Zeitschrift

Zuwanderung
und Integration


 

Heft 4 2006

Hrsg: LpB

 



 

Inhaltsverzeichnis

Zuwanderung und Integration


 


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AM 1. JANUAR 2005 TRAT DAS ZUWANDERUNGSGESETZ IN KRAFT. DAMIT BEKENNT SICH DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND OFFIZIELL ZU IHRER ROLLE ALS EINWANDERUNGSLAND.

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Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mehr als 50 Jahre mit dem Begriff "Einwanderungsland" schwer getan. Inzwischen beginnt sich die Einsicht durchzusetzen, dass die Zuwanderungsbilanz positiv zu bewerten ist. Integrierte Zuwanderinnen und Zuwanderer stellen eine gesellschaftliche, kulturelle und nicht zuletzt ökonomische Bereicherung dar.

Karl-Heinz Meier-Braun bilanziert im einführenden Beitrag die Ausländerpolitik seit den 1950er-Jahren, als die ersten so genannten "Gastarbeiter" nach Deutschland geholt wurden, bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes im Jahre 2005. In diesem Panorama der Geschichte der Zuwanderung wird in sechs Phasen die zumeist von arbeitsmarktpolitischen Überlegungen geprägte und unter dem Gesichtspunkt der Integration oft halbherzig betriebene Ausländerpolitik Deutschlands analysiert. Das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz, dessen Eckpunkte in dem Beitrag erörtert werden, markiert den Beginn einer siebten Phase der Ausländerpolitik, die durch eine neue Gewichtung der Integrationspolitik bei gleichzeitigem Eingeständnis von Versäumnissen in der Vergangenheit charakterisiert ist.

Die Bedeutung einer funktionierenden Integrationspolitik wird im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD hervorgehoben. Dies wird durch die Tatsache unterstrichen, dass Maria Böhmer - die wir als Autorin für dieses Heft gewinnen konnten - am 29.11.2005 ihr Amt als Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration antrat. Der Umstand, dass die Integrationspolitik eine grundlegende Neubewertung erfährt, ist Anlass genug, die bundespolitische Sicht vorzustellen. Der im Kanzleramt unlängst abgehaltene "Integrationsgipfel" ist Ausdruck eines gewandelten integrationspolitischen Verständnisses und war ein wichtiges Signal, weil er Defizite der Integration benannte und Maßnahmen zu einer besseren Integrationspolitik in Angriff nahm. Auf diesem Integrationsgipfel wurde ein "Nationaler Integrationsplan" erarbeitet, der sich auf sechs Schlüsselbereiche konzentriert: Weiterentwicklung der Integrationskurse, Förderung der deutschen Sprache, Sicherung der Bildung und Ausbildung, Erhöhung der Arbeitsmarktchancen, die Verbesserung der Lebenssituation von Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund und schließlich die Förderung der Integration vor Ort.

Doch dies ist nur eine Seite der Medaille. Durchaus zu konstatierende Probleme (so genannte "Parallelgesellschaften", schlechte Bildungsabschlüsse, Arbeitslosigkeit, religiöser Fundamentalismus usw.) drängen die positiven Aspekte der Zuwanderung in den Hintergrund und bestimmen die öffentliche Debatte. Mit dem emotional aufgeladenen Begriff "Parallelgesellschaft" verbindet sich das Bild einer unkontrollierbaren, das Gewaltmonopol des Staates nicht akzeptierenden, zumeist islamischen Bedrohung. Weitaus nüchterner hingegen ist die rationale Definition des Begriffs: "Parallelgesellschaften" entwickeln sich in ethnisch, sozial und weltanschaulich homogenen (Minderheiten-)

Gruppen auf freiwilliger Basis in mehr oder weniger deutlicher Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft. Solche Segregationen sind für die kulturelle und soziale Selbstbehauptung nicht unwichtig, weil sie die Identität stabilisieren und die Integration in die Aufnahmegesellschaft erleichtern. Matthias Micus und Franz Walter schildern diesen Prozess gelingender Integration am Beispiel der so genannten "Ruhrpolen" und der parteipolitischen Milieus. Gefährdungen für demokratisch verfasste Gesellschaften ergeben sich dann, wenn "Parallelgesellschaften" den Dialog verweigern und ihre Werte absolut setzen. Diese Abgrenzung kann als Reflex auf Gegebenheiten der Aufnahmegesellschaft gedeutet werden: Mangelnde Teilhabe- und Erfolgschancen, sich verschlechternde Integrationsbedingungen und eine nur "partielle Integration" lassen in jüngster Zeit die Empörung der dritten Einwanderergeneration wachsen. Dies lässt auf einen Mangel an parallelgesellschaftlichen Strukturen, die eine Brücke zur Mehrheitsgesellschaft schlagen könnten, schließen.

Gelingende Integration hängt wesentlich von Wissen und Bildung ab. Bisher ist es offensichtlich nicht gelungen, Bedingungen zu schaffen, unter denen sich das Lernpotenzial von Migrantenkindern optimal entfalten kann. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist das Problem klar identifizierbar: Migrantenkinder sind unterfördert und damit auch unterfordert. Der Beitrag von Inken Keim und Rosemarie Tracy bringt interessante Gesichtspunkte in die aktuelle Diskussion über die unzureichenden Bildungschancen von Migrantenkindern ein: Auf der Grundlage neuerer sprachwissenschaftlicher Forschungen plädieren die Autorinnen für eine Überwindung der Defizitannahme und zeigen anhand konkreter Beispiele, warum es dringend notwendig ist, vereinfachte Vorstellungen über die sprachlichen Kompetenzen von Migrantenkindern zu überwinden. Nach der Erörterung relevanter Ergebnisse der neueren Spracherwerbs- und Mehrsprachigkeitsforschung werden einige weit verbreitete Vorurteile widerlegt und schließlich Vorschläge zur Verbesserung der Sprachlernbedingungen unterbreitet.

Die politische Integration von Einwanderern bemisst sich am Zugeständnis politischer Partizipationsmöglichkeiten. Wahlrecht, parlamentarische Präsenz und die Mit-Entscheidung von Personen mit Migrationshintergrund tragen entscheidend zum Abbau struktureller Defizite bei. Es hat lange gedauert, bis Migranten als politisch relevante Subjekte und nicht nur als Objekte der Politik wahrgenommen wurden. Die Arbeiten von Andreas M. Wüst zum Wahlverhalten von Migranten haben hier eine entscheidende Lücke geschlossen: Herkunft, Zeitpunkt der Einwanderung, kulturelle und religiöse Orientierung der eingebürgerten Personen beeinflussen die Wahlbeteiligung, Parteibindung und die politischen Präferenzen. Die jeweiligen Parteipräferenzen sind prägnant und hängen in entscheidendem Maße von dem durch die Parteien jeweils vertretenen Gesellschaftskonzept ab. Bei Abgeordneten mit Migrationshintergrund ist auffallend, dass sie der Repräsentation ‚ihrer' gesellschaftlichen Gruppe einen hohen Stellenwert einräumen und somit die nur unzureichend vertretene (Minderheiten-)Sicht in den politischen Prozess einbringen.

Grenzüberschreitende Wanderungen in weltweitem Maßstab werden zunehmen. Das daraus resultierende wirtschaftliche Wachstum einzelner Gesellschaften wirft

Fragen der Verteilung und des Umgangs mit sich daraus ergebenden Konfliktlinien auf. Migration führt zu ökonomischen Divergenzen: Zuwanderung erhöht das Humankapital und Wachstum der Aufnahmegesellschaft, hemmt hingegen die Entwicklung in den zumeist peripher gelegenen Herkunftsländern. Innergesellschaftliche Konfliktlinien entstehen dann, wenn sich die Verteilungsfrage stellt, d.h. der durch Zuwanderung ausgelöste Strukturwandel produziert Gewinner und trotz einem volkswirtschaftlichen Zugewinn auch (relative) Verlierer. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Verdrängung einheimischer Arbeitskräfte eine Ursache der Migration ist oder - so die These von Thomas Straubhaar - ein offensichtlicher Beleg für die räumliche und berufliche Immobilität vom Arbeitsplatzverlust Betroffener. Bei genauerem Betrachten erweisen sich die negativen Phänomene, die mit der Zuwanderung einhergehen und populistisch ausgenutzt werden, als ein generelles Problem des Sozialstaats und als eine Folge unzureichender politischer und ökonomischer Steuerung.

Die deutsche Bevölkerung wird in den nächsten Dekaden spürbar altern. Mit diesem Alterungsprozess sind erhebliche Belastungen der Sozialsysteme verbunden. Einem immer kleineren Teil der Erwerbsbevölkerung stehen immer größere Teile einer nichterwerbstätigen Bevölkerung gegenüber, deren Unterhalt durch die sozialen Sicherungssysteme finanziert werden muss. Angesichts dieser Entwicklungen wird in der öffentlichen Diskussion häufig die Hoffnung geäußert, durch Zuwanderung die Alterung der Bevölkerung aufzuhalten oder zumindest zu mildern. Die Vorstellung jedoch, dass durch Zuwanderung der Alterungsprozess aufgehalten werden kann, ist aus zwei Gründen eine Illusion. Erstens ergibt sich, weil die Migrationsbevölkerung auch altert, ein dramatischer Zuwanderungsbedarf, wenn die Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland konstant gehalten werden soll. Zweitens altern die Bevölkerungen in den Herkunftsregionen der Migration ebenfalls, so dass es fragwürdig ist, ob ein derartiges Wanderungspotenzial überhaupt existiert. Deutschland und andere OECD-Länder können nichtsdestotrotz von der Zuwanderung profitieren. Realistisch sind Wanderungsgewinne, die sich auf ein bis zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in den Einwanderungsländern belaufen. Auch wenn durch Migration die Alterung nicht aufgehalten werden kann, helfen diese Gewinne doch, die Kosten des demographischen Wandels zu senken.

Unter den deutschen Ländern hat Baden-Württemberg den höchsten Ausländeranteil, und die bundesweite regionale Verteilung zeigt, dass in diesem Bundesland die meisten Deutschen mit Migrationshintergrund leben. Wolfgang Walla präsentiert grundlegende Daten und Fakten zur Zuwanderung nach Baden-Württemberg. Der Beitrag beschreibt zunächst die Wanderungsbewegungen nach 1945, die Vertriebene und Flüchtlinge in das Land führten, schildert die Anwerbung, Ankunft und karge Lebenssituation der ersten "Gastarbeiter", thematisiert die Dynamik der Ost-West-Wanderung nach 1989 und bilanziert schließlich das aktuelle Wanderungsverhalten. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Analyse der Bildungsbereitschaft und des Bildungserfolgs von Menschen mit Migrationshintergrund. Die Ursachen für Bildungsunterschiede zwischen "Einheimischen" und Migranten sind reichlich komplex. Gleichwohl bestätigen sich die Ergebnisse der PISA-Studien und nachfolgender Untersuchungen auch für Baden-Württemberg: Bildungserfolg ist milieugebunden, hängt vom Erlernen der deutschen Sprache und einer gelingenden Integration ab. Deutlich wird ebenfalls, dass ausländische Arbeitnehmer weitaus stärker den Schwankungen des Arbeitsmarktes unterworfen sind, früher und schneller arbeitslos werden als deutsche Arbeitnehmer.

In der aktuellen Debatte über Zuwanderung spielen Massenmedien deshalb eine entscheidende Rolle, weil sie das Bewusstsein ihrer Rezipienten und damit den öffentlichen Diskurs prägen. Im Laufe der letzten Jahre kamen Studien zu dem Ergebnis, dass Medien häufig in einer skandalträchtigen und diffamierenden Weise über Migrantinnen und Migranten berichten und so zu einem Negativimage beitragen. Sensationslüsterne Schlagzeilen und einschlägige Stereotype haben Nachrichtenwert, nicht das alltägliche friedliche Zusammenleben von Zugewanderten und Deutschen. Dies prägt letztlich auch die Haltung im Hinblick auf Modelle des Zusammenlebens zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kulturen. Die von Christoph Butterwegge erörterten Beispiele, deren Inhaltsanalyse und die dabei zutage tretenden Sprachbilder zeigen mehr denn je, dass eine seriöse Berichterstattung anzumahnen ist, die sich dem journalistischen Ethos verpflichtet fühlt und elementare Persönlichkeitsrechte achtet.

Der längst überfällige Blick über den "nationalen Tellerrand" kann zu einer Versachlichung der Debatte beitragen: Migration und deren Auswirkungen machen an keiner Grenze und vor keiner Staats- und Regierungsform Halt. Gerade weil Migration ein weltweites Phänomen ist, kann kein Land die Probleme im Alleingang lösen. Ob Kriege, Flucht, Suche nach Arbeit, Perspektivlosigkeit oder Armut - weltweite Migrationsbewegungen zählen zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Internationale Wanderungsbewegungen haben im Lauf der letzten Jahre sowohl innerhalb von Regionen als auch zwischen den Kontinenten deutlich zugenommen. Mit dem 2005 veröffentlichten "Bericht der Weltkommission für Internationale Migration" und einem "Hochrangigen Dialog" zu Beginn der 61. UN-Generalversammlung tragen die Vereinten Nationen dieser Aufgabe in besonderer Weise Rechnung. Bei der Vorstellung der deutschen Fassung des Weltmigrationsberichtes wurde deutlich, dass bisherige Konzepte der Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung einerseits, des Flüchtlingsschutzes andererseits und auch integrationspolitische Maßnahmen auf dem Prüfstand stehen. Doch nicht nur den Nationalstaaten kommt beim Schutz der Migranten eine große Bedeutung zu. Die Internationale Völkergemeinschaft ist ebenfalls aufgerufen, sich in Fragen weltweiter Migration zu engagieren und Handlungsoptionen aufzuzeigen.

Alle Autorinnen und Autoren wollen mit ihren Beiträgen detaillierte Informationen vermitteln, zur Versachlichung der Diskussion beitragen und Fakten bereitstellen, die für das Verständnis des komplexen Themas wichtig sind. Allen Autorinnen und Autoren sowie Herrn Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun, der mit fachlichem Rat wesentlich zum Entstehen dieses Heftes beigetragen hat, sei an dieser Stelle gedankt. Dank gebührt auch dem Schwabenverlag für die stets gute und effiziente Zusammenarbeit.

Siegfried Frech


 

 

 


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