolitischer Sicht muss sich jede Einwanderungspolitik an den spezifischen Nachfrageprofilen des Arbeitsmarktes orientieren. Zuwanderungspolitik ist nicht Asylpolitik. Letztere hat humanitären Maßstäben zu folgen, erstere sollte auf die "Verbesserung der ökonomischen Wohlfahrt der gesamten Wohnbevölkerung ausgerichtet sein" (Rürup/ Sesselmeier 2001, 281). Auf den heimischen Arbeitsmärkten können Immigranten substitutive oder komplementäre Wirkung hervorrufen. Da substitutive Wirkungen einheimische Arbeitskräfte verdrängen, komplementäre aber deren Beschäftigungschancen verbessern, muss eine Zuwanderungspolitik vor allem jene Einwanderung ermöglichen und verstärken, die komplementäre Effekte auf dem Arbeitsmarkt verspricht. Gegenwärtig und in der nahen Zukunft werden qualifizierte Arbeitskräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt viel stärker nachgefragt werden. Das Arbeitsplatzangebot für Geringqualifizierte wird sich dagegen in den nächsten 10 Jahren halbieren (a.a.O., 282). Ein weiterer Zuzug wenig qualifizierter Arbeitskräfte dürfte in den nächsten Jahren zu einem Verdrängungswettbewerb gegenüber den heimischen Arbeitskräften führen. Dies wäre eine Entwicklung, die weder arbeitsmarkt- noch gesellschaftspolitisch erwünscht sein kann. Es wäre eine gefährliche Illusion zu glauben, Deutschland könnte oder sollte den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in erster Linie mit einer massiven Ausweitung der Einwanderung lösen. Die Nachfrage muss vor allem durch das Arbeitskräftepotenzial (Frauen) im eigenen Lande gedeckt werden.

Eine zukunfts- und gerechtigkeitsorientierte Beschäftigungsstrategie muss deshalb vor allem die Bildungspolitik intensivieren, die Lohnnebenkosten senken, das Tabu der niedrigen Beitragsbemessungsgrenzen bei den Sozialversicherungen knacken, Steuererleichterungen für untere Einkommen verstärken, die Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen subventionieren, die Frauenerwerbsquote erhöhen, sowie die Lebensarbeitszeit flexibilisieren und für jene verlängern, die dies wollen und können. Sie muss insbesondere die Steuer-, Sozial- und Zuwanderungspolitik besser mit der Arbeitsmarktpolitik verknüpfen, als dies bisher in der Bundesrepublik geschehen ist. Die gegenwärtigen Reformen der rot-grünen Regierungskoalition sind ein wichtiger Schritt, dem allerdings noch weitere folgen müssen.

 

Literatur

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Merkel, W. : Soziale Gerechtigkeit und die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus. In: Berliner Journal für Soziologie, 2/2003, S. 135-157

Nida-Rümelin, J./Thierse, W.: Philosophie und Politik. Essen 1998

OECD: Historical Statistics 2000

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Rürup, B./Sesselmeier, W.: Wirtschafts- und Arbeitswelt. In: Korte, K.-R./Weidenfeld, W. (Hrsg.): Deutschland Trendbuch. Fakten und Orientierungen. München 2001, S. 247-288

Sachverständigenrat der Bundesregierung: Herbstgutachten 2002. Unter: http://www.diw.de/deutsch/produkte/publikationen/
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Scharpf, F. W.: Von der Finanzierung der Arbeitslosigkeit zur Subventionierung niedriger Einkommen. In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 44/1993, S. 433-443

Scharpf, F. W.: The Viability of Advanced Welfare States in the International Economy: Vulnerabilities and Options. In: Journal of European Public Policy, 7/2000, S. 190-228

Schmid, J.: Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Opladen 2002

Schmidt, M. G.: Warum Mittelmaß? Deutschlands Bildungsausgaben im internationalen Vergleich. In: Politische Vierteljahresschrift, 1/2002, S. 3-19

Schröder, W. (Hrsg.): Neue Balance zwischen Markt und Staat? Sozialdemokratische Reformstrategien in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Schwalbach am Taunus 2001

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Zohlnhöfer, R.: Politikwechsel nach Machtwechseln. Die Wirtschaftspolitik der Regierungen Kohl und Schröder im Vergleich. In: Derlien, H.-U./Murswieck, A. (Hrsg.): Regieren nach Wahlen. Opladen 2001

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Anmerkungen

1 Vgl. dazu u.a.: Przeworski 1985; Scharpf 1987; Merkel 1993.

2 Die These wurde zunächst von Hannah Arendt aufgestellt und von Ralf Dahrendorf 1982 weiter expliziert. Dahrendorf vertritt diese Prognose nicht mehr in dieser Form. Ökonomen konnten sich mit ihr nie abfinden.

3 Für Anregungen, Kommentare und Mithilfe danke ich meinen Mitarbeitern der DFG-Forschungsgruppe "Dritte Wege" in Heidelberg: Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring.

4 siehe Tabelle 1.

5 Italien und Irland wurden aus dem Vergleich herausgenommen, da für sie keine vollständigen Daten vorlagen. Nach den vorliegenden Daten ist jedoch davon auszugehen, dass beide Länder im Gesamtranking hinter Deutschland liegen.

6 Gerechtigkeit wird im Sinne von John Rawls als "Fairness" verstanden.

7 Deshalb soll nicht die Höhe der Arbeitslosenunterstützung reduziert werden, wohl aber deren Bezugsdauer und Bezugskriterien



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