Zeitschrift

Über den Kirchturmshorizont hinaus:
überlokale Zusammenarbeit

Das politische Buch



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Inhalt


Stadtentwicklung zwischen Effizienz und Demokratie

Herbert Schneider
Stadtentwicklung als politischer Prozeß
Stadtentwicklungsstrategien in Heidelberg, Wuppertal, Dresden und Trier
Verlag Leske und Budrich, Opladen 1997, 399 Seiten, DM 58,-

Stand noch in den 60er und 70er Jahren die stadtplanerische Steuerung des Wachstums im Mittelpunkt kommunalwissenschaftlicher Untersuchungen, so wandte sich die lokale Politikforschung in den 90er Jahren unter dem Eindruck hoher Arbeitslosigkeit, der Finanznot der Städte und angesichts der lokalen Folgewirkungen der Globalisierung neuen Strategien und Konzepten kommunalen Entscheidungshandelns zu. Damit gerät die community policy erneut ins Blickfeld der Forschung. Im Gegensatz jedoch zur Community-power-Forschung (der Analyse kommunaler Machtstrukturen) wendet sich der Heidelberger Politikwissenschaftler Herbert Schneider in seiner empirisch-vergleichenden Studie der Steuerbarkeit lokaler Politik zu, indem er die politischen Institutionen, ihre Machtbeziehungen und die Regelungsmechanismen in den Mittelpunkt stellt.

Am Beispiel von vier Städten (Heidelberg, Wuppertal, Dresden und Trier) wird der Zusammenhang von Stadtentwicklungsstrategien und politischem Entscheidungsprozeß untersucht. Die Auswahl der untersuchten Städte erfolgt nach methodischen und forschungspragmatischen Gründen: jede der untersuchten Städte stellt einerseits einen bestimmten Städtetyp dar, andererseits erlauben die Forschungsergebnisse nur begrenzt eine Generalisierung. Darum ging es dem Verfasser jedoch nicht. Wenn Schneider am Schluß seiner Untersuchung zu dem Ergebnis kommt, daß jede Stadt ihre individuelle Struktur und Identität habe und demzufolge die ihr eigene Entwicklungsstrategie finden müsse, dann wird jeder Generalisierungsanspruch hinfällig.

Die Vorzüge der Studie liegen somit im Detail. Der Leser erhält einen faszinierenden, spannend und farbig geschriebenen Einblick in die Innenwelt der Kommunalpolitik der vier Städte, die sich im Spannungsfeld kommunaler Effizienzsteigerung einerseits und Stärkung der Bürgerbeteiligung andererseits bewegt. Hierbei setzt Schneider ein vielfältiges methodisches Instrumentarium ein: Expertengespräche, Interviews mit Gemeinderäten, Bürgerumfragen sowie teilnehmende Beobachtungen. Jahrelange Recherchen finden ihren Niederschlag in einer präzisen und zugleich allgemein verständlichen Beschreibung der äußerst komplexen und vielfältigen Politik- und Lebenswelt.

Stadtentwicklungspolitik ist mehr als die Verwaltung des Mangels durch bloßes Krisenmanagement. Schneiders Studie zeigt, daß es neben einer nach wie vor praktizierten Perspektivplanung Ansätze einer integrativ-kommunikativen Politik, eines modernen Stadtmarketing und einer nachhaltigen Stadtentwicklung gibt. Es gibt nicht die beste oder wirksamste Stadtentwicklungsstrategie, sondern nur die den lokalen Verhältnissen am besten angemessene. "Was in Trier mit seiner korporativen Tradition möglich ist, verlangt in Heidelberg mit seiner individuellen Streitkultur nach einem anderen Verfahren". Allerdings sind der Vielfalt und Individualität der Städte politische Grenzen gesetzt. Der Staat hat in den vergangenen Jahrzehnten mit gesetzlichen Regelungen und materiellen Vorgaben in die lokale Politik eingegriffen. Insbesondere die zweckgebundenen Zuweisungen ("die goldenen Zügel") verhindern die Durchsetzung eigenständiger Entwicklungsziele. Schneider verweist hier auf den "Experimentierparagraph" 124 Abs. 1 der 1994 neugefaßten Gemeindeordnung von Nordrhein-Westfalen, der es der Stadt Wuppertal erlaubte, das bisherige Beigeordnetensystem durch eine Geschäftsführung zu ersetzen. Der in Skandinavien eingeleitete Reformprozeß Free Community Experiments ermöglicht den Kommunen, auf Antrag Gesetze und Vorschriften außer Kraft zu setzen, damit die Gemeinden Strukturreformen durchsetzen können.

Im Spannungsfeld von Effizienz und Partizipation plädiert Schneider für ein breit angelegtes Reformkonzept, das den Interessen und Bedürfnissen sowohl der Verwaltung als auch der Bürger gleichermaßen gerecht wird. Zur Stärkung der Verwaltungsspitze bringt Schneider (für Großstädte) das Modell der Stadtregierung in die Diskussion und vertritt die Auffassung, daß die Kommunen sich ihre Verfassung selber wählen können sollten. Wie der gefragte Bürger besser an der gesamtstädtischen Entwicklungsstrategie beteiligt werden kann, bleibt allerdings nach wie vor unklar. Den lokalen Korporatismus durch mehr Öffentlichkeit transparent zu machen, überzeugt da schon eher. In den USA sind die citizen boards seit langem ein bewährtes Bindeglied zwischen Bürger und Verwaltung.

Gemeinderäte geben nachweislich wenig Anstöße für Stadtentwicklungsstrategien, sie verzetteln sich vielmehr allzu oft in Detailfragen. Sie sollten sich deshalb auf ihre eigentliche Aufgabe, die Kontrolle der Verwaltung und auf das Fällen von Grundsatzentscheidungen, konzentrieren. Im Rahmen der Verwaltungsreform sollten sie, so Schneider, auch sich selbst einer Reform ihres Selbstverständnisses und ihrer Arbeitsweise unterziehen. Allerdings: wer reformiert schon sich selbst?

Die vom Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau eingesetzte Kommission Zukunft Stadt 2000 kommt in ihrem Bericht zu dem Schluß, daß städtische Entwicklungskonzepte stärker regional orientiert sein müßten. Schneider konstatiert ebenfalls diesbezüglich Defizite bei den untersuchten Städten, wobei dieses komplexe Thema richtigerweise im Verlauf der Untersuchung weitgehend ausgeklammert wird. Der abschließende Verweis, daß "Stadtentwicklung als politischer Prozeß" in "Regionalentwicklung als politischer Prozeß" übergehen müsse, könnte als Hinweis auf eine Folgestudie verstanden werden.

Die präzise Analyse und die verständliche und anschauliche Beschreibung komplizierter Zusammenhänge machen dieses Werk zu einem Gewinn für den Laien wie für den kommunalpolitischen Fachmann. Mit seinen fundierten Recherchen ist Schneider ein vorzügliches Standardwerk gelungen. Helmut Köser


Aktivierung der ethischen Komponenten

Fred Endres
Maximen der Liebe
R. U. Fischer Verlag, Frankfurt/M.,
140 S., DM 16,80

Fred Endres hat wieder zur Feder gegriffen. Der ehemalige Bürgermeister hat in verschiedenen Publikationen seine wertvollen Erfahrungen weitergegeben und versucht, einen neuen und frischen Geist in viele Amtsstuben zu bringen.

Was trieb ihn jetzt dazu, ein Buch mit dem Titel "Maximen der Liebe" zu schreiben? Fred Endres ist nicht zufrieden mit der depressiven Stimmung, die sich wegen vielfältiger Probleme über unsere Gesellschaft zu legen scheint. Er glaubt, daß wir die Schwierigkeiten nicht mit Klagen in den Griff bekommen, sondern durch Aktivierung der ethischen Komponenten, die in jedem Menschen angelegt sind. Vor allem ermuntert er dazu, durch Entfaltung der Liebesfähigkeit zu einem harmonischen und solidarischen Miteinander zu kommen.

Natürlich ist man sehr gespannt, welche Wege der Autor zu so hoch gesteckten Zielen weist. Fred Endres entwickelt kein philosophisch-ethisches Lehrbuch, keine neue Verhaltens-Theorie, er stellt lediglich eine ganze Reihe von Tugenden vor (wie Dankbarkeit, Hoffnung, Toleranz, Vertrauen ...) und beschreibt sie mit anregenden und nachdenklich stimmenden Worten. Jede "Maxime" (so Fred Endres) wird begleitet von einem tiefgründigen Zitat aus der Feder eines berühmten Philosophen, einer bekannten Schriftstellerin ...

Der Autor verbindet mit den "Maximen der Liebe" keinen wissenschaftlichen Anspruch und sucht auch keine wissenschaftlichen Leserinnen und Leser. Mehr hat er diejenigen im Auge, die für andere Verantwortung haben und die im Alltagsgetriebe einmal innehalten und einige Gedanken bewegen sollten, die in dem Buch vorgestellt werden. Es macht wenig Sinn, das Buch in einem Stück zu lesen. Dagegen ist es gut geeignet, von Zeit zu Zeit in die Hand genommen zu werden. Es bleibt immer spannend und anregend, quasi ein Dauerbrenner!

Fred Endres glaubt an das Gute im Menschen. Man spürt auch auf allen Seiten etwas von seiner "epikureischen Lebensfreude", die er uns allen weitergeben will. Manchmal ist man fast erstaunt über den schier grenzenlosen Optimismus und ist froh festzustellen, daß auch tugendhafte und vertrauensvolle Menschen auf den Kategorischen Imperativ von Immanuel Kant hingewiesen werden.

Wer im Alltag Motivation und Anregung braucht, sollte die "Maximen der Liebe" in die Hand nehmen. Siegfried Schiele


Kleine Geschichte des Kolonialismus

Wolfgang Reinhard
Kleine Geschichte des Kolonialismus
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1997.
ISBN 3-520-47501-4

Wohl kein geschichtlicher Prozeß hat das Gesicht unserer Welt so nachhaltig geprägt wie die Errichtung europäischer Kolonialreiche in Amerika, Afrika und Asien, denn erst die europäische Expansion seit dem 15. Jahrhundert hat die vielen Welten der Menschen zu der einen Welt gemacht, in der wir heute leben. Einer der führenden Historiker dieses weltgeschichtlichen Fundamentalprozesses ist seit seiner vierbändigen "Geschichte der europäischen Expansion" (1983-1990) der Freiburger Wissenschaftler Wolfgang Reinhard. Um einem interessierten Publikum einen handbuchartigen Überblick über dieses Thema zu bieten, legt Reinhard erstmals mit seiner "Kleinen Geschichte des Kolonialismus" eine knappe Gesamtübersicht über die europäischen Kolonialgeschichte vor.

Der zeitliche Rahmen, den Reinhard seiner Darstellung setzt, ist sehr breit angelegt: Er reicht von der "Entdeckung" des Atlantiks durch portugiesische und italienische Seefahrer und Kaufleute im 14. Jahrhundert bis zur Dekolonisation in Rußland und Südafrika in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts. Dieser großzügige zeitliche Rahmen verdankt sich einem weiten Kolonialismus-Begriff. Denn Reinhards Darstellung beschränkt sich nicht auf die Geschichte europäischer Kolonialreiche in Übersee, sondern bezieht auch Kontinentalimperien wie Rußland und die USA, Sekundärkolonialismus wie in Israel, Südafrika und Australien sowie den nicht-westlichen, aber mit dem europäischen zusammenhängenden Kolonialismus Ägyptens, Japans und sogar Chinas mit ein.

Reinhards Darstellung weist einen zweiteiligen Aufbau auf, denn immer wieder wird der berichtend-erzählende, chronologisch fortlaufende Teil von ideologiekritischen Reflexionen des Verfassers unterbrochen, in denen gängige kolonialgeschichtliche Erklärungsmodelle auf ihren Wahrheitsgehalt hin abgeklopft und lieb gewordene Mythen - darunter einige Topoi antikolonialistischen Diskurses - korrigiert werden. Hierzu einige Beispiele:

- Wie Reinhard im einleitenden Kapitel (S. 1-7) betont, war die europäische Kolonisation meist kein von langer Hand geplantes Unternehmen, sondern lief nach dem "Prinzip der nicht-intendierten Nebenwirkungen ab", was dem individuellen Handeln der men on the spot und ihren persönlichen Antrieben für Kolonisation und Kolonialismus eine große Bedeutung einräumte.

- Anläßlich der Darstellung der Indianerpolitik in Spanisch-Amerika (S. 70ff.) widerlegt Reinhard den im 16. Jahrhundert von den europäischen Rivalen Spaniens und in den letzten Jahren von Indianerromantikern erhobenen Vorwurf, die Spanier hätten unter der Urbevölkerung Amerikas einen Genozid veranstaltet, indem er auf die spanische Kolonialdebatte und die indianerfreundliche Gesetzgebung der spanischen Krone verweist und als eigentliche Ursache für das Massensterben der Indianer die von den Spaniern eingeschleppten Infektionskrankheiten nennt.

- Wie Reinhard gelegentlich der Darstellung des Handels mit afrikanischen Sklaven (S. 88-96) betont, wurde dieser nicht nur von der europäischen Nachfrage bestimmt, sondern auch von afrikanischen Anbietern.

- Wiederholt (z.B. auf S. 78, 94f., 122, 187 und 340f.) warnt Reinhard davor, die Bedeutung der abhängigen Gebiete in Übersee für den europäischen Aufschwung im Gefolge der Industriellen Revolution seit dem 18. Jahrhundert zu überschätzen.

- Mehrmals (z.B. auf S. 223, 327f. und 343f.) zeigt der Verfasser die Grenzen der Dependenztheorien auf, welche die Unterentwicklung der Länder der sogenannten "Peripherie" und deren Abhängigkeit von den Zentren der Weltwirtschaft auf die europäische Kolonialherrschaft zurückführen.

Daß Reinhard sich wiederholt an antikolonialistischen Klischees und Vorurteilen reibt, ist kein Zufall. Dem Verfasser geht es in seinem Buch darum, sich dem historischen Phänomen Kolonialismus möglichst wertfrei anzunähern. Denn gequälte Anstrengungen einer politisch korrekten Ausdeutung und Wertung des historischen Geschehens widersprächen dem alten Ideal des sine ira et studio. So gelangt Reinhard zu dem Schluß, sich mit der europäischen Expansion aus eurozentrischer Perspektive zu beschäftigen, erscheine ihm geboten, "weil die Sache selbst" - die europäische Durchdringung der nicht-europäischen Welt - "eurozentrisch ist" (S. 340). Doch gilt dieser Schluß nur für die Europäisierung der Welt als ein historisches - und damit unweigerlich der Vergangenheit angehörendes - Phänomen, nicht aber für die nachkoloniale Gegenwart und Zukunft, weil ja die nicht-europäischen Völker im Begriff sind, das längst angeeignete europäische Erbe weiterzuentwickeln: "Die Rede von der ,Europäisierung der Erde´ als Inbegriff der Hinterlassenschaft des Kolonialismus ist zwar richtig, aber nur noch im historischen Sinne. Man kann von der ,Europäisierung der Erde´ nur noch sprechen wie von der ,Romanisierung´ Frankreichs, womit ja auch nicht unterstellt wird, daß es heute in Frankreich noch etwas ,Römisches´ gäbe außer Ruinen. Und wenn heute die englische Sprache immer mehr zum Weltkommunikationsmedium wird, dann stehen dabei längst ein amerikanisches oder australisches, ein indisches oder nigerianisches Englisch gleichberechtigt neben ,The Queen´s English´. Die Herrschaft des Englischen hat nur noch historisch mit der einstigen Herrschaft Englands zu tun; im Gegenteil, die Dekolonisation hat dazu geführt, daß die Englänger ihrer Sprache enteignet wurden." (S.345)

Dem ideologiekritischen Ansatz entspricht die sprachliche Vorsicht, der sich der Verfasser bei der Präsentierung angeblich gesicherter historischer "Fakten" befleißigt. Daß diese sprachliche Zurückhaltung ihn oftmals den Konjunktiv anstelle des Indikativs verwenden läßt, zeigt eine Kostprobe aus dem Kapitel über den Sklavenhandel: "Außerdem hat es den Anschein, als hätten sich die Afrikaner in ihren häufigen Hungerkrisen mittels Sklavenverkauf überschüssiger Esser entledigt. Die Zwangsmigration des Sklavenhandels hätte Afrika dann in ähnlicher Weise von Bevölkerungsdruck entlastet wie die ,freiwillige´ Auswanderung des 18. und 19. Jahrhunderts Europa. (...) Nach einem Modell von Patrick Manning stagnierte die Menschenzahl Afrikas 1700-1850, während sie in anderen Kontinenten rasch anstieg, so daß Afrikas Anteil an der Bevölkerung des atlantischen Raums 1650-1850 von 30% auf 10% gesunken wäre." (S. 92; Unterstreichung G.V.)

Reinhards Buch besticht also nicht nur wegen seiner - angesichts der Fülle an Fakten bewundernswerten - sprachlichen und gedanklichen Klarheit. Was dieses Buch zu einem bemerkenswerten Exempel zeitgenössischer Geschichtsschreibung macht, ist vor allem die Tatsache, daß es Reinhards problembewußter Darstellung der verschiedensten Einzelaspekte des europäischen Kolonialismus gelingt, bekannte - aber leider oftmals ideologisch verbrämte und immer noch viel zu selten kritisch hinterfragte - Sachverhalte neu zu betrachten und so zu formulieren, daß weiteres Nachdenken angeregt wird.

Gunther Verheyen


Frauen in der 48er Revolution

Carola Lipp (Hrsg.):
Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen
Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49.
Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden 1998.
432 Seiten. DM 78,00

Die erste Auflage dieses Buches, die 1986 herauskam, befaßte sich erstmals mit der Rolle der Frauen in der Revolution von 1848/49. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Historiker stets der Ansicht gewesen, Frauen hätten in der Revolution überhaupt keine Rolle gespielt. Daß das Buch trotz des Umfangs und des relativ hohen Preises rasch vergriffen war und nun neu aufgelegt wurde, spricht für das inzwischen gewachsene Interesse an den Forschungen zur Geschichte der Frauen. Rund um das 150. Jubiläum der Revolution von 1848/49 sind nun auch einige andere Werke zur Rolle der Frau im 19. Jahrhundert allgemein und im Revolutionsgeschehen speziell erschienen.

Im Wintersemester 1983/84 war aus einem Frauenforschungseminar am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut eine Projektgruppe entstanden, die ganz bewußt die Protagonistinnen der damaligen Frauenbewegung ausklammerten. Die Kulturwissenschaftlerinnen interessierte vielmehr das politische Verhalten und die Einstellung von "Durchschnittsfrauen" und der Zusammenhang von Politik und Alltag. Sie wollten wissen, "wie Alltagserfahrungen und Lebenssituation von Frauen politisches Handeln strukturierten und wie umgekehrt Politik in den Alltag eingriff". Dies war nach Ansicht der Wissenschaftlerinnen nur durch detaillierte Mikrostudien zu realisieren. Geographisch beschränkten sie sich auf den württembergischen Raum.

Ein erstes Ergebnis der Recherchen war, daß im Rahmen der demokratischen Forderungen Fraueninteressen nicht auf der Tagesordnung standen. Da Frauen dennoch in vielfältiger Weise ins Revolutionsgeschehen eingebunden und politisch tätig waren, untersuchten die Forscherinnen vor allem, welchen Leitbildern und Strukturen weibliche Politik 1848 folgte. Ein radikaler Perspektivwechsel und eine andere Auffassung von Politik war notwendig, um die Perspektive und die Erfahrung der Frauen zu rekonstruieren. Auch wenn manche Frauenaktivitäten aus heutiger Sicht zunächst peripher zu sein schienen, war die Projektgruppe bewußt bemüht, diese Tätigkeiten im Lebenszusammenhang der Frauen zu bewerten.

Die Partizipationsmöglichkeiten der Frauen erweiterten sich vor allem durch die Veränderung der Gesellschaft. So erhielten Frauen erstmals Zutritt zu einer zuvor männlich definierten Öffentlichkeit: Sie konnten (wenn auch nur) als Zuhörerinnen an Parlamentssitzungen - allerdings nicht in Württemberg - und Gerichtsverhandlungen teilnehmen, Vereins- und Volksversammlungen besuchen und gründeten eigenständige Frauenvereine, die in Zeiten schwerer politischer Auseinandersetzungen ein wichtiges soziales Netzwerk waren. Darüber hinaus prägten die Frauen häufig das äußere und innere Erscheinungsbild der revolutionären Bewegung (z.B. als "deutsche Jungfrauen", die "deutschen Kriegern" die "Ehrenbanner" überreichten) und sie waren auch Sinn- und Leitbilder politischer Ideen und Bewegungen (z.B. als "Germania" und andere Allegorien). Da auch das Ziel, Mädchen zur Bürgerin zu erziehen, eine wichtige Rolle spielte, wurde in die Untersuchung der Vorgeschichte der Revolution vor allem die damalige Mädchenbildung und die Partizipation der Frauen am Vereinswesen mit einbezogen.

Untersucht wurden auch Unterschiede im Verhalten von Bürgerinnen und Unterschichtsfrauen. Während die erstgenannten eher bei den Feiern der Revolution zu finden waren, traten letztere bei "Katzenmusiken" gegen unliebsame Vertreter der Obrigkeit auf. Der Ärger über das Versagen der städtischen Fürsorge löste in Württemberg bereits im Mai 1847 Brotkrawalle aus, die im wesentlichen von Frauen getragen wurden. Das politische Handeln spielte sich also dort ab, wo die Frauen lebten. Der selbstgestellte Auftrag der Autoren, auch die Unterschichtsfrauen einzubeziehen, kommt bereits im Titel zum Ausdruck: Nicht nur "patriotische Jungfrauen", sondern auch "schimpfende Weiber" sollten Inhalt der Untersuchung sein.

Allerdings war die Quellenlage hinsichtlich der Unterschichtsfrauen noch schlechter als bei den bürgerlichen Frauen. Durch Heranziehen von Zeitungen, Gerichts-, Ministerial- und Gemeinderatsprotokollen sowie von Pfarrberichten und Vereinsakten wurden Lebensläufe rekonstruiert. Nicht politische Entscheidungsprozesse und revolutionäre Ereignisse standen im Mittelpunkt der Untersuchungen, sondern sozial- und alltagsgeschichtliche Strukturen politischer Partizipation.

Die 13 Frauen des Forschungsteams haben insgesamt 19 Aufsätze verfaßt - wie das Vorwort berichtet abwechseln in Team- und Einzelarbeit und "nicht immer konfliktfrei". Der Qualität des Buches hat dies sicher gut getan. Alle Frauen kommen aus der Empirischen Kulturwissenschaft, sie haben aber alle noch mindestens ein anderes Fach studiert. Die als Herausgeberin agierende Carola Lipp hat insgesamt fünf Aufsätze verfaßt. Einige der Frauen haben sich mittlerweile durch eigene weitere Forschungen einen Namen gemacht.

Der erste Teil des Buches befaßt sich mit "Kultur und Lebensweise von Unterschichtsfrauen im Vormärz und zur Zeit der Revolution". Im einzelnen geht es dabei Carola Lipp um "Frauen auf der Straße. Strukturen weiblicher Öffentlichkeitsarbeit im Unterschichtsmilieu" und um "Fleißige Weibsleut und liederliche Dirnen. Arbeits- und Lebensperspektiven von Unterschichtfrauen." Neben der "unbotmäßigen Dienstbotin" (Margit Stephan) sind in zwei Aufsätzen die Brotkrawalle von 1847 abgehandelt: "Da war die Weibsperson nun eine der Ärgsten mit Schreien und Lärmen" von Sabine Kienitz über die Ereignisse in Stuttgart und "Dort sah ich, daß nicht Mehl verschenkt, sondern rebellt wird" von Beate Binder über jene in Ulm.

Im zweiten Teil mit dem Titel "Frauenaktionen und Klassenkonflikte 1848/49" untersucht zunächst Carola Lipp "Katzenmusiken, Krawalle und Weiberrevolution. Frauen im politischen Protest der Revolutionsjahre." Speziell mit der Revolution auf dem Dorf im September befaßt sich Beate Bechtold-Comfortys Aufsatz "É doch was die Männer unterließen, das sollte jetzt durch Weiber geschehen". Daß Politik auch im Privatleben durchgesetzt werden kann, beweist der passive Widerstand der Heilbronnerinnen, über den Gertrud Schubert schreibt: "Verführung zum Treubruch". War 1847 das nicht vorhandene Brot die Ursache von Krawallen, kam es 1849 in Stuttgart zu einem Milchboykott, den Beate Binder unter dem Titel "Die Farbe der Milch hat sich É ins Himmelblaue verstiegen" abhandelt.

"Bürgerliches Frauenleben und Frauensozialisation" werden im dritten Teil des Buches behandelt. Dabei geht es zum einen um das Frauenbild der württembergischen Presse, das Elisabeth Sterr unter dem Titel "Hat nicht Gott É euch eure Stellung zum Manne angewiesen?" darlegt. Schulbildung und Mädchenerziehung in Württemberg sind Inhalt des Aufsatzes von Steffi Cornelius, die diesen mit dem Motto "É ihr werdet nicht nur Hausfrauen, sondern auch edle Bürgerinnen erziehen" versieht.

Daß Frauenvereine eine Angelegenheit der bürgerlichen Politik waren, weist das vierte Kapitel nach. "Täterinnen der Liebe", überschreibt Sabine Rumpel-Nienstedt ihren Aufsatz über die Frauen in Wohltätigkeitsvereinen. Die Hoffnung auf "Die Erlösung des weiblichen Geschlechts" veranlaßte Frauen dazu, in deutschkatholischen Gemeinden mitzuwirken (Alexandra Lotz). Den Aspekt der Frauen in politischen Frauenvereinen und ihre Aktivitäten 1848 bis 1850 bearbeitet Eva Kuby. Im vierten Aufsatz dieses Kapitels schreibt Carola Lipp über Frauen und Öffentlichkeit, nun über "Möglichkeiten und Grenzen politischer Partizipation im Vormärz und in der Revolution 1848."

Um Themen, die normalerweise nicht von Historikern - und auch nicht von Historikerinnen - bearbeitet werden, geht es im letzten Teil des Buches. "Echt deutsche Weiblichkeit" nennt Sabine Kienitz ihre Untersuchungen über Mode und Konsum als bürgerliche Frauenpolitik. Daß Fahnensticken eine politische Funktion haben kann, weist Tamara Citovics nach, was die Frauen als "Bräute der Revolution und ihre Helden" erscheinen läßt. Mit den drei Begriffen "Liebe, Krieg, Revolution" faßt Carola Lipp, Geschlechterbeziehung und Nationalismus zusammen. Abschließend untersucht Andrea Pollig die allegorischen Frauendarstellungen in der politischen Karikatur des "Eulenspiegel" 1848-1850: "Germania ist es, - bleich und kalt".

Insgesamt machen die größtenteils mit Zitaten bestückten Titel der Aufsätze neugierig, sie sind auch gut zu lesen. Der Anhang mit knapp 30 Seiten beinhaltet zum Nachschlagen eine Zeittafel der allgemeinen Geschichte von 1805 bis 1866. Daneben gibt ein umfangreiches Literaturverzeichnis Gelegenheit, ggf. einzelne Spezialthemen weiterzuverfolgen.

Angelika Hauser-Hauswirth


Die Mergentheimer Juden

Hermann Fechenbach
Die letzten Mergentheimer Juden
Verlag der Tauber Zeitung GmbH & Co.,
Bad Mergentheim 1997
216 S., DM 22,80
Bezugsquelle: Kultur- und Verkehrsamt der Stadt Bad Mergentheim

Anläßlich des 100. Geburtstags von Hermann Fechenbach hat die Stadt Bad Mergentheim einen Nachdruck seines Buches "Die letzten Mergentheimer Juden" veranlaßt.

In seinem Buch zeigt Fechenbach zunächst die bewegte Geschichte der Mergentheimer Juden im Laufe der Jahrhunderte auf. Sie war gekennzeichnet von Verfolgung und Benachteiligung. Weiter berichtet Fechenbach über die Anfänge seiner eigenen Familie in Bad Mergentheim in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Er gibt auch einen interessanten Einblick, wie jüdische Feste in seiner Familie gefeiert wurden, z.B. das Pessach-Fest zur Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten oder Rosch Haschanah, das jüdische Neujahrsfest.

Fechenbach selbst wurde 1897 geboren, im Ersten Weltkrieg schwer verwundet und in der NS-Zeit als Künstler und Jude aus der Reichskammer der bildenden Künste ausgeschlossen. Während seine Eltern und drei seiner Brüder emigrierten, wurde seine Zwillingsschwester 1942 im KZ vergast. Er selbst fand schließlich eine neue Heimat in England, nachdem ihm die Auswanderung nach Palästina verwehrt worden war.

Das Buch enthält eine Liste der Mitglieder der israelitischen Gemeinde in Bad Mergentheim von 1933-1942. Hinter den Namen steht jeweils das Schicksal der einzelnen Personen; einige emigrierten, viele wurden aber auch deportiert oder umgebracht. Am Schluß des Bandes finden sich Erlebnisberichte aus der NS-Zeit von emigrierten Mergentheimer Juden. Das Buch wird illustriert von eindrucksvollen Holzschnitten des Autors. Es gibt einen wertvollen Einblick in die Geschichte der Juden in Bad Mergentheim, vor allem auch während der NS-Zeit, und Fechenbach macht dies an authentischen Schicksalen lebendig.

Heike Schmid


Frauen in der Politik

Birgit Mayer
Frauen im Männerbund
Politikerinnen in Führungspositionen von der Nachkriegszeit bis heute
Campus Verlag Frankfurt/M.,
393 Seiten, DM 68,-

Frauen in verantwortungsvollen politischen Positionen sind noch immer eine Ausnahme. Auch heute werden politische Führungspositionen vorwiegend mit Männern besetzt. Das Ergebnis der aktuellen Koalitionsverhandlungen bei der Besetzung der Ministerämter macht die Situation abermals deutlich: lediglich fünf von 15 Ministerämtern wurden mit Frauen besetzt. Auch bei den Spitzenfunktionen, die von der SPD neu zu besetzen waren, wurde keine Frau berücksichtigt. Die Thematik des Mangels von Frauen in verantwortungsvollen Positionen ist nicht neu, an ihrer Aktualität hat sich jedoch nichts geändert.

Der "Spezies" Politikerinnen nähert sich Birgit Mayer in ihrem Buch über eine ganze Zeitspanne. Ihr Augenmerk liegt auf Frauen aus Baden-Württemberg, die zwischen 1949 und 1991 im Bundestag waren. Birgit Mayer ist dabei dem Selbstverständnis der Frauen auf der Spur: Haben Frauen ein anderes Verhältnis zur Politik als ihre männlichen Kollegen?

Um mehr über das Verständnis und die Arbeit der Frauen zu erfahren, ging Birgit Mayer auf zumindest zweifache Weise vor. Zum einen analysierte sie die inhaltliche Arbeit der Frauen im Bundestag: Sie beschäftigte sich mit den Themen, die von Frauen aufgegriffen werden und zu denen Sie sich im Bundestag zu Wort melden. Zum anderen, und das umfaßt den Hauptteil des Buches, suchte Mayer den direkten Kontakt zu den Frauen selbst, indem sie ausführliche Interviews führte.

In jeweils einzelnen Kapiteln werden acht Frauen aus verschiedenen Generationen und verschiedenen Parteien zu ihrer Herkunft, ihrer politischen Sozialisation, ihrer Partei-Sozialisation, ihrer Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag, ihrer Frauenspezifik und ihrer persönlichen Situation befragt. Sehr detailliert und ausführlich, vielleicht etwas zu ausführlich, stellt Birgit Mayer die einzelnen Frauen, deren Biographien und politische Arbeit dar, auf der Suche nach einem frauenspezifischen Politikverständnis.

Neben dem eigentlichen Interview gewährt Birgit Mayer den Leserinnen und Lesern Einblick in ihre persönlichen Eindrücke während der Interviews. Die sogenannte "Nachlese" von Birgit Mayer eröffnet den Blick hinter die Kulisse, auf die Begleitumstände der Interviewsituation. Mayer wählte damit ein sehr geeignetes Instrument, um die Politikerin als Person transparenter zu machen, auch wenn es sich dabei um sehr subjektive Eindrücke der Autorin handelt.

Warum haben sich die Frauen in eine politische Führungsposition begeben? Die Antworten sind vielfältig: "... in den Bundestag wurde ich geholt, ich wollte nicht ...", "man muß selber was tun in der Demokratie, gerade für Frauen ist das wichtig!", "Politik ist eine Sucht wie das Rauchen" oder "Ja, ich möchte Minister werden".

Eine unterschiedliche Motivation wird für Mayer bei Frauen aus verschiedenen Generationen deutlich. Sie spiegeln jeweils das Frauenbild der Generation wider. Politikerinnen der Nachkriegszeit nehmen sich selbst als "unpolitisch" wahr. Ihr Handeln war geprägt durch die Überzeugung, daß die Notwendigkeit besteht, in einer schweren Zeit zu helfen und ein stark ausgeprägtes Verantwortungsgefühl. Die politische Karriere hat sich dann eher zufällig ergeben. Politikerinnen der jüngeren Generation sind in Ihren Ambitionen auf eine politische Karriere nicht mehr so bescheiden. Sie äußern Ehrgeiz, Ansprüche auf eine politische Führungsposition und den Willen etwas zu bewegen.

Wo stehen Politikerinnen heute?

Wurde die politische Kultur durch das verstärkte Mitwirken von Frauen verändert, oder sind die Frauen durch das männlich geprägte System vereinnahmt und gezähmt worden?

Birgit Mayer stellt diese verschiedenen Positionen dar, scheut aber selbst eine klare Aussage: Sie hat keine anderen Politik- und Führungsstil gefunden. Allerdings sagt Mayer auch: "Andererseits ist zu sagen, daß wir ein anderes Politikverständnis von Frauen nicht nicht gefunden haben."

Sie kommt zu dem Schluß, es sei notwendig, das von ihr gesuchte andere Politikverständnis von Frauen nach Kriterien wie Kommunikationsstil, thematische Schwerpunkte oder die Bezogenheit auf Personen außerhalb der Politik weiter aufzuschlüsseln und diese Kriterien langfristig weiter zu beobachten. Nur dadurch sei eine Abklärung möglich, ob Frauen ein eigenes Politikverständnis haben.

Mayer leistet eine wertvolle Bestandsaufnahme des momentanen Verständnisses von Frauen im Bundestag. Die Ergebnisse, die Mayer für Baden-Württemberg formuliert, lassen sich sicher auf die Situation in ganz Deutschland übertragen. Eine klarere Position der Autorin selbst und ihre Bewertung der Situation von Frauen in politischen Führungspositionen wäre wünschenswert gewesen.

Eines ist auf alle Fälle deutlich geworden: um das Verständnis von Frauen in der Politik transparenter zu machen, gibt es noch viel zu tun, für die Forscherinnen und Forscher, aber auch für die Politikerinnen selbst!

Anja Scholz


Von Sibirien nach Tschetschenien: Eine Lebensreise

Sergej Kowaljow
Der Flug des weißen Raben
Rowohlt Berlin GmbH, Berlin 1997

Sibirien und Tschetschenien sind Schauplätze des Leidens und Handelns Kovalevs und zugleich Symbole der sowjetischen und russischen Politik. Sie sind Stationen, die das "zweite und dritte Leben" des Menschenrechtlers kennzeichnen: das Leben des Dissidenten und das des Politikers im Präsidium des Obersten Sowjets Rußlands, später dann in der Duma und im Präsidentenapparat als Bevollmächtigter für Menschenrechte. Eingedenk eines russischen Sprichwortes fühlt Kovalev sich in der Politik als weißer Rabe unter schwarzen, hält aber um der Sache willen ein paar Jahre durch.

Das "erste Leben", von dem der Verfasser spricht, ist das eines Naturwissenschaftlers. Wie andere bedeutende russische Menschenrechter, vor allem Sacharow und Orlow, vollzog auch er den Schritt vom Wissenschaftler zum Dissidenten. Schon früh allerdings, bereits in der Schule, war sein Gerechtigkeitssinn und seine Aufmerksamkeit für die bedrückenden politischen Verhältnisse, in denen er aufwuchs, geweckt worden. Gerade deshalb entschloß sich der vielseitig Begabte für die Laufbahn des Naturwissenschaftlers, in der er sich geringere politische Zwänge erhoffte. Doch die Ansprüche des totalitären Staates durchdrangen auch diese Disziplinen und stellten sich dem jungen Biologen in den Weg. Die von der Partei organisierten Kampagnen gegen westliche und "kosmopolitische" Einflüsse, das absurde Theater um die - als Triumph der sowjetischen Wissenschaft über die westliche - ausgegebenen aberwitzigen Theorien des "Genetikers" Lyssenko verfehlten ihre Wirkung auf den jungen Wissenschaftler nicht. Scharfblickender als mancher andere Dissident wurde er schon in dieser Zeit zum entschiedenen Gegner nicht nur Stalins, sondern auch des Leninismus.

Die klar gegliederten Abschnitte im Lebensbericht Kovalevs, seine Schritte vom Wissenschaftler zum Dissidenten, vom verfolgten Menschenrechtler zum Mitstreiter der Perestrojka und schließlich der Streit mit der russischen Staatsführung und vorherrschenden politischen Strömungen des Landes Tschetschenien bilden insgesamt ein faszinierendes zeitgeschichtliches Dokument. In jedem der vier Teile setzt sich der Autor mit dem Grundübel unseres Jahrhunderts auseinander: dem Totalitarismus, seinen Vollstreckern und Mitläufern. Kompromißlose Ablehnung des Unterdrückersystems wird ohne moralisch belehrenden Tonfall vorgetragen. Vielmehr erläutert Kovalev zu jeder Epoche seines Lebens, wie er schmerzhaft um die persönlichen Entscheidungen rang, die ihm dann unabweisbar erschienen. Bescheidenheit und Menschlichkeit, die auch die Brücke offen läßt zu denen, die sich anders verhielten als er selbst, kennzeichnen seinen Bericht. Auch die eigene Haltung und die der übrigen Dissidenten unterzieht er einer ständigen kritischen †berprüfung.

Das beherrschende Thema im Leben S. Kovalev sind die Menschenrechte und der Kampf für eine nicht nur formale, sondern lebendige Demokratie, die den Schutz der Menschenrechte gewährleistet. In verschiedenen Funktionen tritt Kovalev nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für diese Ziele ein: Als Mitvorsitzender der sowjetischen Delegation auf der Moskauer Konferenz der KSZE-Staaten über Menschenrechte nach dem August 1991, als Präsidiumsmitglied des Obersten Sowjets bis zum September 1993 und als Vorsitzender der Menschenrechtskommission beim Präsidenten der Rußländischen Föderation bis zum Januar 1996, ferner auch außerhalb Rußlands als Mitglied der parlamentarischen Versammlung des Europarates. An vielen Stellen seines Buches bringt Kovalev die Schwierigkeiten der angestrebten Demokratie in seinem Heimatland - die bis heute andauern und eine Dauerkrise der russischen Politik und Gesellschaft beschreiben - auf den Punkt: Das kleine Häufchen echter Demokraten, dem es um die Sache geht, steht im Parlament gegen eine große Mehrheit verschiedener Gruppierungen, die die Demokratie nur als formales Spiel um die Macht begreifen und handhaben. Persönliche Bindungen und Verbindungen, Cliquen im Windschatten eines starken Mannes, sind in diesem Spiel viel schlagkräftiger als z. B. Parteiprogramme. Die unheilvolle Allianz zwischen Chauvinisten und Kommunisten, die auch die heutige Staatsduma dominiert und von Strömungen in der Bevölkerung durchaus unterstützt wird, schafft ein machtvolles Hindernis auf dem Weg zu Reformen und einer Festigung der jungen russischen Demokratie. Mit seinen Einschätzungen und seinen eigenen Erlebnissen in der russischen Parteipolitik ist Kovalev eine wichtige historische Quelle.

So wird auch jeder, der Klarheit sucht über die jetzige Rolle des russischen Präsidenten, an diesem Erfahrungsbericht nicht so leicht vorbeikommen. Kovalev würdigt die großen Verdienste Jelzins im Kampf gegen Reaktion und Neostalinismus in der Endzeit der Sowjetunion und den Jahren danach. Er bescheinigt ihm aber mangelndes Verständnis für die Grundlagen der Demokratie. So sind die Menschenrechte für Jelzin etwas "außerpolitisches". Jelzins Rückwendung zu autoritären Prinzipien und imperialen Grundlinien der russischen Politik nach 1993 sieht Kovalev bestimmt vom Kampf um die Macht: Der Präsident ging mit den stärkeren Bataillonen, arrangierte sich mit vorherrschenden politischen Auffassungen in der russischen Bevölkerung, die noch reichlich demokratiefern, autoritär und nationalistisch sind.

Die Vorgänge um den "Oktoberputsch" 1993 schildert der Autor aus hautnahem eigenen Erleben heraus, war er doch bis zum Dekret Jelzins zur Auflösung des Parlaments in dessen Reihen. Kovalevs neutrale Haltung bei den Auseinandersetzungen brachte ihn bei demokratischen Freunden in Mißkredit. Er mißbilligt die Politik der harten Hand und das militärische Durchgreifen Jelzins im Oktober 1993, wenngleich er eine Notlage des Präsidenten und der Reformkräfte anerkennt. Ein tiefer Graben trennt ihn von den Nationalisten und Kommunisten um Chazbulatov und Ruschkoj, die die Idee der "Geschlossenheit" des russischen Volkstums über die "formale Demokratie" stellten, auf deren Regeln sie sich gleichwohl im Kampf um die Macht beriefen.

Mit vollem Einsatz widmet Kovalev sich dem Versuch, den Tschetschenienkonflikt, soweit es in seiner Macht steht, beizulegen. Seine Mittel sind Berichterstattung, Protest gegen die russischen Hintermänner dieses Krieges und der Appell an die Weltmeinung. Er begibt sich mitten in den Brennpunkt der Ereignisse und setzt sein Leben mehr als einmal aufs Spiel. Unbestechlich wie auch sonst legt Kovalev sein eigenes Urteil über den Krieg im Kaukasus dar. Ganz entschieden verurteilt er Terrorakte der tschetschenischen Kämpfer, aber die fast alleinige Verantwortung für diesen Krieg schreibt er der russischen Regierung zu. Tschetschenien kennzeichnet er als einen "Wendepunkt in der russischen Geschichte der letzten Jahre", das Blutvergießen als eine "entschiedene Abwendung der neuen Herrschaftselite von den demokratischen Werten". In dieser Sicht hat der verfassungswidrig durchgeführte Krieg gegen ein kleines kaukasisches Bergvolk eine herausragende Bedeutung und betrifft ganz Rußland und damit auch die internationale Politik viel stärker, als seine Begrenztheit es nahelegt.

Tschetschenien und die Festigung der Jelzin-Autokratie war ein harter Schlag für die Demokraten in Rußland, vielleicht sogar ein Menetekel für die weitere Entwicklung, aber der Richtungskampf in Rußland ist zum Glück noch nicht entschieden. Kovalev selbst weist auf Grundlagen der rußländischen Demokratie hin, die die Bewährungsprobe bestanden haben: Presse- und Informationsfreiheit, ein konkurrierendes Parteiensystem und Wahlen, die als frei bezeichnet werden können. Entscheidend ist für den unbequemen Mahner die Frage, ob es gelingt, eine Rechtsordnung in Rußland zu verwirklichen, die - auf der Aufklärung fußend - die Menschenrechte schützt. Ausführlich widmet er sich der Frage, weshalb die Auseinandersetzung mit der totalitären Vergangenheit in Rußland auf halben Wege stecken geblieben ist. Unheilvoll und gänzlich unvereinbar mit den Idealen einer humanen Werte- und Rechtsordnung ist für Kovalev die Renaissance der kommunistischen Partei Rußlands, die - anders als sonst in Osteuropa - noch nicht einmal als "postkommunistisch" oder als linkssozialistisch-demokratische Nachfolgepartei der alten Partei ins Leben trat, sondern die alten Traditionen unmittelbar fortsetzt, dabei besonders den "Sowietpatriotismus" russisch-nationalistischer und sogar chauvinistischer Prägung hochhält. In diesem Zusammenhang beklagt Kovalev das Ausbleiben einer radikalen Verurteilung der kommunistischen Verbrechen, er scheut dabei den Vergleich mit der Nazipartei nicht.

Dennoch sieht der Autor die Vollendung der begonnenen demokratischen Reformen und den Eintritt Rußlands in die zivilisierte Menschheitsgesellschaft noch als offene Möglichkeit an.

"Von Sibirien nach Tschetschenien": mit diesem Titel umgreift der Verfasser nicht nur seinen Lebensweg in drei Etappen, er nimmt diese ominösen Begriffe als Symbole für tragische Fehlentwicklungen seit 1917. Doch im Blick hat Kovalev nicht nur die sowietische und russische Geschichte unseres Jahrhunderts, sondern den gesamten geschichtlichen Horizont Rußlands als einen tausend Jahre langen Irrweg. Den Hauptgrund für Rußlands zivilisatorische Rückständigkeit gegenüber dem Westen sieht er in der Verherrlichung des Staates und seiner Bürokratie, dem traditionellen russischen Etatismus. Doch weist er auch auf andere russische Traditionen hin, die dem diametral widersprechen: radikale Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit ist ein kennzeichnendes Merkmal der russischen Geistesgeschichte der Neuzeit. Kovalev ist ein würdiger Vertreter seines Volkes.

Ernst Lüdemann


Die mittelasiatischen Nachfolgestaaten der SU

Colin Thubron
The Lost Heart of Asia
London 1995. Penguin Books. 374 Seiten, Taschenbuch. ISBN: 0-14-024619-3,
6,99 brit. Pfund.

Der Niedergang der Sowjetunion und die Entstehung eigenständiger Staaten aus der Konkursmasse der einstigen Weltmacht rückte eine Reihe von Regionen in unser Bewußtsein, die über Jahrzehnte durch die politischen Realitäten weitgehend unbeachtet geblieben waren. So auch das Herz Asiens, das Gebiet der mittelasisatischen Republiken Usbekistan, Turkmenistan, Tadjikistan, Kirgisistan und Kasachstan. Wohin, so fragt sich der Autor, geht die künftige Entwicklung dieser am südlichen Rand der ehemaligen Sowjetunion gelegenen asiatischen Binnenstaaten? Welche Ideen werden sich als Leitlinien bei der Suche nach einer neuen Identität behaupten? Die nationale, eventuell auch nationalistische Idee, die islamische - wobei die Entscheidung zwischen einer tendenziell säkularen und einer tendenziell fundamentalistischen Ausrichtung abzuwarten ist - oder weiterhin die kommunistische Idee? Der Engländer Colin Thubron hat sich diesen Fragen nicht in Form eines politikwissenschaftlichen Werkes genähert, sondern einen auf sehr feinen und detaillierten Beobachtungen basierenden Reisebericht über seine mehrmonatige Odyssee durch die fünf genannten Republiken des Jahres 1991 verfaßt. Thubron erzählt von Menschen, denen er begegnet ist und deren individuelle Schicksale, Nöte und Probleme stellvertretend für die Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit der gesamten Region stehen. Immer wieder begegnet er dem Problem der Identitätslosigkeit all jener, deren familiäre Verhältnisse die ethnischen und nationalen Grenzen überschreiten. Solange die Sowjetunion existierte, lebten die Nachfahren russisch-kasachischer, uigurisch-karakalpakischer oder tadjikisch-turkmenischer Mischehen als "Sowjetmenschen" in einer Gesellschaft, die nach offiziellen, ja sogar nach verfassungstragenden Verlautbarungen die ethnischen Trennlinien überwunden und eben den Sowjetmenschen als neuen Typ geschaffen hatte. Doch die über Mittelasien nach dem Zerfall des Sowjetreiches hereinbrechende Realität strafte diese Behauptung ebenso Lügen wie die analogen Entwicklungen an den westlichen Rändern der ehemaligen Weltmacht. Thubrons Reisebericht erschöpft sich aber nicht in dieser Situationsbeschreibung, er vermittelt darüber hinaus tiefe Einblicke in die Geschichte, schildert kenntnisreich historische Ereignisse, Entwicklungen und Blütezeiten der Region, die untrennbar mit den Städten Samarkand, Buchara und Taschkent verknüpft sind, klärt auf über Prozeß und Wesen des russischen Imperialismus und weist vor allem immer wieder darauf hin, daß die Völker Mittelasiens in der Vergangenheit zwar eine ethnische, eine religions- und familiengebundene, nicht aber eine nationale Identität entwickelten, was ihnen die heute erforderliche Neuorientierung umso mehr erschwert und zudem - gleichsam als überzogene Reaktion auf das Defizit einer historisch verwurzelten identitätsstiftenden Orientierung - die Gefahr nationalistischer Lösungen birgt. Thubron gelingt es, die komplexe, nicht nur von der nachhaltig wirksamen Identitätskrise bestimmte, sondern auch von sozialen, wirtschaftlichen und massiven ökologischen Problemen dominierte Realität Mittelasiens dem Leser in einer Form darzulegen, die ihn mitten in das Geschehen hineinführt, ihn am Alltagsleben teilhaben läßt. Thubrons meisterhaft erzählte Begegnung mit der Wirklichkeit in diesem Teil der Welt ist jedem zu empfehlen, der sich - unter welchem Aspekt auch immer - mit diesem Raum beschäftigt, und sollte unbedingt ins Deutsche übersetzt werden.

Thomas Hoffmann


Indien im Umbruch

Gerhard Schweizer
Indien. Ein Kontinent im Umbruch
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1995, 293 Seiten, DM 38,-.

Um es vorwegzunehmen: Was Gerhard Schweizer zum "unerschöpflichen Thema Indien" mit diesem Buch vorlegt, zählt sicher zu den empfehlenswertesten Beiträgen über die aktuelle politische und gesellschaftliche Realität auf dem Subkontinent in den letzten Jahren. Kenntnisreich und souverän im Umgang mit den Fakten, klar in der Analyse, unterhaltsam und flüssig in der Darstellung und sicher im Urteil legt Schweizer die drei zentralen aktuellen Konfliktebenen offen, welche die indische Gesellschaft durchziehen und deren künftige Entwicklung prägen werden: der Religionskonflikt, der Kastenkonflikt und der Separationskonflikt.

Immer wieder wählt der promovierte Kulturwissenschaftler Schweizer Gesprächssituationen, persönliche Erlebnisse und Beobachtungen aus seiner langjährigen Indienerfahrung als Ansatzpunkte, um die komplizierte und konfliktträchtige gesellschaftliche Realität Indiens mit Hilfe erhellender Rückgriffe auf die historische und politische Entwicklung bzw. die religiös-philosophischen Hintergründe zu verdeutlichen. So vermittelt Schweizer in dem wohl am besten gelungenen Kapitel "Annäherung an die fremde Religion" dem Leser anschaulich und religionsphilosophisch fundiert den Gegensatz zwischen dem abendländisch-westlichen "Prinzip des entweder-oder" und dem hinduistischen "sowohl-als-auch-Prinzip", das eine prinzipielle Toleranz anderen Göttern gegenüber zur Folge hat. Trotz dieser Toleranz in Fragen der Religion sieht Schweizer aufgrund des gleichzeitigen Dogmatismus der hinduistischen Weltsicht in sozialen Fragen Indien vor einer zweifachen Zerreißprobe. Zum einen erfuhren die religiösen Konflikte zwischen indischen Moslems und neo-hinduistischen Strömungen, wie sie sich im Dezember 1992 bei der Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya entluden, durch die parteipolitische Programmatik etwa der Bharatiya Janata Party (BJP), der Indischen Volkspartei, eine nicht zu unterschätzende Etablierung. Und zum anderen sind in zunehmendem Maß Konflikte zwischen Angehörigen der Hochkasten und der Shudras, der niederkastigen Handwerker, zu konstatieren. Letztere entzünden sich vorrangig an der verfassungsrechtlich verankerten "Quotenregelung, wonach Niederkastige und Kastenlose 27% aller Arbeitsplätze in den staatlich geführten Betrieben, Restaurants und Büros zu bekommen haben", wodurch sich wiederum bedürftige Angehörige höherer Kasten massiv benachteiligt sehen. Sollten zu Reichtum gelangte "Unberührbare", wie die für die Leichenverbrennung zuständige Dom-Kaste, in Zukunft auch auf politischem Gebiet Rechte einfordern, wird diese Dimension des innerindischen Konfliktes noch verschärft werden. Zwar benennt Schweizer auch die separatistischen Tendenzen der Sikhs im Punjab, der Kashmiris im Nordwesten und verschiedener ethnischer Gruppen in Assam und anderen nordostindischen Bundesstaaten als weitere Konfliktlinien, beurteilt diese aber als zu schwach, um "Indiens einigende politische Klammer zu sprengen". Doch Schweizers Buch ist nicht nur für den primär politisch an Indien Interessierten von Gewinn, sondern gleichermaßen als hervorragende Einführung in die verschiedensten Facetten der "größten Demokratie der Welt" zu empfehlen.

Thomas Hoffmann


Chinas jüngste Geschichte im Bild

Jonathan D. Spence & Annping Chin
Das Jahrhundert Chinas
München 1996, Bertelsmann Verlag,
264 Seiten, 98,- DM

Dokumente, Akten, Reiseberichte, Tagebuchaufzeichnungen und Briefe ermöglichen es uns zwar, eine Vorstellung von vergangenen Zeiten zu entwickeln, doch keines dieser Quellenmaterialien kann eine so lebendige und authentische Vorstellung von der zur Geschichte gewordenen Vergangenheit vermitteln wie das Bild, wie die Photographie. Weltweit durchforsteten die Autoren - beide an der Yale University in den USA als Historiker (J. Spence) bzw. als Kulturwissenschaftlerin (A. Chin) tätig - Archive, Museen und private Sammlungen und stellten das gefundene, bislang weitgehend unveröffentlichte Bildmaterial zu einem Band zusammen, der in faszinierender, oftmals auch schockierender, stets aber eindrucksvoller Weise die Geschichte Chinas im vergangenen Jahrhundert widerspiegelt. Einsetzend mit dem "Ende des Kaiserreiches" wird ein Blick in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts (1849-1906) und damit in eine im Niedergang begriffene Welt des alten, von Zeremoniell, Zöpfen und Lilienfüßen geprägten China gewährt. Orientiert an ereignisgeschichtlichen Eckpunkten folgen weitere elf, jeweils einen Zeitraum von drei bis zehn Jahren umfassende Kapitel, welche die markantesten politischen sowie sozialgeschichtlichen Entwicklungen illustrieren, die das Reich der Mitte im 20. Jahrhundert durchlief: etwa "Die Herrschaft der Guomindang", "Der Krieg mit Japan", "Der große Sprung, die große Hungersnot", "Die Kulturrevolution" und "Der Druck des Neuen". Den Mühen des ländlichen und der Enge des städtischen Lebens, den Traditionen, sozialen Hierarchien sowie der Öffentlichkeit und den Grausamkeiten der chinesischen Strafmaße kann sich der Betrachter durch die Eindringlichkeit der Aufnahmen nicht entziehen. Erschauern lassen vor allem die sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehenden Aufnahmen von Exekutionen, die von den sich über mehrere Tage erstreckenden Strangulationen der Delinquenten über Enthauptungen und das Begraben bei lebendigem Leib bis hin zur Erschießung einer Schieberin in unseren Tagen reichen. Ein anderer thematischer Aspekt kreist um die sich verändernde Rolle der Frau in der chinesischen Gesellschaft. So belegen Großaufnahmen von "Lilienfüßen" um die Jahrhundertwende die Verstümmelung der Frau zum Gefallen des Mannes, während Bilder aus dem Shanghai der zwanziger Jahre sowohl die zunehmende Verwestlichung des städtischen Lebens als auch die damit einhergehende beginnende Emanzipation der Frau dokumentieren - auch wenn diese Erscheinungen nicht als Massenphänomen verstanden werden dürfen. Photographien von protestierenden Studentinnen auf dem Platz des Himmlischen Friedens, von einem ausgesetzten weiblichen Säugling sowie von einer das moderne und wohlhabende China repräsentierenden Dame aus Shanghai schlagen den Bogen zur aktuellen ambivalenten Situation der Frauen in der chinesischen Gesellschaft. Armut und Unterdrückung, Erniedrigung während der Kulturrevolution sowie technologische, kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen sind nur einige der Vielzahl weiterer Aspekte, die der Band berücksichtigt. Jonathan Spence und Annping Chin legten mit dieser profund kommentierten Zusammenstellung historischen Bildmaterials und ihres auf detaillierten Kenntnissen der chinesischen Geschichte beruhenden Textes ein Werk vor, das in der Tat ein umfassendes Bild vom "Jahrhundert Chinas" zeichnet und das Prädikat "hervorragend" verdient, wenngleich es wünschenswert gewesen wäre, wenn man Näheres als die wenigen spärlichen Informationen im Anhang über die Photographen hätte erfahren können.

Thomas Hoffmann

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